7. Mai 2010, München

 

Heute vor einer Woche war es passiert! Das Rechenzentrum der Firma Malinger Autoteile GmbH & Co. KG ist in die Luft geflogen (worden...). Heute, erst vor einer Woche! Es kam JP vor wie vor Monaten! Hauptkommissar Holzner war wieder zurück – am Kinn frisch rasiert, Schnurbart gezwirbelt und frisch angezogen und verdammt gut gelaunt! Man sah ihm an: Er war hier, um Bäume auszureißen! Aber sein fröhliches, leises Pfeifen um 6:30 Uhr morgens kam gar nicht gut an! Weder JP noch irgendeiner der Kripo-Kollegen aus der Nachtschicht konnten und wollten diese geballte gute Laune um diese Uhrzeit ertragen. Das frühe „Wachwerdenmüssen“ war schon übel genug, aber diese Fröhlichkeit um diese unchristliche Uhrzeit ging allen einfach auf den Sack – um die freundliche Variante der allgemeinen, männlichen Gefühle auszudrücken. Das einzig Gute war: Holzner hatte für die gesamte Mannschaft frische Butterbrezen mitgebracht und eine frische bayerische Butterbrezen konnte jeden Unmut und jede üble Laune vertreiben.

JP hatte gerade mal drei Stunden Schlaf abbekommen und fühlte sich wie gerädert. Damit JP nicht alles zweimal erzählen musste, hatte FATBOY ihn und Mosche weit nach Mitternacht in eine Telefonkonferenz geholt. Es war unglaublich, welche detaillierten Fragen FATBOY stellte und JP ärgerte sich bereits, das er ihn überhaupt in das Projekt „Disclosure“ mit einbezogen hatte. FATBOY schien dies zu merken, denn er sagte irgendwann: „JP, ich muss Dich diese Details fragen, denn nur durch Informationen – und ich meine alle Informationen – können wir hier vielleicht Licht ins Dunkel bringen. Du hast in deiner Vorarbeit ein paar Indizien, vielleicht auch Beweise, gefunden, ansonsten hast du hauptsächlich frei kombiniert und Dir einiges zusammengesponnen. Das werden die Anwälte vor Gericht zerreißen. Denn: nur wirkliche Beweise zählen. Und dazu muss ich wissen, wonach und wo genau ich suchen soll. Sonst vergeuden wir alle nur unsere Zeit. Ich bin Profi, ich werde nicht bezahlt, um meine Zeit unnötig zu vertun. Das ist nicht meine Art!“

Ja, ja, schon gut FATBOY.... Im Prinzip war FATBOYs Gründlichkeit völlig in Ordnung. Er musste schließlich sehr viel im Netz und diversen Systemen recherchieren, suchen und sich einhacken... Ohne klar definiertes Ziel sollte man mit der Suche am Besten gar nicht beginnen – die Welt der Nullen und Einsen ist schier unendlich. Ein Verirren und Verzetteln ist sehr, sehr leicht möglich und das wäre nicht professionell und schlichtweg nicht effizient.

Aber vielleicht nervte JP einfach diese leicht verzerrte Stimme von FATBOY. JP fand es lächerlich und extrem paranoid, dass FATBOY niemals mit seiner eigenen Stimme zu hören war und nur über Stimmwandler und -verzerrer telefonierte. Seine Anrufe routete er immer über hunderte Knoten oder Satelliten, jedenfalls quer durch die Welt. Ursprungsort: nicht auffindbar. FATBOY war natürlich auch nie telefonisch für jemanden erreichbar. Man schickte ihm eine E-Mail oder hinterließ eine Nachricht auf einer anonymen elektronischen Mailbox und er rief nach einiger Zeit zurück. JP hatte tatsächlich keinerlei Ahnung, wo FATBOY sich gerade aufhielt oder gar lebte. Er hätte genauso gut im Raum nebenan wie in China oder m Südpol sein können, während sie miteinander arbeiteten und konferierten.

