9. – 12. April 2010, München
Franz Korber war nun bis zum 26. April im Urlaub. Das war einerseits gut, andererseits schlecht! Gut war, dass JP nicht mehr den offensichtlichen Verfall von Franz` Arbeitsmoral ertragen musste. Schlecht war, dass die Arbeit von Franz ja irgendwer erledigen musste. JP war als Nummer 2 nun die amtierende Nummer 1. Also, wenn Nummer 1 ausfällt, wer machte die Arbeit dann? JP versuchte sich erst mal einen ungefähren Überblick über Franz` anstehende Projekte und Termine zu verschaffen – eine Übergabe hatte es natürlich keine gegeben –, um dann die Arbeit auf Sebastian, sich und die anderen Kollegen zu verteilen. Aber wie sollte man etwas verteilen, das man nicht recht kannte. Ein Blick in den elektronischen Kalender von Franz konnte nicht helfen. JP hatte sich mittlerweile viele Zugriffspasswörter für den Chef-Computer besorgt, so auch den zum Kalender. Für die Zeit vom 12. bis 26. April war im Kalender nur vermerkt: „Ich bin im Urlaub! Ich sage Euch nicht, wo ich bin!“ So eine Albernheit passte nicht zu Franz. War er auf Drogen?
Planmäßig war Franz ab kommenden Montag in Urlaub, tatsächlich war er aber schon heute, am Freitag, nicht mehr im Office. Sein Firmenhandy lag ausgeschaltet in seiner Schreibtischschublade. JP hoffte inständig, dass dieser Urlaub den alten Franz Korber wieder herstellen und zurück in die Firma Malinger bringen würde. Nun galt es einfach, reaktiv mit dem fertig zu werden, was gerade zur Tür hereingeflattert kam. Planung oder Terminverschiebungen waren somit äußerst herausfordernd bis nicht möglich.
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Die Ecke für Denker hatte wieder ihren Stammgast. Mit einem Glas Calvados in der Hand und der Musik Nocturnes von Chopin die von der Anlage aus dem Hintergrund die Ohren liebkoste. Natürlich loderte das Feuer im Kamin, es unterstützte bei dem geistigen, dreidimensionalen Schachspiel. Denn dieses Projekt war ein dreidimensionales Schach! Ein Spiel, das man spielte, um es zu gewinnen. Aber die Absicht zu gewinnen war allen gemein, die ein Spiel gut spielen wollten.
Der russische Söldner hatte erstklassige Einschüchterungsarbeit bei dem Italiener geleistet. Damit war er rehabilitiert und konnte auch gleich wieder eingesetzt werden. Gut, dass er erst in 14 Tagen zur Verfügung stehen konnte. Der Zweck des neuen Einsatzes war ohnehin in seinen Urlaub nach Dänemark verreist. Die Kosten für den Russen waren etwas höher als ursprünglich geplant, aber andererseits waren ja vorher erhebliche Einsparungen in Tschechien durch den Faktor „Zufall“ erzielt worden. Somit war alles im grünen Bereich.
Die Sache mit Franz Korber war enttäuschend. Dieser Mann wollte nicht verstehen, dass er nur eine ersetzbare Laus in dem Spiel und das große Geld war. Diese Laus würde nun entfernt werden. Korber hatte gute Dienste in den vergangenen Jahren geleistet, wirklich clevere Datenmodulationsprogramme direkt an den Datenquellen eingebaut, aber er hatte seine Position nun eindeutig überbewertet und geglaubt, Drohungen aussprechen zu können. Es gab nur eine wichtige Person in diesem Projekt, und die saß soeben vor dem modernen, offenen Kamin in der alten Villa im Stadtteil Nymphenburg und genoss Musik von Chopin und den alten Calvados. Das Konsortium hatte den Vorschlag zur Liquidation von Korber wie erwartet einstimmig angenommen.
Mit Geld konnte man alles kaufen und einen Ersatz für Franz Korber allemal. Das Kapitel über Manipulation von Produktionsdaten, Gehalts- und Steuerzahlungen würde schon in wenigen Wochen neu geschrieben werden. Aber das war gut so. Einen gefährlichen Zeugen wie Franz Korber konnte man nun nicht mehr gebrauchen. Ein späteres Ausscheiden wäre besser gewesen, aber was soll´s: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! „Franz Korber, verbring‘ noch deinen letzten Urlaub in Dänemark – wie zum Teufel kann jemand um diese Jahreszeit nach Dänemark fahren um dort Urlaub zu machen? Nach deiner Rückkehr wird deine Familie Trauer tragen und deine vermeintliche Lebensversicherung, diese ominösen „Beweismittel“, wird zu Deiner „Ablebensversicherung“ und mit Dir zusammen in den Gefilden der Unendlichkeit verweilen....“
Das war gut: Ablebensversicherung. Das Wort war eine kreative Neuschöpfung, Calvados war das Getränk der kreativen Wort-Erschaffer.
