Samstag, 15. Mai, München, Krankenhaus Schwabing

 

Das Highlight des heutigen Morgen war gleich doppelter Art: Hauptkommissar Holzner hatte doch tatsächlich eine große Menge frische Münchner Weißwürste, Händlmaiers Originalsenf, knusprige Brezen und eine Kiste Augustiner Bier für alle diensthabenden Polizisten und JP mitgebracht und...... Dr. Gabriela Gruber hatte wieder Dienst....

Aber schön der Reihe nach: JP hörte in seinem Krankenzimmer, lange bevor er wusste was los ist, ein vielstimmiges und freudiges „Aaahhh, oohhh, mmmhh, daaanke Holzner“ usw. von den Nachbarzimmern. Und das schon um 6:55 Uhr, wo er noch gar nicht recht wach war. Dann kam Holzner freudestrahlend und fast schon unanständig gut gelaunt in JPs Zimmer und meinte: „Einen wunderschönen guten Morgen, Sie Langschläfer. Es scheint die Sonne, es ist wunderbar warm draußen und es ist Wochenende. Ich habe Frühstück für alle mitgebracht! Weißwurst, Brezen und dazua a holbe Augustiner Bier – um Punkt 8:00 Uhr drüben in Raum 12! Sehen`s zua, dass donn fertig san, bei Weißwurscht gibt’s koane Freind. Wer z`erst kummt, kriagt wos, wer z`spät kummt, geht leer aus. So, i muaß jetzt a Mikrowelle fürs Wasser kochen suacha.“ „Holzner, um 8:00 trinkt man doch kein Bier“, meinte JP amüsiert. „Sie vielleicht ned, wir scho! Bier is in Bayern ein Nahrungsmittel! Und Nahrung kann man zu jeder Tageszeit zu sich nehmen“, entgegnete Holzner. „Aber die Vorschriften, Alkohol bei der Arbeit und so …“ „Papperlapapp, Santa Cruz! Es ist Wochenende! Und wenn wir schon arbeiten müssen, dann können wir es doch wenigstens mit einer g´scheidn Brotzeit tun!“

Holzner zwirbelte vergnügt an seinem riesigen Schnurrbart und setzte seine Suche nach der Mikrowelle fort. JP hörte ihn noch kurz auf dem Flur. „Ah, die Frau Dr. Gruber, einen guten Morgen! Sie haben ja schon wieder Wochenenddienst. Na, dann bauen Sie mal bitte schön unseren Lieblingspatienten auf, er muss heute noch fleißig arbeiten und hat Sie die letzten beiden Tage ohnehin schon schwer vermisst. Ach, noch was, Frau Doktor, wir machen um 8:00 Uhr ein Weißwurst-Frühstück in Raum 12. Sie und Schwester Angelika sind herzlich dazu eingeladen. Bis dahaaan.“

JP war nun gewappnet. „Herr Santa Cruz, ich höre, Sie haben mich vermisst?“, begrüßte Dr. Gruber ihren Patienten und lächelte freundlich. „Ja, Frau Dr. Gruber, das habe ich in der Tat! Sehr sogar! Ich hoffe, dass Sie jetzt nicht meine Herztöne abhören oder meine Temperatur messen wollen. Meine Werte wären durch Ihre Anwesenheit an der oberen Belastungsgrenze.“ Dr. Gruber schmunzelte, blieb aber professionell auf Distanz, wie immer.... „Auch ich muss mal ein bisschen ausspannen, Herr Santa Cruz, und mal frei haben. Diese beiden Tage haben mir gut getan! Wir, eine Freundin und ich, haben eine Bergtour bei Garmisch Partenkirchen gemacht – auf den Wank – es war herrlich!“ „Das glaube ich Ihnen wohl. Ich kenne den Wank, ein strammer Aufstieg. Meine Tour damals hat so sechs Stunden gedauert, wenn ich mich nicht irre“, entgegnete JP. „Ja, das kann schon hinkommen, wenn man den großen Rundweg macht. Wenn man oben auf dem Gipfel ist, sieht man alles sehr viel klarer! Man geht mit Sorgen auf den Berg und kommt ohne wieder runter ins Tal. So geht´s mir zumindest.“ „Dem kann ich mich nur anschließen, Dr. Gruber, das ist auch immer mein Spruch... Bergwandern ist eine wunderbare Therapie gegen trübe oder triste Gedanken! Wie ich sehe, haben Sie eine sehr gute Farbe bekommen! Die Sommersprossen stehen Ihnen gut!“ „Ach was, ich hasse meine vielen Sommersprossen! Meine Arme sind auch ganz braun, aber nur bis hier“, dabei deutete Dr. Gruber bis zur Mitte ihres Oberarmes. „Furchtbar, ich sehe aus wie ein Bauarbeiter!“ JP lachte: „Ich habe schon einige Bauarbeiter gesehen, aber noch niemals einen auch nur annähernd so hübschen wie Sie, Frau Doktor.“