Vor gut 2 Jahren hatte JP mit Tracer-Programmen versucht, FATBOY auf die Schliche zu kommen und ihn ausfindig zu machen. Aber keine Chance! So lange konnte das Telefonat gar nicht dauern, um den Ausgangspunkt des Gespräches auch nur annähernd zu lokalisieren. Natürlich war FATBOY ein Hacker der absoluten Spitzenklasse, ständig und unerlaubterweise in weiß Gott welchen Systemen, meistens jenseits der Grenzen des Legalen. Höchst wahrscheinlich war FATBOY dabei mit den Interessen von CIA, Mossad, BND oder welchen Geheimdiensten der Welt auch immer mehrmals kollidiert und wahrscheinlich gab es etliche Hacker-Spezialisten, die ihn besonders gerne, im Sinne einer Spiel-Trophäe, enttarnt hätten.

Aber FATBOY war schon seit mindestens zweieinhalb Jahren aktiv, zumindest soviel JP wusste, und dabei immer unentdeckt geblieben! Das alleine schon sprach für seine außerordentlichen Fähigkeiten und Qualitäten. Paranoid und übervorsichtig zu sein, das waren nun mal FATBOYs Spielregeln. Er war so derart gut in seiner Arbeit, dass entweder nach seinen Regeln getanzt oder eben nicht getanzt wurde.

Nun gut, es war 6:55 Uhr morgens und der Tag war sonnig und jetzt schon mild und warm. Nur um sich beschäftigt zu geben und Holzners guter Laune irgendwie zu entgehen, schaltete JP sein Notebook ein. Als erstes sah er die E-Mail von dieser kryptischen Yahoo-Absenderadresse, hinter der FATBOY gerne steckte. Neugierig öffnete JP die Mail, sie enthielt nur den Zahlencode zu einer IP-Adresse. Sofort ging JP auf diese Adresse und fand dort ein kurzes Dossier über den Lkw-Fahrer Adnan Androwitsch. Das war sehr überraschend: Diesen Name hatte JP nicht an FATBOY zur detaillierten Recherche gegeben. Das Dossier war auch anders als die bisherigen über Franz Korber und Sebastian Meyer – nicht so detailliert und nur drei Seiten lang. Es enthielt nur sehr rudimentäre Daten von Herrn Androwitsch, aber seine Fingerabdrücke, ein Foto wie aus einem Steckbrief und einen kurzen tabellarischen Lebenslauf.

Auf Seite drei stand etwas über seine einige der militärischen Einsätze in Afrika. Sein verantwortlicher Führungsoffizier in der Legion war in Blau markiert. JP ging mit seiner Maus auf den russisch klingenden Namen und fand dort einen Link zu einem Deckblatt eines weiteren Dossiers. Auf dem Deckblatt stand nur: „I matched fingerprints from the forklift .“ (Ich habe Fingerabdrücke vom Gabelstapler verglichen.) JP wollte gar nicht wissen, wie FATBOY an diese Fingerabdrücke vom Tatort, die bei der Kripo München in der durch zig Firewalls „zugangssicheren“ EDV abgelegt worden waren, gekommen war. Es war das Dossier inklusive Foto, Fingerabdrücken und einem sehr vagen Werdegang während der letzten fünf Jahre von: Victor Ivan Kurostzov, Soldat und Söldner. JP spürte es irgendwie instinktiv: Er schaute auf das Foto des Mörders seiner Kollegen, der Putzfrau und des LKW-Fahrers!

Er hatte dieses Gesicht am Tag der Explosion auf dem Weg zur Kantine flüchtig gesehen. Es fiel ihm auf, weil er sich dachte: „Der sieht aber brutal aus.“ Aber wie verkaufte er diesen höchst „illegalen Griff in die Computer-Schatztruhe“ der Kripo München (Fingerabdrücke vom Tatort) einem rechtschaffenen Staatsanwalt wie Dr. Wolfgang Ott? Die Wahrheit war hier nicht angebracht.

