18. März 2010, München
Endlich bzw. „leider“ ein Abend ganz ohne Programm: Das Fernsehprogramm war grottenschlecht, kein Badminton mit den Kumpels, keine Verwandten und Bekannten, die etwas gemeinsam unternehmen wollten. Tina hatte keine Zeit, Sandy, die Stewardess, war nicht in der Stadt, Julietta war total sauer auf JP und mied ihn (zu Recht) und Felicitas war weit weg, in Paris und gerade mal mit ihrem Mann versöhnt.
JP hatte schon gegessen, er hatte keine Lust zum Telefonieren, kannte schon fast alle neuen Kinofilme. Selbst bei größter Anstrengung konnte er keinerlei sinnvolle Beschäftigung für diesen Abend finden. Da fiel sein Blick auf seinen Arbeitsplatz zu Hause und auf seine zwei verschiedenen Rechner und die ausgeschalteten Bildschirme. Na gut, dann eben Datenanalyse. Was für ein beschissener Abend, wenn gar nichts anderes übrig blieb als das, wozu er am allerwenigsten Lust hatte: Datenanalyse! JP war im Moment nicht sonderlich motiviert und schimpfte mit sich selbst. Also begann er langsam mit der Suche nach Dingen, die er gar nicht recht wissen wollte und vor denen er sich seit geraumer Zeit erfolgreich drückte. Er begann mit der Analyse seiner gehorteten Daten über die Geschäfte innerhalb der Firma Malinger und Töchterunternhmen.
Zweck der Übung: unbekannt
Ziel der Übung: unbekannt
Erwartungen an die Übung: unbekannt
Motivation für die Übung: absolut KEINE
Spaß an der Übung: sehr, sehr fraglich ...
Na Bravo! Ganz pragmatisch betrachtet hatte JP die besten Voraussetzungen, seinen „langweiligen Abend ohne Programm“ in einen „total vergeudeten, langweiligen Abend ohne Programm“ zu verwandeln. Das war genau gegen seinen Geschmack und erfüllte seine persönliche Definition eines sinnlosen Unterfangens. „Scheiß drauf!“, sagte er zu sich. “JP, was du angefangen hast, das bringst du zu Ende. Basta!“ Und schon wurden die beiden Computer eingeschaltet und los ging‘s. Zuerst musste noch ein klein wenig für die gute Atmosphäre getan werden, ein „kleiner“ Single Malt Whisky aus seiner erlesenen schottischen Kollektion musste einfach sein – „Abalour 15 years old“, war für diesen Abend genau das Richtige – nicht zu dominant, zart, mild und wunderbar langweilig – genau zu diesem Abend passend! Und weil´s nicht schlimmer kommen konnte, schenkte sich JP gleich gut dreidaumendick in seinen Whiskey Tumbler ein. Natürlich OHNE Eis! Diese Menge musste reichen, um ihn zumindest irgendwie durch den Abend zu bringen, ihn am Ende zwar nicht vollständig besoffen aber dennoch bedüdelt zum machen, um danach in einem traumlosen Schlaf zu versinken. JP hatte seine diversen Recherchen, sowohl die gezielten als auch die „zwischendrin“ (eher chaotisch gemachten), auf diversen Web-Servern abgespeichert. Damit waren einige seiner Speicherplatzkontingente maximal am Limit.
Anfänglich verschaffte er sich einen Überblick, was er alles zusammengetragen hatte und war total geschockt über all den unnötigen Mist. Danach filterte er diverse Reports und ließ sie gegeneinander laufen, um Doubletten auszusieben. Um ca. 23:30 Uhr war dieser Sortierjob erledigt und die Datenmenge zumindest eingegrenzt. Es war JP klar, dass er hier gegen jede interne Vorschrift der Firma Malinger verstieß, wofür er mindestens gefeuert, angezeigt worden und vielleicht sogar ins Gefängnis gewandert wäre. Aber was soll‘s, angefangen ist angefangen! JP hatte das Gefühl, dass es bei diesem Spiel bei Malinger ausschließlich um Geld ging. Daher konzentrierte er sich vorwiegend auf die kaufmännischen Daten wie: Buchhaltung (Forderungen, Verbindlichkeiten, Außenstände, Gewinne/Verluste), die Gehaltsabrechnung (wer verdient was pro Monat, pro Jahr, Bonuszahlungen, etc.) Personalwesen (z. B. wer hat schon mal früher mit wem gearbeitet) und vor allem interessierten ihn größere Transaktionen wie Firmenkäufe und –verkäufe, Rückstellungen und Reserven – kurzum: die Kriegskasse. Er verfluchte mehrmals, dass er zwar Wirtschaftsinformatik studiert, aber den „Wirtschaftsteil“ dabei nur mit wenig Freude verfolgt hatte. Vor sechs bis acht Jahren interessierte ihn das einfach noch nicht so sehr. Heute wäre es sicher anders. Ohne Wirtschaftlichkeit keinerlei IT. Sein momentanes Fachwissen im Bereich Betriebs- und sonstiger Wirtschaft war tatsächlich eher rudimentär und ausbaubedürftig.
