Winter 1998
Dass er einer der 50 besten Hacker der Welt war, wusste damals niemand! Es wusste auch heute niemand. Damals machte er einfach viel „mit Computern rum“, das wussten alle, mehr nicht. „Keine Zugangsberechtigung.“ Ha! Wen interessierte das? Ganz im Gegenteil, gerade das war ja erst die Motivation. Rein, raus, und keiner wird es jemals rückverfolgen können. Unbedingt ein kleines Souvenir mitnehmen – als Beweis. Ein cooles Spiel. „Weltklasse Hacker“ – Derartiges würde niemals in einem seiner Lebensläufe stehen und seinen Künstlernamen „Crazy Charly“, dies war eine seiner Lieblings-Lachs-Fliegen, würden nur sehr wenige Menschen jemals mit dem Namen Giovanni Paul Davide Santa Cruz in Verbindung bringen. Aber dennoch war es Teil seiner Realität und seiner Vergangenheit und brachte ihn 1998 in große Schwierigkeiten. Heutzutage ginge das alles nicht mehr so einfach. Die Computerprogramme und die Schutzmechanismen sind inzwischen sehr viel ausgereifter und es ist sehr viel schwieriger auf elektronischem Wege irgendwo einzubrechen. Auch das Spurenverwischen ist heutzutage sehr viel komplizierter, dennoch ist alles möglich. Nur der Hacker muss eben besser und schneller sein.
Wenn damals nicht sein Vater, wie genau wusste JP immer noch nicht, rechtzeitig aktiv geworden wäre und sich massiv für ihn eingesetzt hätte, wäre er wahrscheinlich für 20 Jahre im Gefängnis gelandet. Und dieses geringe Strafmaß wäre auch nur angefallen wegen seines Jugend-Bonus‘. Er war damals ja noch nicht volljährig. „Scheiß Pentagon, erst bauen sie eine Firewall, die löchriger ist als ein Schweizer Käse und halten das Wort ‚Einladung‘ jedem Hacker, der etwas auf sich hält, vor die Nase, dann beschweren sie sich, wenn tatsächlich jemand durch die offene Türe herein spaziert, um im Kästchen der großen Geheimnisse ein bisschen rumzustöbern.“ Er hatte ihnen ja diese verdammten Abschuss-Codes der amerikanischen Cruise Missiles per Post zugeschickt. Er dachte ja auch nicht, dass dieser Post-Pony-Express fünf volle Tage für die Zustellung brauchte und in der Zwischenzeit ein paar tausend Leuten der „Arsch auf Grundeis ging“, sie kaum noch schlafen, essen oder mit ihrem Ehepartner Sex haben könnten. Höllenangst um den Job, die nationale Sicherheit und vor Krieg und Terrorismus. Er fand sich damals unglaublich cool! Der „coole Crazy Charly“ klaut sich ein paar Abschusscodes direkt aus dem Rechenzentrum des US-amerikanischen Pentagons. Direkt vor den Augen all dieser Wichtigtuer!
Crazy Charly, der Hacker aller Hacker! Er konnte den Druck des imaginären Lorbeerkranzes beinahe auf seinem Kopf spüren. Er würde eingehen ins Walhalla der Hacker! Die vom Pentagon fanden das allerdings ganz und gar nicht cool! So hielt der Triumph von Crazy Charly nur kurz, sehr kurz! Alle Zeitungen waren damals voll davon. Wahrscheinlich hatte JP alle amerikanischen Sheriffs, FBI und CIA etc., aber zum Glück „nur“ diese, hinter sich her. Dem Mossad wäre er nicht entwischt. Der war viel kleiner und damit wohl auch schlagkräftiger. Aber egal, er kam davon, wenn auch gerade mal so.