An einem Arbeitstag so gar nichts abzuliefern, fand JP nicht in Ordnung, in Anbetracht des Tageshonorars von Lucky Eagle und seinem persönlichem Bonus als „Berater“.

 Gut, Franz Korbers Dossier konnte heute raus. Das war schon was. Aber FAT-BOYs Entdeckung des wahrscheinlichen Mörders musste, gut getimt und anders verpackt und erst dann an die Kripo abgeliefert werden. Dr. Ott würde es nicht sehr cool finden, von JP erzählt zu bekommen, dass ein Außenstehender und vollkommen unbekannter „Freund des Betroffenen“ in die Rechner der Kripo München eingedrungen war, sich dort alle elektronisch hinterlegten Fingerabdrücke vom Tatort geschnappt, sie durch irgendeine Datenbank auf der Welt – wahrscheinlich irgendeines Geheimdienstes – genudelt und gegeneinander abgeglichen hatte, um dann in eine – auch sicherlich höchst geheime – JP nannte es nannte es in Ermangelung eines korrekten Fachausdruckes „Söldner-Datenbank“ einzudringen, um dort nach zwei Individuen zu suchen, die zusammen Dienst getan und sich somit gekannt hatten.

Daraus schlussfolgerte JP, dass einer der beiden Ex-Soldaten seinen Ex-Kumpel zuerst um eine Gefälligkeit gebeten und ihn anschließend erwürgt hatte. Und um daraufhin ein Rechenzentrum in München zu sprengen und andere Menschen umzubringen. Klang zwar alles schlüssig, war aber höchst illegale Kacke und reine Fantasie eines „schwerverletzten“ Zivilisten ohne polizeiliche Ausbildung und eigentlich ohne jegliche Berechtigung, überhaupt in derartige Ermittlungen verwickelt zu sein.

Das war die freundlich-sachliche Variante der Auslegung von zig Strafdelikten. Kurz gesagt: Diese Story brauchte dringend ein gründliches Face-Lifting! Ansonsten könnte sich JP gleich mit Handschellen ans Krankenbett fesseln und den Schlüssel zu seiner Türe für ein paar Jahre wegwerfen lassen. Shit, shit, shit. So offensichtlich und doch so schwer an die „Offiziellen“ weiterzuleiten! Aber es nicht zu tun, konnte noch mehr Schaden anrichten und außerdem war es ein definitives Vertuschen von Beweisen, auch wenn es, genau genommen, nur Vermutungen waren. Also musste sich JP, respektive Herr Hauptkommissar Holzner, im Moment mit dem Dossier Franz Korber begnügen. Dieses war wirklich gut und vollständig, fast schon zu vollständig im Sinne von weiterem Business für Lucky Eagle.

Ursprünglich beinhaltete Franz´ Dossier alle Vermögenswerte von Herrn Korber inklusive aktueller Kontoauszüge (!!) und Aktiendepots (!!) bei seiner Hausbank. FATBOY war einfach unglaublich. JP wusste aus seiner Zeit als Ex-Hacker nur zu gut, dass Banken nicht sicher waren und durchaus gehackt werden konnten, aber die diesbezüglichen „Einbruch-Fähigkeiten“ von FATBOY, hatten ihm das letzte Quäntchen Illusion und Vertrauen in die Zugriffssicherheit bei Bankkonten genommen. Diesen Teil der Informationen musste er unbedingt aus dem Dossier entfernen – er hätte die Fragen nach dieser Informationsbeschaffung einfach nicht erklären können. Auch den Teil mit der aufgestockten Lebensversicherung von Franz hatte er entfernt, wie konnte FATBOY das wieder herausgefunden haben? Rein gar nicht war vor ihm sicher, sofern es irgendwie am Netz angeschlossen war....

