10. Januar 2010, München

         

Geplant waren drei zivile Verfolgungsfahrzeuge. Aber das Ganze wurde zum absoluten Desaster: Fahrzeug Nr. 1 sprang nicht an, der Fahrer hatte in der Aufregung das Licht brennen lassen. Bei der Kälte war somit schnell die Batterie leer. Niemand hatte ein Überbrückungskabel dabei. Den Zeitverlust konnte man sich nicht leisten. Der Fuhrpark der Firma Malinger stand zu weit entfernt am anderen Werksgelände. So fuhren die acht Personen, auf die anderen beiden Fahrzeuge verteilt, los. Es ging Richtung München Ost. Fahrzeug Nr. 2 fiel schon nach 1,5 km aus. Ein selbstverschuldeter Auffahrunfall. Weitere Verfolgung war somit unmöglich. Die Überwachung des roten Punktes auf dem Monitor des Beifahrers und das ständige Telefonieren der beiden Kollegen auf dem Rücksitz hatten den Fahrer abgelenkt – und Peng! Es war aber zum Glück niemand verletzt. Nur Blechschaden, aber das Fahrzeug war nicht mehr einsatzfähig. So blieb nur das Fahrzeug mit dem Einsatzleiter, zwei Polizisten und JP als „Navigator“.

JP regte an, zumindest auf Sichtdistanz hinter das verfolgte Fahrzeug von Hausmeister Tozzi heranzufahren. Der Einsatzleiter, Peter Krauser, wiegelte ihn verärgert ab. „Konzentrieren Sie sich gefälligst auf Ihren Bildschirm und mischen Sie sich nicht in Dinge, von denen Sie nichts verstehen! Das GPS-Signal ist auch über große Entfernung verfolgbar und somit werden wir nicht entdeckt.“ Tozzi fuhr offensichtlich in den Ortsteil Neuperlach, ein Stadtviertel mit sehr vielen Hochhäusern. JP wurde nervös und mahnte nochmals an, bitte näher an das Fahrzeug heranzufahren. Wie sollte man sonst wissen, in welches Haus Herr Tozzi womöglich ginge. Wieder eine unmissverständliche Abfuhr von Peter Krauser, einhergehend mit Mundverbot für JP. Um 20:01 Uhr blieb der rote Punkt auf JPs Monitor plötzlich stehen. Ein paar Minuten später traf das zivile Fahrzeug mit den drei Beamten und JP an dieser Stelle ein. Tozzi hatte eingeparkt. Die Straßen waren menschenleer. Nahe Tozzis Auto waren sechs Hochhäuser, leicht zu Fuß und innerhalb des Zeitfensters bis zum Eintreffen der Beamten erreichbar. Jedes Hochhaus hatte mindestens zehn Etagen mit mindestens 16 Wohnungen pro Etage. Das waren grob kalkuliert gut 960 mögliche Wohnungen, in denen sich Tozzi und sein Auftraggeber „La Pulcinella“ aufhalten konnten.

Na Bravo!

Ein Hoch auf dieses Ermittlerteam!

Tozzi war verschwunden. Peter Krauser war ratlos und überfordert. Er hatte nicht den geringsten Plan, wo oder wie er anfangen sollte. Er erwog eine Hundertschaft Polizisten anzufordern und das Gelände großflächig abzuriegeln. Er diskutierte erregt mit den beiden Kollegen, während sich JP an sein Laptop setzte und ein paar schnelle Kommandos eingab. Wenn Tozzi sein Firmenhandy dabei und eingeschaltet hatte, dann könnte es funktionieren. Das Glück war auf JPs Seite. Er lokalisierte das Handy in dem Haus rechts von ihnen, wahrscheinlich in der obersten Etage, am Ende des Flurs, rechts. Aber wie sollte er dies diesem sturen Beamten Krauser vermitteln, ohne seine illegale Software eingestehen zu müssen.

