31. März 2010, Malinger Autoteile, München
Victor Ivan Kurostzov hatte sich die vergangenen vier Wochen auf Abruf für den nächsten Auftrag bereit gehalten. Er hatte nur zwei sehr kleine Aufträge von anderen Klienten übernommen und einen lukrativen Auslandsauftrag abgelehnt, um vereinbarungsgemäß auf Abruf zu sein. Seine Einnahmen in dieser Zeit reichten gerade mal für zwei Besuche bei Olga und einen ordentlichen, einsamen Rausch. Seinen neuen Führerschein und neuen Reisepass hatte er sich inzwischen besorgt. Sein neuer Deckname war: Stanislaw Dokowsky, gebürtiger Pole. Über den blöden Vornamen hatte er sich maßlos geärgert, aber der Fälscher hatte in der Kürze der Zeit nichts Besseres anzubieten. Die Papiere waren jedenfalls sehr gut in der Qualität – damit konnte er sogar in die USA ohne Probleme einreisen, falls mal nötig. Aber Qualität hatte natürlich ihren Preis.
Heute war der 31. März, später Nachmittag, und für Victor Ivan lief damit seine Frist zur Wiedergutmachung des verpatzten Einsatzes in Tschechien innerlich ab. Er überlegte soeben, welchen Schaden dieser enttäuschte Klient seinem tadellosen Ruf wirklich zufügen könnte, als sein Handy den Eingang einer SMS anzeigte. „Biete drei Tage Italien als Wiedergutmachung.“ Mist, die vergessen auch gar nichts! Aber gut! Vereinbart ist vereinbart! Deshalb schrieb Victor sogleich an die neue Telefonnummer „Einverstanden“. Dann kam der Anruf – 58 Sekunden – alles weitere im Briefkasten Nr. 7. Victor konnte sich auf ein paar sonnige Tage im mittleren Italien freuen.
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„Nein, nein, ich werde nicht – und ich betone NICHT – beide Firmen in diesem Jahr kaufen! Dem Malinger Autoteile Konzern sitzt noch der furchtbare Schrecken des vergangenen Jahres tief in den Knochen! Unsere vorsichtige und konservative Strategie der Jahre davor hat uns annähernd unbeschadet durch diese äußerst gefährliche Wirtschaftskrise gebracht. Unsere Reserven waren in der schlimmen Zeit für uns lebensrettend. Ich begehe nun kein Harakiri, indem ich gleich zwei Firmen kaufe und unsere gesamten Reserven dafür investiere. Sie wissen selbst, dass bisher noch jede unserer Akquisitionen enorme Kräfte in unserem Hause gebunden und aufgebraucht hat und jedes Mal mit großen Schmerzen verbunden war. Wir schauen nicht in eine unbegrenzt goldene Zukunft und ich fürchte mich ehrlich gesagt davor, dass die Wirtschaftskrise noch nicht vorbei ist und vielleicht schon sehr bald wieder zu uns kommen kann. Ich sehe die Vorteile des italienischen Unternehmens im Bereich der Metallverarbeitung und des großen Kunden Fiat. Ich sehe aber auch die Vorteile des tschechischen Unternehmens im Bereich der Kunststoffspritzteile und der Entlastung für den Malinger Konzern im Einkauf. Aber ich werde nur EINE der beiden Firmen in diesem Jahr kaufen. Neue Akquisen erst wieder in ein oder eher zwei Jahren! NACH erfolgter Integration! Ich will nochmals ALLE Argumente hören, für welches der beiden Unternehmen ich mich entscheiden soll.“
Herr Joseph Malinger, Mehrheitseigner des Malinger Autoteile Konzerns, hatte ein klares Machtwort gesprochen. Das versammelte Gremium des Topmanagements war in zwei Lager gespalten. Es gab vehemente Befürworter für die italienische Firma und genauso viele Verfechter für das tschechische Unternehmen. Beide Firmen gleichzeitig zu kaufen, war der Kompromiss aus vielen vorherigen Debatten. Es entstand auch diesmal wieder eine sehr hitzige Diskussion und jede Seite vertrat lautstark und mit jeweils gut fundierten Argumenten ihren Standpunkt. Die Gespräche zogen sich bis zum frühen Nachmittag hin. Hätte man die Stimmen durchgezählt und hätte es Joseph Malinger interessiert, wäre es zu einem Pari gekommen. Aber dazu kam es nicht. Joseph Malinger, der Patriarch, sprach ein Machtwort.