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JP hatte dieses Wochenende nichts Konkretes vor! Keine Tina, keine Julietta, keine Sandy. Lange ausschlafen, im Bett ein bisschen lesen, sich nicht rasieren, nicht duschen, ein Bierchen direkt aus der Flasche trinken, tagsüber fernsehen, so in etwa war der Plan. Aber welcher Plan ging schon in Erfüllung? JPs Plan nicht! Die Zwillinge Carla und Claudia, seine beiden Schwestern, läuteten bei JP unangemeldet am Samstag morgens um 6:30 Uhr (!!) Sturm. Sie hatten einen Schlüssel zu seiner Wohnung, aber: „Wir konnten ja nicht wissen, wer mal gerade wieder bei dir pennt, wir wollten nicht stören.“ „Haha, ihr blöden Puten, nicht stören, sehr witzig! Es ist noch mitten in der Nacht, haut ab, lasst mich in Ruhe! Was macht Ihr überhaupt hier?“ Carla: „Wir sind schon gestern angekommen und wollten bei Tante Romana schlafen. Wir sind aber auf einer Party versackt und haben durchgemacht und wir kommen direkt von diesem Fest. Komm schon Bruderherz, wir wollen was mit Dir unternehmen, z. B. zum Skifahren rein nach St. Anton.... Was hast Du übrigens zum Essen im Kühlschrank? Ich habe Hunger.“
„Mädels, hört mir auf mit Skifahren! Es ist Mitte April! Die Saison ist vorbei! Vorbei, versteht Ihr? Ich habe keinen Bock mehr auf Schnee! Es ist Frühjahr! Ich will Wärme, Sonne auf der Haut, eine Pizza im Freien essen und nicht Skifahren!“ „Giovanni, Du bist ein Langweiler!! Obwohl, ...“ „Nein Claudia, hör auf....ich kenne diesen Blick! Immer wenn Du so dreinschaust, heckst Du was aus und es wird meist teuer für mich.“ „Giovanni, sei kein Spielverderber. Ich habe eine gute Idee, ich sag nur eins: GARDASEE....! Wärme, Sonne auf der Haut, Pizza im Freien essen und NICHT SKIFAHREN. Wow, wenn wir gleich losfahren, können wir in Garda oder Sirmione frühstücken.“ „Mädels, Ihr nervt!! Ich habe Pläne für heute und überhaupt.... ich will ähäh, ach, zum Teufel, meinetwegen! Fahren wir runter nach Italien, aber frühstücken will ich in Bozen! Dort ist heute Markt und die haben dort einen Weichkäse, den ich sonst noch nirgends bekommen habe!“ „Bruderherz, wir lieben Dich! Lass Dir einen Kuss geben... Können wir noch schnell duschen?“ „Schon gut.... Nein Carla! Ich dusche, Ihr nicht! Ich will gleich los und wenn Ihr erst mal im Bad verschwindet, dann dauert das ewig, alleine schon bis Claudias lange Haare wieder trocken sind, ist eine Stunde futsch! Bedient Euch im Kühlschrank, ist aber nicht viel da... Wir fahren in 30 Minuten los. Ach ja, Auto! Ihr wisst, ich fahre ein Audi TT Cabrio – Zweisitzer....“ „Kein Problem Bruderherz, Claudia hat sich von einem Freund einen Mercedes Kombi geliehen. Wir wollten ja Skifahren gehen.“ „OK Carla, ich bin mir sicher, dass ihr Euch von Euren Freunden jedes Auto leihen könnt, das Ihr gerade braucht. Verrückte Hühner! Abfahrt in spätestens einer halben Stunde.“ „Aye, aye, Sir! Carla und Claudia melden gehorsamst: Wir werden in 29 Minuten abreisebereit sein! Carla, mach uns bitte einen Kaffee, ich mach uns belegte Brötchen. Mensch Giovanni! Bei Dir im Kühlschrank bekommen die Mäuse Blutblasen an den Füßchen – da ist ja gar nix drin, nur eine Flasche Schampus und ein paar Tomaten. Da ist ja selbst mein Kühlschrank voller.“ „Ja, was glaubt ihr, warum ich so schnell zugestimmt habe, zum Gardasee, nach bella Italia, zu fahren? Da gibt´s jede Menge gutes Essen, Italien ist das Mekka für gutes Essen!“
Die Fahrt nach Bozen verlief sehr still. Das Gequatsche im Radio störte, die Musik von der CD auch und der Fahrstil sollte bitte sanft und ausgewogen sein. Die beiden Grazien beliebten ein Nickerchen zu machen und der Fahrer sollte sich bitteschön auf seine Fahrt konzentrieren. Man wollte in Bozen schließlich erholt ankommen. Naja, wer sich zum Knecht macht, muss sich nicht wundern, wenn er getreten wird. Die Zwillinge waren immer schon frech, fordernd und leider in ihrer Art sehr überzeugend. JP ergab sich seinem Schicksal und fuhr seine schlafende Fracht ganz sanft nach Bozen. Es wurde ein wunderschönes, sehr witziges und total entspanntes Wochenende mit drei äußerst gut gelaunten Geschwistern.