Dr. Grubers Sommersprossen auf der Nase wechselten von zart braun augenblicklich zu zart rosa. „Sie sind ein Charmeur, Santa Cruz“, bemerkte sie, während sie eingehend das Krankenblatt studierte. „Nein, da kann ich Ihnen nicht ganz recht geben, Dr. Gabriela. Charmeure schwindeln um des Effektes willen. Ich schwindle nicht, was uns beide angeht. Ich will immer ehrlich zu Ihnen sein, sage was ich sehe und was ich für Sie empfinde“, entgegnete JP mit fester Stimme. Die Sommersprossen leuchteten inzwischen in dem hübschen Gesicht wie die Punkte auf einem Marienkäfer. „Ich fasse es nicht, Sie tun´s ja schon wieder, Herr Santa Cruz. Sie legen es darauf an.“ Dr. Gruber war auf dem Weg nach draußen. „Nein, nein, Dr. Gabriela, ich tue gar nichts. Unbewusste Körpersprache ist eine sehr mächtige Sprache! Ihr Körper zeigt Gefühle viel ehrlicher als es Ihr Verstand zulassen will.“ Dr. Gruber blieb abrupt stehen. „Sie wollen sagen, ich laufe nur deshalb rot an, weil mein Körper meine Gefühle zeigt – wollen Sie das damit sagen, Herr Patient?“ „Nicht im Allgemeinen, aber in meinem speziellen Fall – ja und absolut.“ „Ach, Sie sind jetzt auch noch Psychologe, oder was? Ich muss jetzt weiter, dies ist nicht der Ort für solche Diskussionen.“ „Nein, nein Dr. Gabriela, Psychologe und einfacher Beobachter von physiologischen Veränderungen, wie Steigerung der Durchblutung im Gesicht, das liegt sehr weit auseinander....“

JP war nicht unzufrieden mit sich und dem Fortgang der Dinge. Er hatte ins Schwarze getroffen und musste es ihr einfach bewusst machen. Dr. Gruber war einfach herzallerliebst, wenn sie sich so aufregte.... Diese Grund-Ernsthaftigkeit und fast schon beinahe Verbissenheit gegenüber der professionellen Verpflichtung ihres Berufes stichelte JP förmlich an. Inzwischen war er war wirklich an dieser tollen Frau interessiert. Sehr sogar! Aus seinem anfänglichen Spiel war nun, zumindest für ihn, ernst geworden. JP empfand große Freude daran, sich eine gemeinsame Zukunft mit Dr. Gruber vorzustellen.

Um Punkt 8.00 Uhr trafen sich alle diensthabenden Polizisten, Pfleger, Krankenschwestern, JP und Dr. Gruber in Raum 12 und es wurde ausgiebig auf bayerisch gefrühstückt. Die ganze Kiste Bier wurde leer getrunken.

Es war einfach wunderbar!