Aber es war einfach zu wichtig – er beschloss, einen Frontalangriff zu starten. So stellte er sich vor die drei Beamten und begann: „Hören Sie Herr Krauser, sie haben durch Ihre Sturheit bei dieser Verfolgung schon genug Schaden angerichtet. Tozzi ist Ihnen entwischt! Das ist Fakt! Wenn Sie nicht wollen, dass ein detaillierter Bericht über Herrn Malinger zu seinem Freund dem Polizeipräsidenten kommt, dann hören Sie mir jetzt zu und handeln danach. OK? Ich deute ihr Schweigen als Zustimmung. Also, hören Sie, ich habe vorsorglich in Tozzis Jacke einen kleinen Sender eingebaut und ich weiß deshalb, dass er in diesem Haus da rechts ist.“ JP deutete mit seinem Finger auf das betreffende Gebäude: „Wahrscheinlich in der obersten Etage, die letzte Wohnung rechts. Fordern Sie Verstärkung und kugelsichere Westen an und stürmen Sie dann die Wohnung! ‚La Pulcinella‘ ist sehr gefährlich und sicherlich schwer bewaffnet.“ Krauser lief puterrot an. Er war drauf und dran, JP eine Ohrfeige zu verpassen. Seine anderen beiden Kollegen stimmten JP zu. Er beschimpfte JP als „Klugscheißer“ und bezichtigte ihn einer Mittäterschaft mit diesen „Mafiosi“, wie er die Verdächtigen immer nannte. „Ihrem Namen nach sind Sie ja auch so ein spaghettifressender Itaker. Ihr steckt sowieso allesamt unter einer Decke! Hier geschieht ausschließlich was ICH sage, Bürschchen! Das ist MEINE Show! Sie sind bloß ein geduldeter Wichtigtuer! Sie und ihr Boss können mich kreuzweise! Wir gehen SELBST da rein – und zwar ALLEINE – nur WIR DREI nehmen diese Wichser jetzt fest. Ha!! Wär doch gelacht!! Gruber, Sander, mir nach, Waffe entsichern und schießen, falls notwendig! Und sie, Früchtchen, bleiben hier, schauen zu, staunen und lernen von den echten Männern!“

Und schon bewegten sich die Beamten im geduckten Laufschritt, ihre Pistolen im Anschlag, auf das benannte Gebäude zu. Sie schienen an mehreren Klingeln zu läuten, irgendjemand betätigte jedenfalls den Türöffner und so drangen die Beamten ins Gebäude ein. JP war verwirrt. So blieb ihm nur, den Notruf der Polizei zu wählen und Verstärkung wegen „Verdacht auf eine anstehende Schießerei“, nach Neuperlach zu rufen. JP beobachtete konzentriert die Fensterfront im obersten Stockwerk. Nach ein paar Minuten dachte er, mehrere Schüsse zu hören und sah diverse Blitze aufleuchten.

Daraufhin wurden schlagartig ringsum viele Fenster erhellt. Leute stürzten auf ihre Balkone und wollten wissen, was da los sei. Nach etwa zehn Minuten kamen die ersten Einsatzfahrzeuge der Polizei mit Blaulicht angebraust. Die Beamten stürmten sofort mit gezückter Pistole das Hochhaus. JP war immer noch auf der Straße. Er rief Frau Dr. Drager auf ihrem Handy an und berichtete ganz nüchtern, wie ein beobachtender Journalist in einem Kriegsgebiet. Sie war erschüttert! Sie wollte sofort zu ihm eilen und ihn abholen. Nach und nach kamen immer mehr Polizisten und stürmten das Hochhaus. Viele Bewohner standen auf den Balkonen oder kamen vor die Eingangstür in die eisige Abendluft. Man munkelte von Toten. Aber niemand wusste etwas Genaueres.

JP beobachtete plötzlich einen dunkelhaarigen, mittelgroßen Mann, der sich vollkommen anders verhielt als alle anderen. Er ging langsam, scheinbar vollkommen desinteressiert, irgendwie gebückt und stark hinkend von dem Gebäude weg, direkt auf die Polizeiautos und auf JP zu. JP erkannte ihn sofort als „La Pulcinella“, der die allgemeine Verwirrung zur Flucht nutzen und sich aus dem Staub machen wollte. JP musste unbedingt etwas unternehmen, aber er war weder bewaffnet noch gut in Selbstverteidigung. Er war ja nur ein ganz normaler Kerl, zufälligerweise an diesem Ort. Um ihn herum standen mittlerweile mehrere Polizisten und warteten auf ihre Kollegen im Hochhaus. Da begann JP aus Leibeskräften zu schreien und zeigte auf den hinkenden „La Pulcinella“ – „Der Mann hat eine Waffe! ACHTUNG WAFFE! WAFFE!“

Schlagartig zückten alle Polizisten ihre Dienstwaffen und zielten auf „La Pulcinella“. Dieser hatte tatsächlich keine Waffe und erkannte schnell die Übermacht der Beamten. Er ergab sich sofort kampflos. „La Pulcinella“ blutete aus dem Bauch, dem rechten Bein und dem rechten Arm. Er wurde unverzüglich überwältigt und in Handschellen gelegt. Die Rettungswagen trafen mittlerweile ein und begannen sogleich mit der Notversorgung.

Die Bilanz des Abends war verheerend: ein erschossener Polizist: Peter Krauser, eine erschossene Zivilistin, wohl die Freundin von Donatelli, zwei leicht verletzte Polizisten: Sander und Gruber, zwei sehr schwer verletzte Zivilisten: Schusswunden, Tozzi und Donatelli. JP hatte genug für heute. Er machte notgedrungen seine Aussage auf dem Polizeirevier. Dr. Drager war so freundlich, stand ihm bei und fuhr ihn dann gegen 4:00 Uhr morgens endlich nach Hause. Heute war einfach zu viel passiert! So eine Vergeudung von Menschenleben!

Was für ein Ende!

Was für ein Wahnsinn!

Ohne Skrupel
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