München, 30. April 2010, Malinger Werk, vormittags
Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge warf ein gespenstisches Licht auf das bizarre Geschehen. Martinshörner und Sirenen verursachten jedes für sich schon genug Lärm, aber in dieser Vielzahl war es einen Höllenlärm! Mehr und mehr Einsatzfahrzeuge kamen die Straße entlanggebraust. Ein Konvoi der Blau- und Gelblichter, so als ob sich alle Einsatzfahrzeuge der ganzen Stadt ausgerechnet hier treffen und versammeln wollten. Die zentrale Sammelstelle der städtischen Lärmmacher – der große Wettbewerb der Sirenen – meines ist lauter, blauer, gelber! Gib mir eine gute Bewertung, ich will auch dabei sein. Sanitäter, Polizisten und Feuerwehrleute, alle wuselten wild durcheinander und verbreiteten eine unglaubliche Hektik. Verständlich, so ein „Happening“ gab es auch in einer Millionenstadt wie München nicht alle Tage. Konnte nicht lange dauern, bis auch die Presse mit geballter Kraft anrücken würde. Wenn diese Jungs dann erfuhren, um was genau es hier wirklich ginge, dann bräche die Hölle los! Sicherlich bundesweit, vielleicht europaweit oder mehr.
Der Höllenlärm der vielen Sirenen war da nur eine sanfte Einleitung. Die Feuerwehr war dynamisch: Schläuche ausrollen, Hebeleitern in Position bringen, Bergungen koordinieren – alles laut, alles schnell, alles eilig! Zack, Zack! Die Polizei war ordnend, bemüht, irgendwie Struktur ins das Chaos zu bringen – absperren, regeln, koordinieren, besänftigen. Schön ruhig bleiben. Dein Freund und Helfer – wir haben alles im Griff! Alles wird gut! Die Sanitäter waren fleißig-operativ: Tragen ins Gebäude schleppen, die Verwundeten versorgen, Abtransport ins Krankenhaus. Macht Platz – aus dem Weg! Doktor hier bitte – Doktor da!
JP Santa Cruz saß erschöpft und völlig kraftlos auf dem Gehsteig vor einem Rettungswagen. Er war eingehüllt in die schmucklose Krankenhausdecke, die ihm über die Schultern gelegt worden war, aber nicht richtig wärmte. Sein Haar klebte nass am Kopf, er war kreidebleich und sah elend aus. Zum Kotzen elend! Und genauso fühlte er sich auch. Im Moment kümmerte sich keiner um ihn. Er war ganz froh darüber. Man hatte wohl seine Verletzungen unter seiner nassen Kleidung noch nicht entdeckt und er hatte auch nicht darauf hingewiesen. Es gab viel Bedürftigere zu versorgen, solche die es mehr verdienten. Er fand es nur allzu gerecht, dass er nicht gleich versorgt wurde. Warum sollte gerade er bevorzugt werden? Gerade ER, der Verursacher dieser Katastrophe! JP fror entsetzlich und zitterte am ganzen Körper. Dennoch, irgendwie fühlte er sich wie in einem Kokon, wie in Watte gepackt – irgendwie weit weg – wie ein Voyeur ohne echte Anteilnahme. Er beobachtete sich und sein Drum-herum mit distanziertem Interesse. Das hektische Geschehen, der fürchterliche Lärm, die ganze Aufregung – das konnte einfach nicht real sein! Und so drang es nicht wirklich zu ihm durch. Einzig real war die Wut in seinem Bauch. Viel Wut!
Alles das ging ihn nicht wirklich etwas an. So etwas gab es nur im Fernsehen. So etwas erlebten vielleicht andere Menschen. Das bekam man vielleicht von einem schlechten Geschichtenerzähler und gutem Lügner aufgetischt, aber so etwas passierte doch nicht einem selbst – nicht wirklich, oder?
Und doch: Giovanni Paul Davide Santa Cruz war maßgeblich daran beteiligt! Er war sogar verantwortlich dafür – irgendwie zumindest. Eigentlich müsste er große Schmerzen haben, aber die spürte er nicht wirklich! Endorphinausstoß – eine Gnade der Natur bei einem Schock. Wenngleich nur mit zeitlichem Aufschub! Aber jetzt zählte nur der Moment und dieser Moment war endorphin-gnädig und schmerzfrei. Ein einzelner Tropfen, vielleicht Blut, vielleicht Wasser, folgte der Schwerkraft und rollte langsam auf seiner Stirn nach unten. Sicherlich hatte er sich auch am Kopf verletzt. Irgendwie juckte der langsam fließende Tropfen, aber er war einfach zu müde, zu kraftlos, um ihn wegzuwischen. Warum auch? Das war nicht wichtig! Was war überhaupt noch wichtig in dieser Situation, nach diesem Tag? Zwei Sanitäter kamen soeben aus dem Gebäude und trugen eine Bahre an ihm vorbei. Wer immer darauf lag, die Decke war über seinen Kopf gezogen. Nicht gut, gar nicht gut. Tot! Aber weil der Tote so besonders groß war und die schmutzigen, hellen Turnschuhe unten herausragten, wusste JP sofort, wer da an ihm vorbeigetragen wurde. Schade um ihn! Sehr, sehr schade! Er war ein wirklich netter Kerl, ein sehr guter Badminton-Spieler und ein spitzen Witzeerzähler. Ein leichtes Grinsen huschte über JPs Gesicht. Erst gestern hatte er doch diesen superguten Witz erzählt – wie ging der noch. Shit!!!! Was waren das für saublöde Gedanken! Wie pietätlos war das denn? Wie konnte man in einer derartigen Situation nur an so was denken! „JP Santa Cruz, pfui, pfui! JP Santa Cruz, schäm dich! JP Santa Cruz, du bist ein Arschloch!“ brummelte er vor sich hin.