 

***

 

„Doc“ saß an dem großen Schreibtisch und grübelte. Der Termin mit dem IT-Consultant Herrn Alfons war ernüchternd. Die gute Ausbildung bei der Staatssicherheit hatte „Doc“ trainiert, auf jegliche Signale sensibel zu reagieren. Und diese Signale, außerhalb der Norm, waren für „Doc“ eindeutig, alle Alarmzeichen auf rot: Ein schwer verletzter, bis vor kurzem im Koma liegender Mitarbeiter aus der IT-Abteilung, die Nr. 2 im Hause, Herr Santa Cruz, besuchte regelmäßig seinen Malinger E-Mail-Account, las seine E-Mails und markierte sie dann wieder als „noch nicht bearbeitet“. Jemand nutzte die Zugriffsrechte dieses schwer verletzten Mitarbeiters und durchforstete über das Virtual Private Network von außen kommend regelmäßig die IT-Systeme der Malinger Autoteile. Welche Ebenen durchforstet wurden, würde die Überwachung der nächsten Tage zeigen. Es wurde eine professionelle Spyware auf dem Großrechner entdeckt, deren Einsatz in Deutschland illegal war und die jeden Arbeitsplatz völlig transparent machen konnte.

„Doc“ reflektierte das Gespräch mit Herrn Alfons. „Herr Alfons, kann Ihr Herr Navratil den Einbrecher in unsere IT eindeutig identifizieren? Anscheinend benutzt er die Passworte und Zugangsberechtigungen von unserem zukünftigen IT-Leiter, Herrn Santa Cruz. Aber dieser Mann lag bis gestern im Koma – er war eines der schwer verletzten Opfer der Explosion.“ „Hören Sie, Doktor, meine Leute sind Consultants für Systembetreuung, Wartung, Tuning kleinerer Programmierungen usw. für industrielle Kunden. Wir sind keine IT-Detektive und wir haben auch gar nicht die notwendige Software für sowas. Diese Spyware, die Sie da auf einem der großen Rechner haben, die könnten wir gar nicht mal kaufen oder bedienen. Das ist Profiware, vielleicht für Geheimdienste oder so. Für diese Überwachung oder gar Überführung eines Täters bräuchten wir noch ganz spezielle Softwareprogramme. Es ist nicht einfach, einen elektronischen Einbrecher zurückzuverfolgen und womöglich seinen Standort ausfindig zu machen. Da müssten Sie auch eine ordentliche Stange Geld in die Hand nehmen, das Zeug ist sehr gut und sehr teuer, ganz abgesehen davon, dass Sie uns 24 Stunden, sieben Tage die Woche bezahlen müssten.

Herr Navratil kann feststellen, wann von außen eingebrochen wird und vielleicht, welche Daten den Einbrecher interessieren, aber das war´s dann schon. Ich kann mich vielleicht mal schlau machen, ob wir jemanden empfehlen können. Sie haben doch auch irgendeine Firma im Ausland, die für Sie sehr gute Programmierungen macht, war das nicht Zypern, oder so? Diese Programmierer-Spezialisten sind häufig sehr gut international vernetzt und ... äh, in anderen Ländern ... äh ... ist derartige Software manchmal einfacher zu beschaffen, aber mehr kann ich Ihnen im Moment nicht anbieten.“

„Doc“ war immer schon extrem vorsichtig gewesen. Jetzt aber erst recht! Am Montag würde die Malinger Geschäftsführung zu informieren sein, es konnte nicht schaden, ihre Gesichter zu sehen und vielleicht Hinweise auf eine Mittäterschaft zu erhalten. Vielleicht hatte der Hacker ja einen Auftraggeber in der Geschäftsleitung. Aber in der Zwischenzeit mussten dringend zwei Telefonate geführt werden: Der Russe Victor sollte sofort aus dem Urlaub zurückkommen und diskret den Gesundheitszustand und Aufenthaltsort von Santa Cruz ermitteln.

Die Firma Lucky Eagle Ltd . in Zypern sollte sich sogleich um die Beschaffung geeigneter Software für das Verfolgen einer elektronischen Spur kümmern.

 

***

 

Queremos hablar.“ (Wir müssen reden.) Die SMS auf JPs iPhone piepte. Aha, Cousin Mosche Heiligenschein wollte etwas loswerden. Wahrscheinlich war er wieder mit einem Sicherheitslevel von Franz Korbers Dateien vom spanischen Rechenzentrum weiter. Gespannt schickte JP seine Antwort: „OK, ahora es bien.“ (Ok, jetzt passt es.) JP hatte tatsächlich inzwischen eine neue SIM-Card von der Polizei bekommen und Mosche rief sofort auf dieser Nummer an.