Er war zu Besuch bei Tante Anna Maria Katarina in Philadelphia. Seine Tante machte mit ihm einen Ausflug ins Pentagon. Tante Anna Maria Katarina wollte ihn mit der Größe dieses Gebäudes und mit den enormen Sicherheitsmaßnahmen beeindrucken. Der Stolz der Vereinigten Staaten von Amerika. „Das Pentagon ist eines der größten Gebäude der Welt und so sicher, da kommt nicht mal eine Maus an der Sicherheitskontrolle vorbei.“ Falsche Ansage: Dies war eine unmissverständliche Einladung an Crazy Charly, den größten Hacker aller Zeiten! JP knackte binnen weniger Tage alle Firewalls, Zugangscodes und Sicherheitsmechanismen und besorgte sich „rein zum Spaß“ und als Beweis für seinen „Besuch“ die Abschusscodes von gut fünfzig Cruise Missiles. Diese druckte er aus und verschickte sie per Post, gleich direkt an „den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika“, der sollte ja zumindest wissen, wie schlampig seine teuer bezahlten Jungs und Sicherheitsexperten im Pentagon waren. Fairness halber, damit die schlampigen Jungs zumindest ein bisschen aufräumen und sich für den großen Anschiss Ausreden ausdenken konnten, schickte er per E-Mail (das hatten die Militärs damals schon..), umgeleitet über diverse Router, jeweils ein paar der Abschusscodes an verschiedene Generäle von Luftwaffe, Army und Navy.
Der Schuss ging dann für JP gewaltig nach hinten los! Hätte er nicht so viele Leute von seinem „Einbruch“ informiert, hätten die allesamt gar nicht gewusst, dass er jemals in den Computern und Rechenzentren des „heiligen“ Pentagons herumgestöbert und sich bedient hatte. Aber, wenn´s keiner weiß, wer sollte einem dann Anerkennung geben? Und ein Hacker braucht Anerkennung.
Naja, der Diplomat Dr. Davide Santa Cruz, sein Papa, musste sich massiv einbringen und wahrscheinlich nur durch seine Diplomaten-Verbindungen und viele, viele Gefälligkeiten an maßgeblicher Stelle, konnte er den Popo seines Ältesten buchstäblich in letzter Sekunde außer Landes schaffen.
Reiseziel Argentinien, Pampas, Nahe am Rio Grande. Dort, wo Dr. Davide seinen Sohn JP hinschaffte, das war wirklich mitten in der Pampas und genau da, wo wirklich NIEMAND freiwillig lebte und auch niemand freiwillig hin wollte. Sancho Guterez, eine treue Seele in Diensten der argentinischen Linie des Santa Cruz Clans, brachte ihn und die Packtiere mit dem Proviant in eine zugige Hütte und verabschiedete sich sogleich wieder.
Zuerst fand JP es ganz toll, die nächsten sechs Monate ausschließlich lange schlafen, lesen, herumreiten und ein bisschen Fliegenfischen zu „müssen“, MEGACOOL. Eigentlich eine „geile Belohnung“ und ein cooler Urlaub.
Aber: „Kein Strom, kein Telefon, kein Laptop und KEIN Besuch. Comprendes? Abtauchen, nicht auffallen und beten, dass Gras drüber wächst!“ sagte Dr. Davide mit finsterem Blick zu JP. Schon nach zwei Tagen fand JP seinen Aufenthalt scheiße! Nach vier Tagen mega ätzend! Und dann, bis knapp vor Ende seiner Quarantäne furchtbarunerträglichselbstmordverdächtig – oder die Steigerung davon!
Erst die letzten fünf Tage, bevor Sancho ihn abholen kam, war er mit sich und der Welt halbwegs versöhnt und wirklich so etwas wie glücklich.
Er war tatsächlich ganz alleine in seiner zugigen Hirtenhütte. Die ganzen sechs Monate! Keine Menschenseele für 189 Tage! Und er war erst 17 Jahre alt. Er war vorher niemals länger als 24 Stunden alleine gewesen.
JP war unglaublich einsam! Seinen achtzehnten Geburtstag feierte er ganz alleine mit seinem Pferd, seiner Winchester und ein paar Rindern und Emus, die, einsam wie er, durch die Pampas streiften.