Zumindest einen Unschuldigen hatte es damit schon erwischt. War das gerecht? Und der Hauptschuldige – wo war er? Kam er mit der nächsten Bahre raus? Hoffentlich! Nein – das wäre viel zu gnädig! Ins Gefängnis musste der Arsch, für den Rest seines verbrecherischen Lebens – bei Wasser, Brot und Kakerlaken. Schwerst körperlich arbeiten sollte er müssen – sieben Tage die Woche! Und jede Nacht sollten die anderen Schwerverbrecher ihn zusammenschlagen. Diese Gedanken taten gut, aber dennoch erschien ihm dies eine viel zu geringe Strafe, viel zu gering! Aber JPs Fantasie war einfach zu erschöpft, um sich noch mehr auszudenken. Hoffentlich hatte der, der für echte Gerechtigkeit sorgen sollte, wer immer das sein könnte, hier mehr auf Lager als JPs Fantasie es im Moment zuließ! Hoffentlich!
Selbstvorwürfe überkamen nun JP und hämmerten in seinem Schädel. „Jean-Paul, nur DU müsstest jetzt in diesem Sack herausgetragen werden! Du hast es wiedermal getan! Deine italienisch-deutsch-amerikanische Schnüffelnase in anderer Leute Business gesteckt! Du bist Schuld an diesem Schlamassel! Du bist ein neugieriges, selbstherrliches Schnüffelnasenarschloch!“ JP Santa Cruz erzitterte nochmals innerlich und bibberte noch mehr als zuvor! Aber: „Hättest du wirklich nur zusehen sollen und nichts unternehmen? Tut es dir wirklich leid, dass du es wiedermal aufgedeckt hast? Darf man wegschauen, wenn man alles sieht? Nein, mein Junge, es tut dir nichts leid, gar nichts – du würdest es wieder tun, jederzeit! Nur diese Unschuldigen, um die tut es dir echt leid!“ Das ist gut so! „Schnüffelnasenarschloch“ – murmelte Santa Cruz leise vor sich hin.
Oh Gott – was war denn das für ein Wort, schoss es ihm durch den Kopf! Wie heißt das eigentlich auf Italienisch, Englisch oder Spanisch? Keine Ahnung! JP fing an zu kichern, in Italienisch klingt das für deutsche Ohren vielleicht sogar irgendwie erotisch, in Spanisch eher aggressiv, kampflustig und im englischen einfach nur ordinär. Aber die Übersetzung fiel ihm partout nicht ein. Sein anfängliches, zaghaftes Kichern steigerte sich – dann brach der Damm! Der Stress der letzten Tage, die Dramatik der vergangenen Stunden, der Horror des Momentes – alles zusammen musste einfach raus! Es entlud sich gewaltig, wie eine befreiende, längst überfällige Enthemmung, eine Explosion – als hysterischer, schriller Lachanfall! Mega-peinlich! Aber, nun kümmerte man sich wieder um JP Santa Cruz. Und wie, mehrere Sanitäter waren augenblicklich zur Stelle und um ihn besorgt. Irgendjemand entdeckte nun auch seine Verletzungen. Nichts Lebensgefährliches, aber immerhin!
Komisch, nun fingen diese Wunden sogar an stark zu bluten. Jemand schnitt seine Kleidung auf, Jodtinktur, Tupfer, Verbände. Ein Anderer gab ihm irgendeine Injektion, wohl zur Beruhigung oder Entkrampfung. Keine Ahnung. Was auch immer! Er fühlte sich wie im dichten Nebel, ach ja, er war ja im Kokon. „Das da“ drang zum Glück nicht richtig zu ihm durch. Er war ja nur „Beobachter“, „Berichterstatter“, wie auch immer. “Das da“ hatte nichts mit ihm zu tun, zumindest irgendwie. Aber: „Das da“ war völlig Banane, bizarr, surreal, verrückt! So etwas passierte einem doch nicht selber! Niemand außer James Bond erlebte so etwas.
JP Santa Cruz, der neue 007 – cool! Und saukomisch! Zwei Sanitäter versuchten, JP sanft ins Innere des Rettungswagens zu schieben. Sie hatten peinlich-verwirrte und hilflose Gesichtsausdrücke. Santa Cruz hatte immer noch einen hysterisch-verkrampften Gesichtsausdruck. „Warum hört der Idiot nicht auf zu lachen?“, JP konnte die Gedanken der irritierten Sanitäter förmlich hören. „Draußen ist es still für die Toten – die Lebenden dürfen nur drinnen lachen, irgendwie peinlich.“ Und je mehr JP darüber nachdachte, umso mehr musste er lachen! Superwitzig! Er konnte es einfach nicht mehr kontrollieren. Es schüttelte ihn geradezu. Der Arzt konnte ihn kaum behandeln, so wurde er von seinen Lachkrämpfen geschüttelt. Der Bauch, das Zwerchfell, das Gesicht, alles tat ihm schon weh. Er hätte so gerne aufgehört zu lachen, aber es ging einfach nicht. Alles war so derart ulkig.
Langsam spürte nun JP die anderen Schmerzen – die verdeckten Verletzungen – der Moment der Gnade war vorbei. Die Endorphine haben ihren Job erfüllt. Einsatz beendet! Welcome to reality! Die Türe seines Rettungswagens wurde von außen geschlossen. „Ins Schwabinger Krankenhaus, mit Sirene und Vollgas!“, drang es noch dunkel an sein Ohr. Dann setzte das Sedativum unvermittelt ein. Danke – die Gnade war wieder zurück! Und jetzt wurde es auch still! Endlich still! Danke!