Haha, ui, crazzy, tzzz, puhhh, incredible, hahah, you won´t believe this, hahah“, schallte es lautstark in JPs Ohr. JP wusste gar nicht was los war, bis Mosche sich endlich von seinem albernen Gegackere beruhigt hatte und ihm Bericht erstatten konnte: Ein Doktor Andreas Hildebrandt von der Firma Malinger hatte bei Mosche angerufen und ihm mitgeteilt, dass wohl „ein externer Hacker in die Malinger IT-Systeme eingebrochen sei, dort Dateien durchstöberte und die E-Mails eines Mitarbeiters aus der IT-Abteilung, der allerdings schwer verwundet im Krankenhaus liege, durchsucht. All dies geschehe unter Nutzung der Zugangsdaten und –rechte eben dieses verwundeten Mitarbeiters.

Ob Mosche Heiligenschein mit seinen internationalen Kontakten wohl vielleicht eine spezielle Tracer Software besorgen könnte, die den Täter entlarven und eventuell unschädlich machen würde?“

So etwas nannte man schlicht, den Bock zum Gärtner machen. JP erkannte durchaus den spaßigen Ansatz dieser Situation, überlegte aber sofort, wie man aus dem Schlamassel, „aufgeflogen“ zu sein, noch das Beste machen könnte. Er und Mosche hatten grobe Fehler gemacht. Diese galt es nun für sich zu nutzen.

Er war ein Idiot gewesen, immer mal wieder seine Mails bei Malinger zu durchforsten. Warum wollte er verdeckt helfen und den guten Engel im Hintergrund und den Kollegen „kleine Wunder“ ermöglichen.... War dies reine Eitelkeit?! Oder Pflichtbewusstsein? Egal. Klar war, dass Derartiges irgendwann auffallen musste!

Dennoch gab JP sofort klare Anweisungen an seinen Cousin Mosche. Schadensbegrenzung: „Mosche, hör mir jetzt zu. Wir sind aufgeflogen, aber wir machen das jetzt wie folgt: Sag Dr. Hildebrandt folgendes:

1. Er soll meine Zugangsdaten nicht sperren lassen, sonst findet er den Einbrecher niemals – reinlassen, verfolgen, aufspüren, zuschlagen ... OK?

2. Du kannst ihm diese Software besorgen, sie aber aus polizeitechnischen Gründen nur auf Deinem Server in Zypern installieren. Diese Aktion ist illegal – mach‘ dem Doc das klar! Doc soll Dir offiziell einen VPN-Zugang auf die Malinger-Systeme einrichten und Du überwachst diese Einbrüche dieses Hackers, der sich „meiner Codes bedient“, 24 Stunden und sieben Tage. ABER: nur vom Ausland aus!

3. Dann überlege Dir zusammen mit FATBOY, wie Ihr eine falsche Spur für Dr. Hildebrandt und seine Leute legen könnt. Mein Name muss wieder reingewaschen werden. Kein Verdacht darf an mir haften bleiben, ich will ja wieder bei Malinger Autoteile arbeiten! Verstehst Du? Ja, Hildebrandt wird sogar definitiv noch andere Leute auf dieselbe Sache ansetzen – schicke sie alle ins Nirwana oder führe sie in einen Irrgarten.

4. Sei zukünftig sehr, sehr vorsichtig mit dem, was Du tust – ich wähle mich heute noch ein und vergebe Dir Zugriffsrechte eines anderen Mitarbeiters – muss jemanden finden, der nicht auffällt. Du und ich wir müssen unsere Spuren ab sofort sehr viel besser verwischen. Ist das klar?

5. Wegen der Verhaftung müssen wir ab sofort einen Zahn zulegen. Es wird immer gefährlicher, dass die Gauner was spitz bekommen und abhauen. Wir sollten spätestens am Freitag nächster Woche alle Beweise für eine Verhaftung fertig haben.