Nach etwas mehr als einem Monat ging ihm sein Sechsmonatsproviant schön langsam aus. Er war es einfach nicht gewohnt, sich irgendetwas einzuteilen, der Kühlschrank zu Hause war immer voll und hier hatte er ja nichts zu tun, als ständig zu essen. Er war bis jetzt ein sehr verwöhnter Junge. Musste nie mit den Händen arbeiten, im Haushalt war immer Personal dafür da und er konnte an seinem Computer spielen, solange und so oft er wollte. Lernen fiel ihm leicht, das war immer einfach. So etwas wie Hunger kannte er nicht. Bisher.
Pampas-Grassuppe war ganz und gar nicht lecker! Und jeden Tag Fisch war langweilig. Also kam schon mal ein Emu-Ei in die Pfanne, aber die Eier waren sehr schwer zu finden und wurden von dem männlichen Riesenvogel massiv verteidigt und bewacht. Wenn der Hahn auf dem Nest saß, war es absolut tabu für JP, auch nur in die Nähe zu reiten. Deshalb musste die eine oder andere Kuh sich schon mal unfreiwillig als Steak zur Verfügung stellen. Mit Emufleisch versuchte JP es auch einmal, dann aber nie wieder. Das verletzte Tier hatte ihm einen derartigen Tritt verpasst, dass er tagelange taub auf dem rechten Bein war und wochenlang einen riesigen Bluterguss hatte. Und das Rupfen etc. war einfach widerlich. Jedenfalls hatte JP vor Emus nun großen Respekt und näher als 20 m würde er sich diesem Vogel nicht mehr freiwillig nähern!
Kaninchen standen auch schon mal auf dem Speiseplan, aber JP war ein miserabler Schütze und wollte nicht auch noch seine wenige Munition vergeuden und verballern. Fallenstellen konnte er nicht.
Ein Pampas-Rind traf man da schon leichter! Die Viecher waren zutraulich und ließen ihn ganz nahe ran. Wenngleich das Zerlegen von so einem großen Tier eine Riesensauerei ergab. Vor allem für jemanden, der so etwas vorher noch nie im Leben gemacht hatte. JP hatte auch keinerlei Ahnung, welches Fleischstück wie schmeckte und sich zum Grillen oder zum Braten eignete. Er kannte Steaks nur fertig verpackt und beschriftet aus dem Supermarkt oder fertig zubereitet im Restaurant oder von seiner Mutter oder der Haushälterin. Weiters war eine Aufbewahrung ohne Kühlschrank, von so viel Fleisch ein großes Problem. Und so verdarb ihm oft mehr, als er innerhalb einer guten Woche essen konnte. Er versuchte es mit Räuchern, aber das gelang ihm eigentlich gar nicht und das zähe Fleisch wäre nicht mal mehr von einem hungrigen Kojoten gefressen worden.
Jedenfalls hatte JP viel, viel Zeit zum Nachdenken. Es war hart, aber lehrreich! Von da an war es jedenfalls MEGA-OUT, sich irgendwo einzuhacken und die Laufbahn von Crazy Charly war damit nicht nur emotional beendet, denn er verschwand vollkommen aus der Hackerszene.
Wie sagte sein Vater nach den sechs Monaten: „Mein Sohn ging als Kind und kam als Mann zurück.“ Ja, das traf den Nagel auf den Kopf! Nach diesen sechs Monaten alleine in Argentinien war er wirklich ein „Hombre“! Unrasiert, schlecht gewaschen, muskulös und fast wild. Nicht nur körperlich, auch geistig gereift! Auf dem Weg zurück zur „Familia“ hatte Sancho Guterez ihm gestanden, dass er nur ca. 15 Meilen entfernt gewohnt und ihn jeden zweiten Tag mit dem Fernglas heimlich beobachtet hatte. „El Senior“ hat das so befohlen. „Y absolutamente no contado – keinerlei Kontakt!“ Aber Sancho hatte sehr wohl gesehen: „Muchacho hat vier Rinder massakriert. Familia muss dafür bezahlen.“
Scheißkerl! Wenn er wenigstens mal zum gemeinsamen Essen rübergekommen wäre!