Sein Schulfreund aus der Pariser Zeit, Babtiste Lucard, arbeitete als Analyst bei einem großen Broker in Paris, einem allgemein anerkannten Spezialisten. Ihn wollte er nun speziell für diesen „wirtschaftlichen Teil“ um eine kleine Gefälligkeit bitten. Babtiste war schon fast legendär im Aufspüren „fauler Eier“ und realistischer Werthaltigkeit eines Unternehmens. Leider war er auch sehr viel beschäftigt. Einige Informationen interessierten ihn einfach rein privat, wie z. B. die Gehaltsdetails. Er konnte nach einiger Zeit der anfänglichen Verwirrung tatsächlich für jeden Mitarbeiter bis hin zur Geschäftsleitung und den Privatentnahmen des Herrn Joseph Malinger die individuellen Gehaltsdetails einsehen und erkennen.
Dabei stellte er rasch fest, dass er, Giovanni Paul Davide Santa Cruz, schon immer um einiges mehr verdiente als seine unmittelbaren IT-Kollegen mit ähnlichem Aufgabenprofil. Nun, nach seiner Gehaltserhöhung und Beförderung, verdiente er nur noch 313,21,- Euro brutto weniger pro Monat als sein Boss Franz Korber. Das fand er doch sehr beruhigend, hatte er sich gewiss nicht „zu billig“ verkauft. Die Geschäftsleitung sahnte tatsächlich satte Kohle ab, das fand JP ganz in Ordnung, denn dort lagen schließlich die Verantwortung, die Steuerung und das Wohl des gesamten Unternehmens. Wenn jemand einen 923 Millionen Euro Betrieb zu führen hatte, dann sollte er auch durchaus einen Betrag in Millionenhöhe an Gehalt inklusive Boni dafür erhalten.
Bei den Lieferanten-Reports fand er auch das tschechische Unternehmen MOTOHMOTY s.r.o, das wohl schon seit Jahren als „Subunternehmer“ für Malinger geführt wurde und über 40 Millionen Euro OEM-Ware für Malinger Autoteile fertigte. JP erkannte sofort die Zusammenhänge. Er war einfach gut darin, sehr komplexe Verknüpfungen zu erkennen und unterschiedliche Sachverhalte zueinander in sinnvolle Relation zu bringen. Diese Firma MOTOHMOTY s.r.o war keine kleine, unbedeutende Nummer und der Kaufpreis dafür könnte durchaus in einem zwei- bis dreistelligen Millionen-Eurobetrag liegen. Malinger Autoteile war sicherlich nicht der einzige Kunde. Für JP war nun offensichtlich, dass der schottische Herr Finanzdirektor und seine Kumpel nicht nur ihr altes Suppenhuhn an den Malinger Konzern verkaufen wollten, sondern sich von eben diesem Käufer auch über die Jahre das Futter zur Mast hatten bezahlen lassen. Einen Haufen Gammelfleisch sollte für teures Geld an den dummen, ehemaligen Ernährer verhökert werden. Respekt, Respekt. Eine neue Definition eines Wirtschafts-Perpetuum-Mobile mit einer sich selbst versorgenden Wertschöpfungskette. JPs Respekt vor diesem Wirtschafts-Halunken-Streich stieg schier ins Unermessliche, als ihm ein kurzer Blick in die Malinger-Kriegskasse verriet, dass sich dort für „anstehende Akquisitionen“ schlappe 198,7 Millionen Euro angespart hatten und nur auf den günstigen Moment einer Investition warteten. So ein Zufall auch!
„McGregor, Du alter, verfluchter, schottischer SACK!“, schimpfte JP laut vor sich hin. „Mit Kleingeld gibst Du Dich nicht ab! Meinem Cousin Mischa bietest du läppische 950.000,- Dollar, damit er für Dich die Bücher deiner maroden Firma MOTOHMOTY s r.o. frisiert und Du schiebst dann selbst zwei-, vielleicht dreistellig Millionen dafür ein!“, fluchte er vor sich hin. Das hatte doch was! Schlagartig war der als langweilig eingestufte Abend zum bombastischen Unterhaltungsprogramm mit 3-D-Realitätseffekt mutiert. JP hatte vor lauter Spannung seinen Whisky noch nicht mal angerührt und es war schon 4:58 Uhr morgens. Er war immer noch hellwach und wollte nicht aufhören zu stöbern. Diese Informationen waren mehr als nur prickelnd. Wenn man weiß, wonach man suchen muss, dann wird man auch fündig.
Was ihm all diese Informationen nun wirklich nutzten, stand im Moment nicht zur Debatte. Aber JP musste unbedingt ins Bett! Zumindest noch zwei Stündchen schlafen und dann wieder ab an die Arbeit. Freitags war immer viel zu tun. Das Glas Whisky musste nun als Schlafmittel herhalten. Eigentlich war das ja auch die ursprüngliche Bestimmung. JP war sich sicher, ähnliche Datenrecherche-Abende schon sehr bald wieder einzulegen! Dieser Abend war spannender als der beste Film im Fernsehen oder Kino. Reality goes over Fiction!