6. Als Tagessatz für deine Überwachungsleistungen inklusive Software nimmst du 5.000,- US-Dollar. Erst mal sechs Tage als Vorschuss. Keine Rechnung! Das sind 30.000,- US-Dollar, das wird Hildebrandt akzeptieren. Hoffentlich zahlt er es aus seiner Privatschatulle. Dann merkt es sonst keiner und wir können noch weiter ermitteln. FATBOY gibst du von diesem neuen Projekt ein Drittel, also 10.000,-. Das ist fair und er hat sich diese Prämie wirklich verdient. Und handle ihn nicht runter. Gib ihm dieses Drittel, OK?!

Gut so machen wir das. Übrigens, Mosche, und wie sieht es mit meinen zwei fehlenden Dossiers aus? ...Eines noch heute am Nachmittag klingt gut! Und das Knacken von den Dateien von Franz Korber, gut, dann bist Du da Anfang nächster Woche vielleicht auch durch. Noch was: Finde bitte heraus, was Angus McGregor nun macht, ihr habt ja den Zugang über sein privates Notebook. Wo ist er, was tut er für das Syndikat? Also, bis später mein Lieber!“

Es tat irgendwie gut , Geld zu verdienen, ohne aufstehen zu müssen....

 

***

 

Victor Ivan lag am Pool in der Sonne. Obwohl er blond war, konnte er die pralle Sonne gut vertragen und bekam nur selten einen Sonnenbrand. Jedenfalls war dies viel besser als Regen und kaltes Wetter. Aber ihm war langweilig! Es war im Moment nichts los auf Gran Canaria und er hatte sich diesmal im Hotel vergriffen. Aufgrund seiner sehr guten Einnahmen vor dem Urlaub hatte er sich für ein ausgesprochen teures, sehr nobles Hotel entschieden. Aber dieses piekfeine Gehabe des Personals und der wenigen viel älteren Gäste sowie dieser Kleiderzwang – Anzug und Krawatte –, das war einfach nicht sein Ding! Sein Handy zeigt den Eingang einer SMS. „Interesse an Falken? Mind. 4. Sofort. “ Überraschung! Victor hatte nicht gedacht, von „Doc“ so schnell wieder etwas zu hören.

Nach dem Drama bei dem Rechenzentrum und Victors Nachforderung von weiteren 100.000 dachte er, die Geschäftsbeziehung sein nun beendet oder zumindest für ein paar Monate eingefroren. „Doc“ war damals außer sich vor Wut, da Victor ihn identifiziert, bei seiner privaten Nummer angerufen, ihn zu Hause aufgesucht und eine derartige Sauerei und Schaden im Rechenzentrum angerichtet hatte.

Victor hatte ihm ruhig und professionell die Gründe für sein Handeln erklärt und dann auch sofort die 100.000,- Euro in cash bekommen. Nun gut, anscheinend war „Doc“ eben auch Profi und nicht weiter verärgert. Jedenfalls hatte „Doc“ nun diesen Überwachungsjob – „Falke“ stand für überwachen, ausspähen, die Zahl vier für die Anzahl der Tage – anzubieten. So tippte Victor Ivan in sein Handy: „Ja, interessiert. Kann ab Montag. Wo?“ Ein paar Minuten später kam der Anruf mit den Anweisungen. „Doc“ rief wieder von seinem privaten Festnetz an. Diese Heimlichtuerei schien nun nicht mehr nötig, zumal man gegenseitig wusste, wer man war.

Dieser Job war ein guter Grund, den vorzeitigen Rückflug zu buchen und aus dem piekfeinen Hotel auszuchecken.

 

***

 

Diese Lektüre fiel nicht in die Kategorie „Gute-Nacht-Geschichten“. Dazu war sie viel zu spannend und JP viel zu neugierig, um irgendwann das Licht ausschalten oder darüber einschlafen zu können. Es war dies das Dossier von Dr. Elisabeth Drager, konzernweite Personalchefin bei Malinger Autoteile GmbH, interessant als Frau, interessant als Chefin und vor allem interessant als Verdächtige. 329 Seiten Analyse. FATBOY und Mischa hatten sich gegenseitig in einen Recherche-Rausch gesteigert und sich übertroffen. Ihre Schnüffelnasen förderten wirklich alles zutage, das über jemanden elektronisch ermittelbar war.

