4. März 2010, München
Der Zug von der Cebit nach München war brechend voll. Es war im Prinzip eine blöde Idee, erst um 17:30 Uhr loszufahren, um 15:30 Uhr wäre es wohl leerer gewesen und er hätte nicht den weiten Weg im Gang auf seinem Koffer sitzend verbracht, sein Notebook auf den Schenkeln, bis die Batterie leer war. JP kam erst spät nach Hause, saß aber morgens schon wieder um 5:30 Uhr an seinem Schreibtisch. Mein Gott, mutierte er zum Streber? Geht das so schnell nach einer Beförderung? Wird man so schnell zum Workaholic? Er war immer stolz darauf gewesen, mit minimalem Aufwand das maximale Ergebnis zu erzielen. Aber die Wahrheit war in diesem Falle ganz simpel. Zu dieser Uhrzeit war normalerweise noch niemand im Office! Am Wochenende hätte man eventuell die Security informieren müssen, aber während der Woche, etwas früher am Morgen oder bis 20:30 Uhr abends, da war das nicht nötig.
Und JP musste unbedingt ein paar Dinge recherchieren – die Malinger IT-Welt durchwühlen. Da waren neugierige Kollegen nicht gerade förderlich! Er hatte sich schon, logischerweise unerlaubt, gelegentlich auf seine privaten Rechner „ein bisschen was“ gezogen, aber das war immer nur Kleinkram für anstehende Programmierprojekte für die Lucky Eagle Ltd .
Seine PC-Kisten zu Hause waren echt gut, um das eine oder andere Programm zu schreiben, aber diese wunderhübschen, schwarzen IBM-Schätzchen hier im klimatisierten Rechenzentrum, die hatten doch schon ein bisschen mehr „Umpf“ und auch sonst mehr drauf. Das war auch gut so – diese Kisten hier unterschieden sich ja nicht nur durch die paar mehr Prozessoren und ihre hübschen Klimaschränke, sondern auch maßgeblich durch die drei bis fünf Nullen vor dem Komma. JP war unglaublich gut drauf heute Morgen. Fast, als ob er sich eine Linie Koks ins Hirn geschossen hätte. Aber das kam bei ihm aus Prinzip nicht infrage. Die entsprechenden Abfragescripte hatte er schon auf der Cebit im Hotelzimmer geschrieben, dann noch im Zug so gut es ging und noch fast die ganze, gestrige Nacht zu Hause. Sein Problem war nur, er wusste nicht so genau, was er wirklich suchen sollte, und hatte deshalb einen ganz groben Filter über alle möglichen Bereiche gelegt. Das Ergebnis würde auf jeden Fall nachbearbeitet werden müssen. Die Sortierung war grob. Das wird Tage oder Wochen dauern.
Er hatte so viel Kaffee im Körper, dass für Blut kaum noch Platz war. Er arbeitete wie ein Berserker. Fast gleichzeitig hämmerte er auf drei unterschiedlichen Tastaturen. Suchbefehle flogen im Minutentakt durch die Weiten der Milliarden von Nullen und Einsen. Einige Terabytes an Daten über diverse Ländergesellschaften verstreut – das war selbst für die hungrigen IBM-Babys ein sattes Häppchen, zumal sie in ihren Auslastungen fast bis zum Anschlag für das Tagesgeschäft verplant waren. IBM-Blech ist teuer, da kauft man nicht viel mehr, als man optimal auslasten kann. JP hatte natürlich offiziell nicht zu allen Softwareprogrammen und Applikationen eine Zugangsberechtigung. Offiziell zumindest. Das Passwortknack-Programm von FATBOY war einfach göttlich! Es war zwar schon über zwei Jahre alt und noch ein „Erbe“ aus New York, aber für eine Firma wie Malinger völlig ausreichend. Hier waren die Zugangsmasken nur sehr rudimentär in ihrer Verschlüsselung und sehr leicht zu knacken. Bei einer Bank oder Versicherung wäre das Programm sicherlich weniger effektiv. Nachdem seine Spyware fleißig unterwegs war, hatte er sogar Zeit für seine erste Butterbrezen von Müller Brot.