„Elisabeth, meine Herren – wir brechen das jetzt ab! Mir schwirrt der Kopf und ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Ich werde am Montag, den 12. April, dazu eine Entscheidung treffen. Die Italiener kosten sehr viel weniger, das ist verlockend. Die Tschechen ergänzen uns gut im Sortiment – aber der Preis ist mir im Moment einfach viel zu hoch! Ich möchte, dass Sie nachverhandeln“, ein klares Nicken stellte eindeutig klar, wessen Aufgabe dies war, „und mir spätestens bis zum Freitag, den 9. April, ein überarbeitetes Verkaufsangebot vorlegen. Ich möchte, dass vollkommenes Stillschweigen über unsere Absichten herrscht. Es macht sich gar nicht gut vor unseren Mitarbeitern, wenn wir Löhne und Gehälter nicht erhöhen, Urlaubs- und Weihnachtsgelder streichen und dann neue Firmen kaufen. Wenn etwas vorzeitig nach außen dringt, beeinflusst es nur den Kaufpreis negativ. Also, nächster Termin zu diesem Thema ist der 12. April um 9:00 Uhr. Ich plane dafür eine Stunde ein. Ich wünsche allen einen guten Tag!“
Joseph Malinger hatte seine Firma wirklich gut im Griff! Er führte sein Unternehmen seit mittlerweile 25 Jahren und war sich nicht sicher, ob er sich schon reif für den Ruhestand fühlte. Er war nun 67 Jahre, sollte wohl – aber wollte eigentlich nicht. Diese knallharten Sitzungen und die Möglichkeit die Entscheidungen zu treffen, sie würden ihm sehr fehlen. Seine Hobbys waren extrem verkümmert und spärlich. Vier bis fünf Mal im Jahr zum Fliegenfischen in seine privaten Gewässern, ein bis zwei Mal zur Jagd und gelegentlich eine Partie schlechtes Golf: Mehr war nicht drin. Sein Hobby, sein Leben, war immer seine Firma. Er war Witwer seit vier Jahren. Seine Kinder waren inzwischen alle erwachsen und hatten schon eigene Kinder – er war somit schon vielfacher Opa von insgesamt sieben Enkeln, die zum Teil auch schon wieder Familien gründeten. Es war schade, dass von seinen eigenen drei Kindern niemand die Gesamtgeschäftsleitung seines Konzerns übernehmen konnte.
Herbert, der Jüngste, war Physiker und in der Forschung tätig. Er verstand vom Geschäft soviel wie eine Kuh vom U-Boot fahren. Er hatte zwei Söhne, die beide in München studierten, Jura und Betriebswirtschaft. Joseph hatte die Hoffnung, dass beide den Konzern in den nächsten Jahren weiterführen würden. Sie waren beide sehr begabt und ihre moralischen Werte entsprachen seinen konservativen Vorstellungen. Sie hatten beide schon in seiner Firma in ihren Ferien gejobbt und er würde sie beide gerne entsprechend fördern und in Richtung Geschäftsleitung entwickeln. Andreas, sein ältester Sohn, war das „sprichwörtlich schwarze Schaf“ in der Familie Malinger. Er lebte in Neuseeland und hatte sich mit Papas Abfindungsgeld seine neue Existenz – eine große Schaffarm – gekauft. Aber er hatte keinerlei Kontakt zur Familie in Deutschland – schon seit 29 Jahren nicht mehr. Joseph war sich nicht sicher, ob sein Sohn in Neuseeland Kinder hatte. Er hoffte nicht. Verheiratet war Andreas jedenfalls nicht. Und das war gut so. Sie hatten sich damals im Bösen getrennt und ein Joseph Malinger widerruft keine seiner Entscheidungen.
Seine Tochter Amelie, die Mittlere, war in Schottland mit seinem Finanzchef Dr. Ian McGregor verheiratet. Sie war die Mutter von fünf Kindern und damit beruflich nicht für Malinger verwertbar. Joseph hatte den Schotten noch nie gemocht und konnte nicht verstehen, was seine Tochter zu diesem Mann hinzog. Was den Schotten zu ihr hinzog, war für Joseph Malinger klar wie Kloßbrühe: Das Geld! Amelie war leider dumm und hässlich. Aber es waren nun mal die fünf Kinder da und was sollte er machen...