Jedenfalls: Wozu unnötige Fragen bei der deutschen Polizei provozieren? JP fand, es stand der Witwe von Franz zu, eine wirklich stattliche Lebensversicherung bei Ableben ihres Mannes zu erhalten. Sie hatte zwei kleine Kinder, die noch mindestens 15 Jahre lang versorgt und unterstützt werden mussten – anständiger Zug von Franz! Damit stieg er wieder ein bisschen in der Achtung von JP.

Studium, beruflicher Werdegang, Vermögenswerte wie Haus, Auto etc. sollten durchaus im Dossier bleiben. Privates wie Surfverhalten im Internet – mit entsprechend vielen Besuchen auf eindeutig homosexuellen Pornoseiten und sogar Anzeigen von Franz für eindeutige sexuelle Kontakte – konnte ruhig offengelegt werden. Die Hausbank würde Kontoauszüge gegen Vorlage eines entsprechenden richterlichen Beschlusses irgendwann vorlegen müssen. Dann kämen auch die recht stattlichen Überweisungen von ausländischen Konten auf Franz´ Korbers privates Konto ans Tageslicht. Aber damit hatte JP dann nichts mehr zu tun.

Im Prinzip kam heraus, dass Franz Korber außer seinen sexuellen Vorlieben, die er wohl erfolgreich vor seiner Familie geheim gehalten hatte, ansonsten ein sehr anständiges und rechtschaffenes Leben führte. Er war in mehreren Vereinen, war aktives Mitglied bei Greenpeace, engagierte sich in einem Hort für geistig behinderte Kinder, machte gelegentlich kulturell orientierte Betreuungs-Ausflüge mit körperlich Behinderten oder alten, einsamen Menschen aus Pflegeheimen. Bei Facebook waren viele Fotos von ihm und seiner Familie abgelegt, die ihn als einen liebevollen, sehr glücklich wirkenden Familienvater zeigten. Und genauso schätzte ihn JP auch ein. Vielleicht war Franz zur Mitarbeit an den kriminellen Aktivitäten im Hause Malinger erpresserisch gezwungen worden. Natürlich machte das seine Eingriffe, sachlich betrachtet, nicht besser oder weniger kriminell, vielleicht aber, emotional betrachtet, ein bisschen verständlicher.

Für JP war der emotionale Teil sehr wichtig, wichtiger als die Rechtslage! Er war kein Polizist, der Gesetzesbrüche ahnden musste, er war ein ganz normaler Mensch, der mit Franz Korber fast zwei Jahre eng zusammengearbeitet und ihn fachlich und auch menschlich immer sehr geschätzt hatte. Außerdem hatte er ihm eine sehr ordentliche Beförderung und Gehaltserhöhung zu verdanken. JPs Wut auf Franz von vor einer Woche war inzwischen nicht mehr vorhanden und definitiv gewandelt in Mitleid. Nein, Franz Korber war kein schlechter Kerl! Überhaupt nicht!

Er konnte einfach offensichtlich nicht aus seiner Haut, was seine sexuellen Leidenschaften betraf und war damit vielleicht erpressbar. Sicherlich bekam er auch einen „Judas-Lohn“, aber die Beträge waren sehr moderat im Verhältnis zum dem gesamten Betrug. Somit konnte das Geld alleine einfach nicht die Motivation zur Beteiligung an den Machenschaften gewesen sein.

Genau so stelle JP seine Einschätzung der Person Franz Korber gegenüber den Kripobeamten dar, als er sein Dossier auf dem USB-Stick zur weitern Aus- und Bewertung dem begierig lauernden Hauptkommissar Holzner und seinen Kollegen übergab.