Beispielsweise hatte JP keine Ahnung von der verwandtschaftlichen Beziehung von Dr. Elisabeth Drager zu Joseph Malinger. Joseph Malinger war ihr Onkel mütterlicherseits und wohl über Jahre ihr Mäzen im Hintergrund mit regelmäßigen finanziellen Zuwendungen an seine Schwester, Dr. Dragers Mutter. Seine regelmäßigen Überweisungen bezeichnete er immer noch als „Ausbildungszuschuss Elisabeth“. Besitzverhältnisse: normal bis gut situiert, große, abbezahlte Eigentumswohnung in einer Villa im Stadteil Nymphenburg, drei kleine, vermietete Wohnungen als Wertanlage, Geldmittel bei der Bank: keine, 27.000,- Euro und 4.530,- US-Dollar. Diverse Aktien über ca. 119.000,- Euro.

Holzner und die restliche Polizei verdächtigten auch und besonders Dr. Drager, das Gehirn des Syndikates zu sein. JP eigentlich nicht. War es der männliche Trieb in ihm, der diese Möglichkeit nicht wahrhaben wollte?? Beweise für eine mögliche Unschuld hatte er bisher keine. Es war nur so ein Gefühl...

Aber nun glaubte er es zu wissen: Die Finanzlage von Dr. Drager entlastete sie – sie hatte viel zu wenig Geld und viel zu wenig Besitz. JP war für sich froh, nicht Millionenbeträge auf Dr. Dragers Konten gefunden zu haben. Sein Bauch hätte sich ja auch täuschen können...

Oder war Dr. Drager einfach viel vorsichtiger und schlauer als alle anderen? Hatten FATBOY und Mosche wirklich ALLE Vermögenswerte gefunden?? Auch die auf Auslandsbanken – vielleicht auf den Caymans?

Es war interessant zu erfahren, dass Dr. Drager in jungen Mädchenjahren wohl brutal von einem Sohn Joseph Malingers vergewaltigt und misshandelt worden war. Ein gewisser Andreas Malinger, der nun seit über 25 Jahren in Neuseeland eine große Schaffarm bewirtschaftete. In diesem Zusammenhang hatte FATBOY einen Artikel einer Neuseeländischen Zeitung ausgegraben, wo von einem Überfall, vor etwa 7 Jahren, auf einen Andreas Malinger berichtet wurde. Mit anschließender, brutaler Kastration!! FATBOYs Anmerkung zu diesem Artikel war nur: ??Elisabeth??

Anscheinend gab es zu keinem Zeitpunkt einen Mann an der Seite von Dr. Drager. Dafür aber einige, sehr eindeutige Beweise auf einschlägigen Lesben-Websites. Na sowas: Sie war „andersrum“ – was für eine Enttäuschung für JP, den gedanklichen Möchtegern-Liebhaber...

Dr. Drager wuchs in der DDR bei ihren Eltern auf. Ihr Vater war ein mittlerweile pensionierter General, die Mutter Hausfrau. Dr. Drager schlug noch in der DDR eine militärische Laufbahn ein und absolvierte dort ihr Studium mit Auszeichnung. Bis zum Jahr der Wiedervereinigung war sie bei der DDR Staatssicherheit, der Stasi, in einer Stabsstelle und bekleidete immerhin den Rang eines Oberst.

Nun kam der pikante Teil: Bei der Stasi arbeitete sie direkt mit Oberleutnant Hans-Joachim Fuchs, dem derzeitigen Wirtschaftsprüfer aus Berlin, zusammen.

Und noch eine Besonderheit um die Person Dr. Drager kam zutage, sie war auch verwandt mit Dr. Andreas Hildebrandt, dem Geschäftsführer für Verwaltung und IT bei Malinger Autoteile GmbH & Co. KG.

Dr. Hildebrandt war Ihr Cousin. JP hätte schwören können, dass sich Dr. Drager und Dr. Hildebrandt immer Siezten.