JP organisierte in Sirmione ein komfortables Doppelzimmer für seine Schwestern und ein Einzelzimmer für sich selbst. Alle Zimmer hatten herrlichen Seeblick und eine sensationelle große Terrassen. Sie wohnten im Ort Sirmione auf der Halbinsel ganz im Süden des Gardasees. JP hatte in Bozen auf dem Wochenmarkt reichlich Käse, italienische Salami, Prosciutto di San Daniele, Tomaten und Gurken, Grissini und Brot gekauft und kredenzte seinen beiden Schwestern ein fürstliches Abendessen auf der Terrasse ihres Hotelzimmers. Dazu gab es reichlich Rotwein. Es war nicht übertrieben warm draußen, aber warm genug, um gut in Decken eingemummelt, auf der Terrasse auszuhalten. Das erste Abendessen in 2010 im Freien! Der Himmel war wolkenlos, die Sterne leuchteten hell und der Abend war still und mild. Die Geschwister verstanden sich hervorragend und Carla spielte ein paar Lieder auf einer Mundharmonika, Claudia konnte ein paar Countrysongs und JP ein paar französische Chansons. Dazwischen viele gute Gespräche!
Am Sonntag war wirklich ausschlafen angesagt. Keiner der drei war auch nur annähernd nüchtern ins Bett gegangen, und so forderten ihre Körper am nächsten Morgen ein bisschen Erholung. Nach einem ausgiebigen Mittagessen in der Altstadt von Sirmione fuhr JP gemächlich über Salo, Gargnano, Limone, Riva wieder Richtung Norden und kam spät nachts wieder in München an. Sie verbummelten den ganzen Tag und für eine Autofahrt von normalerweise maximal vier Stunden. Die drei brauchten letztendlich, mit diversen Genusspausen, fast zehn Stunden.
Irgendwo auf der Strecke läutete JPs iPhone. Es war Babtiste Lucard, sein Schulfreund und Bilanz-Leseprofi. „Hey Babtiste! Was gibt‘s?“ „JP, écoute, mon amie. Ich hab´s rausgefunden! Ich glaube, ich weiß, wie sie es machen! Das glaubst Du nicht! Die sind wirklich gut! Hör zu, ich bin gerade am Flughafen in London und fliege in ein paar Minuten rüber nach Los Angeles. Lass uns unbedingt morgen Abend telefonieren. Du wirst Augen machen! Ich rufe Dich gegen 23:00 Uhr an! Salut, mon Chère!“ Das war doch hoch interessant! Babtiste war ganz aufgeregt und JP plötzlich auch. Obwohl JP gar nicht so recht wusste, warum. Babtiste hatte ja außer wilden Andeutungen nichts Wichtiges gesagt. Es war schon spät nachts, als alle Drei überglücklich und vollkommen relaxed in JPs Wohnung ankamen und sich in ihre jeweiligen Betten verzogen – JP in sein Schlafzimmer, von den Mädels schlief eine auf der Couch, die andere im Gästebett.
Familie ist wichtig! Und: Familie muss auch gepflegt werden, genauso wie Freundschaften.