 

***

 

„Herr Hauptkommissar, ich weiß, dass Sie der oberste Wachhund von Herrn Santa Cruz sind, aber das ist eine ärztliche Visite und ich möchte diese mit meinem Patienten und der Schwester hier alleine machen, würden Sie bitte draußen warten?“ „Ja, Dr. Gruber, ich bin vor der Tür, aber ich finde, dass Sie Ihren Patienten zu sehr verweichlichen. Santa Cruz ist ein zäher, durchtrainierter Bursche, der eigentlich schon längst ...“ „Hauptkommissar Holzner, entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber die Diagnose stelle ICH alleine. Ich bin die Ärztin! Herr Santa Cruz ist tatsächlich ein sehr strammer Bursche, aber ...“

„Dr. Gruber, ich bitte Sie, Ihr indiskreter Blick unter mein Nachthemd und Ihre persönliche Einschätzung meines strammen Burschen gehören zu Ihrer ärztlichen Schweigepflicht und sollten nicht vor dem Hauptkommissar und der geschätzten Schwester Mira diskutiert werden ...“ JP grinste bis über beide Ohren.

Bingo! Dr. Gruber legte augenblicklich ein tiefes rubinrot als neue Gesichtsfarbe auf. Yeah, Sieg in der ersten Runde! Es machte so derartig viel Spaß! Holzner ging prustend aus dem Raum. Die Schwester hielt sich kichernd die Hand vor den Mund und JP bemühte sich, ein bisschen ein beleidigtes Gesicht aufzusetzen. „Ähm ... Hmm ... Herr Santa Cruz, es scheint Ihnen Spaß zu machen, mich zu kompromittieren.“ „Nein, Frau Dr. Gabriela! Niemals! Ich verehre Sie sehr und bin extrem bemüht, bei Ihnen Eindruck zu schinden und ein paar Sympathie-Punkte gut zu machen. Nur die Hoffnung auf einen gemeinsamen Spaziergang und ein paar Drinks mit Ihnen verhilft mir zu schnellerer Genesung.“ Oh Gott, wo nahm er nur diese ständigen, schnulzigen Anmach-Redewendungen her. „Herr Santa Cruz, alles zu seiner Zeit! Erste Priorität ist tatsächlich, dass Sie schon bald, wie auch ihre anderen Kollegen, aufstehen und als gesunder Mann unser Krankenhaus verlassen können.“ „Aufstehen, Frau Dr. Gruber, ein gutes Wort. Wie sieht es damit aus? Ich möchte wenigstens selbständig wieder auf die Toilette dürfen und nicht ständig mit dieser erniedrigenden Flasche und Bettpfanne hantieren müssen.“ „Das kann ich nachvollziehen, Herr Santa Cruz. Wenn sie keine schnellen Bewegungen machen, sich nicht bücken und nichts Schweres heben, dann kann ich es inzwischen tatsächlich verantworten, wenn Sie zum genannten Zweck langsam und vorsichtig auf die Toilette gehen.“ „Danke, Doktor. Das hilft schon. Da ich nichts Schweres heben darf, muss ich mich dann beim Pinkeln hinsetzen?“ Flupp – feuerrotes Gesicht. „Ich denke, Sie können nichts sagen oder denken, ohne Hintergedanken, Herr Santa Cruz. Tun sie, was Sie nicht lassen können, aber machen Sie es langsam und gefühlvoll.“ „Ist gut, Frau Dr. Gabriela, langsam und gefühlvoll. Diesen Ruf habe ich mir wohl mittlerweile schon bei mehreren Damen erworben....“

Die Krankenschwester und die Ärztin wetteiferten mittlerweile um den intensiveren Rotton auf den Wangen. Die Visiten waren der Höhepunkt eines jeden dieser, ansonsten langweiligen Tage und JP genoss sein Spiel unendlich. Als sie gegangen waren, kam Holzner prustend zur Tür rein und reckte vergnügt den rechten Daumen senkrecht nach oben. “Ich habe gelauscht! Die beiden leuchten wie rote Glühwürmchen den Gang entlang – was Ihnen immer einfällt.“ Als sich Holzner endlich beruhigt hatte, setze JP eine ernste Miene auf und winkte ihn an sein Bett heran. „Herr Holzner, kann ich Ihnen vertrauen?“, flüsterte JP. Holzner war sofort ganz Ohr und nickte hoch konzentriert. „Holzner, ich möchte Ihnen etwas anvertrauen, wobei ich Ihre Hilfe brauche. Aber ich muss Ihr Versprechen haben, dass Sie niemandem sagen, woher Sie die Informationen haben!“ „Herr Santa Cruz, ich bin hier in offizieller Mission. Ich kann nichts verheimlichen, was Sie mir erzählen, sofern es den Fall betrifft.“ „Gut, Herr Holzner. Dann vergessen Sie es! Ich habe nur Vertrauen zur Privatperson Korbinian Holzner und nicht zum Beamten Hauptkommissar Holzner.“