Piep, piep – die ersten Maschinen meldeten ihre Suchergebnisse und waren bereit zur Ausgabe. JP wollte sich das alles in Ruhe ansehen und seinen groben Filter zu Hause nachtunen. Er wollte auf keinen Fall etwas Ausgedrucktes und leitete all die Reports direkt auf ein paar seiner speziellen URLS, die er im WWW verteilt angelegt hatte. Es war schon kurz vor acht und die frei verfügbare Power der Maschinen ging merklich in die Knie. Die anderen Mitarbeiter begannen mir ihrer Arbeit. Spätestens in ein paar Minuten würden einige seiner Abteilungskollegen kommen, dann gäbe es Fragen. JP würgte einige der nicht fertigen Anfragen unsanft ab, aber er hatte so verbissen alles Mögliche losgeschickt, dass er im Moment ein bisschen den Überblick verloren hatte. Was war schon da, was noch unterwegs? Der lange Sebastian Meyer war der Erste. Er war extrem sportlich und kam meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit, auch jetzt im Winter. Heute war das vorteilhaft, denn normalerweise ging er zuerst duschen, das brachte mindestens 15 Minuten. Heute nicht! Verschwitzt, wie er war, setzte er sich direkt an sein Terminal.
„Hey Basti, was ist mit Duschen? Stink uns hier nicht die Bude voll ...“ meinte JP kumpelhaft. „Davon wirst schon ned krepieren, JP. Dastunkn is no koana...“ Basti kam aus Niederbayern und immer, wenn er ganz freundschaftlich rüberkommen wollte, dann war Dialekt angesagt. „Ich habe vorhin eine SMS von meiner Systemüberwachung gekriegt, da sind ein paar heftige Spitzen auf dem System. Ach, gratuliere übrigens zu Deiner Beförderung! Bist‘ jetzt mein Chef? Wie war´s gestern auf der Cebit?“ Danke lieber Gott, das ist die rettende Ausrede!
„Danke für die Gratulation. Ach ja, wir haben uns ja noch gar nicht gesehen seitdem. Cebit war gut. Wir haben um 10:30 Uhr unser Meeting und ich muss ein paar Zahlen vorlegen. Ich habe jede Menge Reports angefragt und die Kisten ordentlich durchgeknetet. Will ja nicht blöd dastehen bei meinem ersten Abteilungs-Meeting-Auftritt. Alle weiteren Details gibt’s nachher im Meeting.“
„Ach, Du warst das. Gut, passt! Ich geh jetzt duschen.“ Puh – das war knapp. Bei den beiden nächsten Kollegen, Herbert Huber und Bianca Cortini, war JP schon etwas schlauer. Den beiden erzählte er seine Meetingsvorbereitungsgeschichte gleich von sich aus. Bianca sah heute besonders entspannt aus, Herbert auch. JP war sich sicher, da lief was. Gehen immer zusammen und kommen zusammen. Na, wenn das nicht auffällt. Die beiden hatten bestimmt eine entspannte Nacht zusammen. Jedenfalls sahen sie emotional doch recht abgelenkt aus.
Franz Korber kam gerade zur Tür herein. „Moin Franz, ich bereite mich gerade für unser 10:30 Uhr Meeting vor und kratz mir einige Reports aus den Blechkisten. Wie ich von Basti höre, hast Du meine Beförderung schon verbreitet. Soll ich das Referat im Meeting übernehmen? Besondere Wünsche?“„Hey JP. Ja, Du bist offiziell announced. Deine Zugangscodes sind auch schon freigeschaltet. Ja, mach Du das Meeting und berichte von der Cebit. Magst `nen Kaffee?“ „Nee danke, habe schon genug für heute. Aber falls Du in die Kantine rüber gehst, noch eine Butterbrezen wäre furchtbar nett.“ „Okie Dokie.“, und weg war er. JP konnte sich nun wirklich seiner Vorbereitung auf das Meeting widmen.
Kurz vor dem Meeting: „JP, auf ein Wort.“ „Ja, Franz?“ „Was hast Du Dir da alles für Reports aus dem System gesaugt? Ich weiß, dass Du das Meeting gut machen willst und Dich vorbereitet hast, aber wozu um Himmelswillen brauchst Du Reports vom Fuhrparkmanagement, der Gebäudereinigung, Müllentsorgung, Urlaubsplanung und Meetingraumbelegung?“
Ups, bei den kleinen, unwichtigen Rand-Applikationen hatte der gute JP wohl ein bisschen geschludert und bei der Spurenverwischung gepennt. „Haha Franz – das habe ich mich auch schon die ganze Zeit gefragt! Ich würde sagen, hier hat ein ehemaliger Datenbankadministrator, der noch nicht gelernt hat, zwischen Datenquantität und Datenqualität zu unterscheiden, Masse mit Klasse verwechselt.“
„Hahaha, das ist gut! Du bist `ne Wucht. Masse statt Klasse. Tzzztzzz, das ist was fürs Meeting!“ Und so kam es. JPs Übereiferstory wurde zum Stimmungsbringer für das IT-Meeting und er musste sich die nächsten Tage alle möglichen Frotzeleien aller möglichen Kollegen von allen möglichen Abteilungen anhören. Diese kleine Episode machte schnell die Runde. Naja, wenn alle alles wissen, fällt nichts weiter auf.