Was Joseph, der extrem mit Bayern, dem Deutschsein und dem bayerischen Brauchtum verwurzelt war, immer maßlos ärgerte, war, dass alle schottischen Enkelkinder kaum deutsch sprechen konnten. Obwohl sogar Ian McGregor ein sehr gutes und für einen Schotten sogar gut verständliches Deutsch sprach, hatten die Eltern versäumt, ihren Kindern dies auch beizubringen. Die Kinder konnten zwar deutsch verstehen, aber sprechen konnten sie es kaum. Was für ein Frevel! Was für eine Beleidigung für ihn persönlich! Josephs Englisch war nämlich nicht besonders, und so ärgerte er sich jedes Mal wenn die Enkel in seiner Villa ihren Urlaub verbrachten und die sprachlichen Barrieren nicht abgetragen wurden. Ja, und da war dann noch seine Nichte Elisabeth Drager, die einzige Tochter seiner älteren Schwester Heidrun. Heidrun hatte sich damals in einen Berufssoldaten Heinfried Drager, der es später sogar zum General gebracht hatte, aus Dresden verliebt und mit ihm und ihrer Tochter Elisabeth in der DDR gelebt. Elisabeth war seit nunmehr zehn Jahren die Personalchefin des Malinger Konzerns und sicherlich die fähigste Person, die man sich für diese verantwortungsvolle Position vorstellen konnte. Joseph hatte Elisabeth von Anfang an gefördert und für eine wichtige Position in seiner Firma vorgesehen. Er hatte im Hintergrund immer versucht zu helfen. Die ersten Jahrzehnte verbrachte sie noch in der DDR – ihr Vater hatte ihr irgendeine militärische Stabsstelle besorgt, wo sie auch ihr Studium absolvieren konnte. Im Jahre 2000 suchte Malinger Autoteile dringend eine/n Personalchef/in und da hatte ihr Joseph diese Position angeboten. Es war ein sehr großes Risiko für ihn gewesen. Er kannte sie kaum und konnte mit ihrem beruflichen Werdegang wenig anfangen. Aber er spürte ganz tief im Bauch, dass sie die Richtige für diesen Posten war, und er hatte Recht behalten.
Es war anfangs gar nicht leicht mit Elisabeth. Sie hatte Joseph die Vertuschung der brutalen Vergewaltigung durch seinen ältesten Sohn Andreas sehr lange Zeit, sehr übel genommen. Es war passiert, als die 16-jährige Elisabeth in Joseph Malingers Haus ihre Sommerferien verbrachte. Sie war also unter seiner Obhut. Andreas war damals 19 Jahre. Daraufhin hatte Joseph Malinger hatte seinen ältesten Sohn Andreas vor 29 Jahren ans andere Ende der Welt verbannt. Mit dieser Missgeburt und Teufel als Sohn wollte er nichts mehr zu tun haben. Er hatte ihn verstoßen! Es kamen damals sehr viele Delikte zusammen: Drogen, permanente Gewalttätigkeiten, Raubüberfälle und mehrere Vergewaltigungen, zusätzlich zu der von Elisabeth, die allerdings allesamt mittels Geld und Beziehungen vertuscht worden waren. Andreas Malinger tat alles, um seinen Vater bloßzustellen. Jede Woche aufs Neue musste er etwas vertuschen. Eine Öffentlichmachung der Delikte und der damit unweigerlich verbundene Skandal für das Unternehmen waren undenkbar für den angesehenen Joseph Malinger und sein ehrwürdiges Familienunternehmen. Delikte dieser Art öffentlich zu machen, hätten niemandem genutzt aber massiv der Firma geschadet – VW, BMW, Audi, damals eher konservative Unternehmen und die Hauptkunden der Malinger Autoteile GmbH, hätten ihre Geschäftsbeziehung zu Malinger überdacht und vielleicht Aufträge storniert.
Elisabeth wollte damals pure Gerechtigkeit durch Öffentlichmachung und Verurteilung von Andreas. So konnte die junge Elisabeth anfangs die bloße Verbannung nicht akzeptieren. Sie empfand dies nicht als angemessene oder gerechte Strafe! Zumal Josef Malinger rein finanziell extrem großzügig gegenüber Andreas war. Elisabeth wollte Andreas im Gefängnis sehen! Alles andere war ein Hohn und nicht akzeptabel für sie! Aber damals war die Gesetzgebung noch ganz anders. Es hätte einen Skandal gegeben – JA. Einige der moralischen Autohersteller hätten ihre Konsequenzen gezogen – JA. Aber hätte es 1981 eine Verurteilung wegen Vergewaltigung einer geschlechtsreifen, sehr hübschen und sehr aufreizenden 16-jährigen gegeben? Wer weiß ... Aber sei‘s drum. Mittlerweile, nach Jahren der Ablehnung jeglichen Kontakts zu Joseph Malinger, hatte Elisabeth sein damaliges Verhalten verstanden. Das Leben hatte ihr beigebracht, dass nicht alles schwarz oder weiß ist und man häufig den grauen Kompromiss suchen und wählen musste. Inzwischen war sie genauso wie Joseph, die Firma und deren Überleben geht allem anderen vor! Erst seit etwa 15 Jahren respektierte sie Joseph Malinger wieder als ihren Onkel und in den letzen zehn Jahren hatten sie wieder einen sehr guten Draht zueinander. Joseph hielt wirklich große Stücke auf sie! Das traf nicht auf alle Mitglieder seiner Geschäftsleitung zu.