Holzner setzte sich wieder auf seinen Stuhl beim Besuchertischchen und überlegte. Ganz offensichtlich rang er mit sich. Nach ein paar Minuten kam er wieder ganz nah ans Krankenbett und raunte: „OK, Sie haben mein Wort. Sie reden mit der Privatperson Holzner. Ich werde kein Wörtchen darüber verlieren, was Sie mir erzählen wollen.“ „Ok, Herr Korbinian Holzner. Ich vertraue Ihnen! Was glauben Sie, was ich hier tue, wenn ich die ganze Zeit auf meinem Laptop herumhacke und Ihnen dann einen Datenstick mit Daten von diversen Personen übergebe?“ „Sie und ihre Kollegen recherchieren im Firmennetz der Firma Malinger und im Internet?“ „Ja, Herr Holzner, ganz genau! Das tun meine Kollegen und zum Teil auch ich, aber glauben Sie, diese Daten und Informationen liegen einfach nur so rum und wir gehen hin und sammeln sie auf?“ Holzner machte neugierige und große Augen: „Sie meinen, Sie ...“ dabei wurde seine Stimme ganz, ganz leise „sie hacken sich wo rein?“ „Herr Holzner, sich irgendwo reinzuhacken, ist nicht erlaubt. Das tun wir nicht, aber wir recherchieren mit fortgeschrittenen, technischen Mitteln....“ Holzner setze eine Verschwörermine auf und nickte eifrig. „Die beiden Freunde von mir, die aus dem Ausland recherchieren, sind auf etwas sehr interessantes gestoßen und ich möchte, dass Sie es offiziell entdecken, denn nur so ist es vor Gericht verwertbar. Können wir uns darauf einigen?“ „Ja, ich verstehe.“

„Also, ich möchte Sie bitten, dass Sie speziell die Fingerabdrücke vom Gabelstapler, Sie wissen schon, der die beiden Paletten mit dem Industriereiniger zum IT-Container gebracht hat, mit oberster Priorität untersuchen lassen und dass Ihre Ermittler eine logische Verbindung der jeweiligen Besitzer herstellen. Suchen sie die Verbindung von Personen zueinander speziell in den Akten der Fremdenlegion, Einsatzbereich Angola. Damit finden sie möglicherweise eine heiße Spur zum Attentäter.“ Holzner machte kugelrunde Augen. Er hatte verstanden und nickte ganz beflissen. Er wollte schon aufbrechen, als JP seinen Arm festhielt. „Holzner, das ist alleine IHRE Idee und IHRE Entdeckung, vergessen Sie das nicht! Achten sie auf eine glaubhafte Story wegen der Legion. Ich weiß von nichts, falls mich einer fragt!“ „Ja verstanden, ich werde sofort im Labor anrufen!“ JP hörte Holzner mit dem Labor telefonieren und die Anweisungen geben. Die Story, warum in der Legion recherchiert werden sollte, war akzeptabel, wenn auch nicht genial. Aber Holzner verkaufte die ganze Sache gut als seine ureigenste Idee. Er würde dafür sicherlich irgendwann Anerkennung und Lob ernten. Damit waren JP und sein Team vom Haken und die Sache ging ihren offiziellen Lauf.