Verzwickt und zugenäht! Was für ein Sumpf der alten Seilschaften. Für JP brach soeben eine emotionale Welt zusammen – diese Verwicklungen und Verstrickungen von Dr. Drager machten ihre Mittäterschaft für JP nun wieder völlig unklar. Irgendwie hing sie vielleicht doch mit drin, aber wie tief, das konnte er im Moment nicht einschätzen. Nicht mehr! Ganz persönlich hätte er lieber ein anderes Analyseergebnis vor sich liegen gehabt.

So gerne er dem Hauptgeschäftsführer Dr. Willibald Bucher eine Mittäterschaft nachgewiesen und angehängt hätte, so gerne hätte er für Dr. Drager eine einwandfreie Entlastung gefunden. Nun war gar nichts mehr einwandfrei! Er mochte diese Frau! Zumindest die, die er kannte. Aber: Persönliche Sympathien hatten nichts in einer Ermittlung zu suchen!

Es war schon spät nachts, als JP eine Mail bekam. Sie war von seinem Vater Davide. Eine sehr persönliche Mail. Vater Davide hatte sich in Buenos Aires wieder gut eingelebt und ein sehr schönes Haus auf einem kleinen Hügel mit herrlichem Ausblick für sich und JPs Mutter gefunden. Sie sollte bald aus Madrid übersiedeln. Er vermisste seine Kinder sehr und hoffe, dass es JP mittlerweile wieder besser ginge. Dann verwies er noch auf ein Familientreffen diesen Sommer in Prag und hoffte, seinem Sohn dann diese wunderschöne, gut restaurierte Stadt zeigen zu können. Die Einladung zu dem Popkonzert müsste man auf ein andermal verschieben. Bussi, etc. etc.

In Spanisch geschrieben war dies alles sehr freundschaftlich und liebevoll zu lesen. JP war beruhigt. Was ihm sein Vater hier wirklich mitteilen wollte, war etwas ganz anderes: „Habe eine solide Basis mit weitreichenden Möglichkeiten. Aktion in Prag ist abgeschlossen. Popolowsky ist nicht mehr im Spiel, die Familie somit in Sicherheit.“

Beruhigend zu wissen, aber schlafen konnte JP dennoch nicht. Irgendwie musste Vater Davide noch Sorge haben, dass JPs E-Mails abgefangen und von Dritten gelesen wurden, sonst hätte er alles sehr viel deutlicher formuliert. JP fing sofort an, sein Notebook und auch sein iPhone nach versteckten, feindlichen Spy-Programmen zu durchsuchen. Er fand tatsächlich wieder einen Trojaner und ein ImageCopy-Programm, die er sofort vernichtete. Ansonsten schien seine Firewall auf dem Notebook gut standzuhalten. Aber das Abfangen seiner Mails konnte auch auf Internet-Provider-Ebene oder sonst wo innerhalb der Verbindungen zwischen den Servern erfolgen.... Das war kaum einzudämmen, solange er immer denselben Festnetz-Zugang und Provider benutzte.

Aber alle seine von ihm versendeten Nachrichten waren inzwischen derart verschlüsselt, dass man sie als gut gesichert bezeichnen konnte. Aber 100% sicher gab es bei elektronischen Informationen niemals. Es gab immer irgendeinen „FATBOY“, der mit der Zeit jede Verschlüsselung und jeden Code knacken konnte. Telefongespräche von einem handelsüblichen Handy konnte man ohnehin kaum absichern – egal ob drahtlos oder Festnetz. Das erforderte ganz spezielle Telefone und Software. Die Software hatte sich Mischa Heiligenschein schon für JP besorgt, aber das Telefon war normale Handelsware. Zumal JPs Telefonnummer wahrscheinlich bekannt war, konnten Spezialisten mit der entsprechenden Ausrüstung durchaus jedes seiner Telefongespräche mitschneiden. Insofern war die neue SIM Card der Münchner Kripo sinnvoll und doppelt hilfreich.

Vielleicht war das auch alles paranoid. Aber Vorsicht ist nun mal die Mutter aller Porzellankisten!

Ohne Skrupel
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