 

***

 

Dr. Elisabeth Drager hatte eine unglaublich turbulente Woche hinter sich. Sie war die vergangenen acht Tage täglich mindestens 18 – 19 Stunden für die Malinger GmbH & Co. KG im Einsatz gewesen und versuchte zusammen mit ihren Managementkollegen und Herrn Joseph Malinger irgendwie die Firma am Laufen zu halten um das wirtschaftliche Überleben zu ermöglichen. Keine Computer, keine Firma: So einfach was das! Die Abhängigkeit von der Informationstechnologie war einfach erschreckend! Die vergangene Woche war deshalb ein unglaublicher Kraftakt! Diese Explosion im Rechenzentrum hatte verheerende Folgen auf den Geschäftsbetrieb der Malinger Autoteile GmbH & Co. KG. Die gesamte Produktion stand zuerst still, Frachtabwicklung undenkbar, keinerlei Überblick über Lagerbestände, kein Einkauf von Rohmaterialien, keinerlei Personal-, Kreditoren- oder Debitorenbuchhaltung – totaler Blindflug. Zum Glück waren die Gehaltsabrechnungen wenigstens schon zum 25. eines Monats abgeschlossen, sonst hätte die Firma Malinger keinerlei Gehälter auszahlen können. Bereits am Samstag vor einer Woche war jede verfügbare und verwendbare Führungsperson in der Firma und versuchte zu retten, was zu retten war. Die Feuerwehr war noch auf dem Werksgelände, als schon jeder Abteilungsleiter in seinem jeweiligen Bereich anpackte und versuchte, so viel als irgend möglich auf Basis von halbwegs aktuellen Ausdrucken oder Ablagen in Papierform gangbar zu machen und irgendwie einen manuellen Arbeitsprozess zu managen. Jeder wusste, es geht um das nackte Überleben der Firma. Diese totale Abhängigkeit einer jederzeit verfügbaren IT war einfach unglaublich! Eine Katastrophe dieser Art konnte ein Produktionsunternehmen ganz locker binnen einer Woche in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Hätte dieser junge Santa Cruz nicht dieses geniale Hochverfügbarkeitskonzept mit „mehrfacher Reißleine“ für die firmenrelevanten Daten durchgesetzt und somit aktuelle Datenspiegelungen auf die Rechenzentren in Spanien und Schottland verteilt, gäbe es die Malinger Autoteile GmbH wahrscheinlich Mitte Mai nicht mehr als Firma. Diese ausgelagerten, aktuellen Datenbestände waren schlichtweg die Rettung für die Firma! Bereits am Montag lieferten mehrere Hardwarehersteller – IBM, Fujitsu, HP, Sun und auch Dell – man musste kaufen und ausleihen, wo immer entsprechende Server oder Blades sofort verfügbar waren.

Montag nachts stand schon wieder ein notdürftiges Rechenzentrum in einem der Bürocontainer innerhalb einer Fertigungshalle. Am Dienstag Nachmittag waren Lager und die Frachtabteilung schon wieder leidlich arbeitsfähig und die Fertigung begann wieder langsam anzulaufen, zumindest mit Produktions- und Terminplanung. Am Freitag war die Firma im Grunde schon wieder funktionsfähig und sogar Marketing, Werkstoffentwicklung und Zeiterfassung waren wieder einsatzbereit. Es war noch weit weg von „perfekt“, aber man konnte wieder arbeiten. Das war eine unglaubliche Leistung! Zumal die Nummer Eins aus der IT-Abteilung, Franz Korber, tot, die Nummer Zwei in Deutschland, Giovanni Paul Davide Santa Cruz, schwer verletzt und noch im Wachkoma und die Nummer Drei in Deutschland, Sebastian Meyer, auch tot war. Die restliche deutsche Mannschaft aus der IT lag mehr oder weniger schwer verletzt im Krankenhaus.

Die IT Kollegen aus Spanien und Schottland sprangen ein und vollbrachten fast Wunder. Das Top Management hatte natürlich viele der höchsten Zugriffsrechte, aber einige Bereiche innerhalb der Speichersysteme hatte Franz Korber für niemanden außer für sich selbst, vielleicht noch für Santa Cruz, zugänglich gemacht. Hinzu kam, dass zwar Zugriffsrechte bestanden, aber dies bedeutete nicht gleich, dass sie auch vom Management bedient werden konnten. Das Management war extrem ungeübt im Umgang mit diversen Softwareprogrammen. Dafür gab es ja immer die Spezialisten!

Die detaillierten Verzeichnisse der Zugriffscodes waren auch Teil der Zerstörung im deutschen Rechenzentrum. Es gab keine Sicherungskopie davon. Zumindest wusste niemand wo. Dr. Drager war physisch vollkommen am Ende. Sie hatten alle, jeder für sich, fast übermenschlichen Einsatz gebracht. Aber am Meisten wunderte es sie, wie ihr Onkel Joseph Malinger dies in seinem Alter durchhalten konnte. Joseph schien überall gleichzeitig zu sein und behielt den Überblick, dirigierte hier, wies dort an, autorisierte dies und entschied das. Er war einfach unglaublich! Elisabeth hatte den Eindruck, Joseph hatte die vergangenen acht Tage gar nicht geschlafen.

Unglaublichen Einsatz erbrachte auch der Geschäftsleitungskollege Dr. Andreas Hildebrandt, im Hause Malinger zuständig für die gesamte interne Organisation, wozu auch die Informationstechnologie, Buchhaltung und mit etwas Fantasie eventuell sogar das Personalwesen der deutschen und ausländischen Tochterfirmen gehörten. Das Finanzwesen des Konzerns unterstand ihm nicht. Er arbeitete verbissen, als ob sein Leben von der Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs abhinge.

Elisabeth Drager hatte ihn vor über sechs Jahren in die Firma Malinger gebracht. Sie mochte ihn nicht und schämte sich dafür. Denn, Andreas Hildebrandt war ihr Cousin aus der Verwandtschaftslinie väterlicherseits. Er war der Sohn einer Schwester ihres Vaters – deshalb der andere Nachname. Andreas Hildebrandt war elf Jahre älter als sie und hatte sich diese Position damals durch eine Gefälligkeit erzwungen, die er Elisabeth zuerst aufgedrängt und die sie dann eigenartigerweise unglaublich genossen hatte. Aber sie war nicht stolz darauf und hätte nie im Leben jemandem freiwillig davon erzählt. Dies war nichts, womit man sich brüsten wollte.

Es war blanke Rache für eine Sache, die über 29 Jahre zurücklag und unmittelbar den ältesten Sohn Joseph Malingers betraf. Rache dieser Art war zwar emotional kurzzeitig befriedigend, aber rational gesehen brachte sie rein gar nichts. Nur innere Leere! Andreas forderte den Job als Bezahlung.... Elisabeth Drager hatte sich damals auf den Handel eingelassen.

Aber fachlich hatte Andreas Hildebrandt bei Malinger sehr gute Arbeit geleistet. Er war brillant und hatte einen unglaublich tiefen Einblick in den kleinsten arbeitstechnischen Prozess und rationalisierte und verbesserte unaufhörlich. Trotzdem mochte sie ihn nicht. Sie konnte es aber nicht erklären. Elisabeth hatte ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Andreas Hildebrandt niemandem erzählt. Auch Joseph Malinger nicht. Sie fand, gewisse Dinge gingen einfach niemanden etwas an und taten nichts zur Sache. Dazu gehörte alles Private, wie z. B. ihre sexuelle Neigung zu Frauen, ihre durchaus verkorksten Verwandtschaftsverhältnisse väterlicherseits und ihre Vergangenheit in der Ex-DDR. Andreas Hildebrandt gehörte gleich in zwei dieser „privaten“ Kategorien und damit ging es schon per Definition niemanden etwas an, wie sie zum ihm stand.

Warum sollte sie auch erwähnen, dass sie selbst wie auch ihr Cousin Andreas jeweils ranghohe Stabs Offiziere bei der Staatssicherheit der DDR, der Stasi waren...

Ohne Skrupel
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