3. Mai. 2010, München, Krankenhaus Schwabing, ca. 18:30 Uhr
Der Tag war die reinste Hölle! Nach dem Mittagessen ging es so richtig los. JP wusste wohl, dass er eine riesige und weitverzweigte Verwandtschaft und viele Bekannte und Kollegen besaß, aber, dass so viele so derart nahe bei München wohnten und ihn nun im Krankenhaus besuchten, das war ihm nicht bewusst. Oma und Opa waren in ihrem Alter sogar aus Berlin angereist und ein paar Cousins aus dem Rhein-Main Gebiet. Die Explosion der IT-Abteilung der Firma Malinger war natürlich ein Riesenthema im Fernsehen und sicherlich jeder Tageszeitung. Somit hatte auch der entfernteste Verwandte davon irgendwie Wind bekommen und wollte persönlich mit einem der Überlebenden reden, um es dann als „seine große Story“ seinen Freunden, Bekannten und bei der Arbeit zu erzählen. Vielleicht lief ja auch ein Fernsehteam herum und hielt einem ein Mikro vor die Nase, um vom „nahen Verwandten“ zu erfahren, was es denn Neues zu berichten gäbe. Was tat man nicht alles, um seine Nase ins Fernsehen zu bringen. Schlimmer konnte es nur noch am Mittwoch Nachmittag kommen, wenn vielleicht ein Großteil der Mitarbeiter der Firma Malinger – das Werk München hatte 1.350 Beschäftigte, nach der Trauerfeier für die Todesopfer am Nachmittag auch zu einer Stippvisite der verletzten Kollegen vorbeischauen wollte, um den tapferen Überlebenden der größten Katastrophe der Firmengeschichte ihre Glückwünsche auszusprechen. Ein Horror! Allein der Gedanke! Was für ein Terz!
JP hatte nach einigen Eishockey-Spielen oft schon ähnlich ausgesehen und sich bestimmt viel mieser gefühlt als hier. Aber viele wollten jedes Detail seines unglaublichen Fluges durch die Luft, seines heroisches Rettungsverhaltens unter Einsatz seines Lebens wissen und die Schwere seiner unglaublichen Verletzungen sehen und leider gelegentlich auch befühlen – Autsch. Das einzig Gute war: Die Horde Journalisten und Fernsehleute drängten in die Zimmer der Kollegen auf der Station, weil da mehr Platz war. Dort war nicht so viel Verwandtschaft im Zimmer!
Einige der verletzten Kollegen sonnten sich ganz offensichtlich in diesem scheinbaren Ruhm. Am Nachmittag war JP dazu übergegangen, seine Besucher nur noch in Gruppen von max. acht Personen in sein kleines Krankenzimmer zu lassen und gewährte jedem Pulk max. 15 Minuten Audienz – dann war Wechsel. Da sich viele seiner Verwandten – ein paar seiner hiesigen Freunde, Bekannten und Kollegen waren natürlich auch dabei – oft schon lange nicht gesehen hatten und sich dementsprechend herzlich begrüßten und viel zu erzählen hatten, war ein unglaublicher Geräuschpegel aus allen möglichen Sprachen im Flur zu hören. Die paar Stühle dort waren von seiner Sippe belegt. Wahrscheinlich staute sich der Rest der Meute bis vor zu den Wartebereichen mit den Wartebänken. So gern er seine Leute mochte, aber heute hatte er die Schnauze gestrichen voll von seiner Mischpoke. Er war heilfroh, als endlich ein Oberarzt strikt das Ende der Besuchszeit verkündete und den Flur ein Stückchen weiter vorne durch eine Glastüre verschließen ließ.
JPs Zimmer sah aus wie eine Aufbahrungshalle durch all die mitgebrachten Blumen und duftete wie eine explodierte Parfumerie, durch die vielen Rest-Parfum-Noten aller Frauen und Rasierwasser der Männer. Er wollte raus hier! JPs Mutter hatte ihren großen Auftritt und machte sich als „Moderatorin“ und Audienz-Termin-Verwalterin sehr nützlich. Die Zwillinge waren wieder in ihren jeweiligen Städten zum Studium zurückgereist „Der packt das schon, so schlimm ist´s ja nicht....“ Der einzige Lichtblick war der Besuch von Dr. Roma Annabella Julietta Schallgruber, der Schwester seiner Mutter, seiner Tante. Niedergelassene Anwältin für Straf- und Vertragsrecht in München.
Als sie vor gut 30 Minuten hereinschneite, musste er die restlichen Verwandten für eine „private Unterredung mit meiner Anwältin“ buchstäblich aus dem Zimmer werfen. Er erteilte seiner Tante das Mandat zu seiner rechtlichen Vertretung, erklärte ihr in kurzen Worten ehrlich und unverblümt die Situation und seine Forderungen gegenüber der Kripo München.
Sie war extrem schockiert! Sie wollte sich sofort um die nächsten Schritte kümmern. Sie kannte Dr. Manfred Koller, Chef der Kripo, ganz gut. Sie hatte keine allzu hohe Meinung von seiner echten, fachlichen Kompetenz, war aber beeindruckt von seinem Talent sich durchzuschlängeln und sich im Ministerium geschickt nach oben zu arbeiten. Sie bestand darauf, einen Vertrag aufzusetzen, da sie von der Einwilligung der Kripo in seine Forderungen ausging. Vielleicht sogar von einer „mächtigeren Behörde“. „Ich kenn da die Richtigen. Der Vertrag wird gleich heute Nacht vorbereitet. Ich schicke ihn dir per E-Mail, Schätzchen. Dein Handy hast du ja hier, OK?“
Jetzt musste er mal kurz die Augen schließen, wieder Kraft sammeln. Kurzschlaf! Nach vielleicht 15 Minuten war er wieder da und halbwegs fit. Nun war sein Handy dran. Er hatte es noch nicht angemacht, seit es ihm der Hauptkommissar hingelegt hatte. Himmel! 49 Nachrichten und 1.731 neue Mails! Sind denn alle wahnsinnig! Es würde Stunden dauern, alle Nachrichten abzuhören, wahrscheinlich war endlich der Voicemail-Speicher vollgelaufen. Wie zum Teufel konnte man alle Nachrichten löschen, ohne sie abhören zu müssen? Und die Mails, fast durchweg „Daumendrück-, Glückwunsch-, Gute Besserungs-Mails, das Meiste natürlich von Kollegen, die er meist nicht kannte, aus dem Hause Malinger. Er war der Held des Tages!
Alles nett, aber viel zu viel. Bei den E-Mails war der Löschfinger wesentlich effizienter als bei den Voice Messages. „Hallo, Herr Santa Cruz?“ „Hauptkommissar Holzner? Haben Sie kein Zuhause? Ich dachte, es darf keiner mehr rein?“ „Ich habe einen Universalschlüssel“, sagte Holzner grinsend und hielt seinen Polizeiausweis hoch. „Wie ich höre, hatten sie heute Nachmittag regen Besuch?“ „Sie sagen es, können Sie mich davon erlösen?“ „Ja, sieht so aus. Ich sollte tatsächlich nicht hier sein und es ihnen jetzt schon erzählen. Aber: Der Chef sitzt gerade mit Dr. Schallgruber zusammen und verhandelt Details. Wenn der Papierkram steht, davon gehe ich fest aus, dann werden Sie in einen anderen Trakt verlegt, mit Zugangsbegrenzung und so.“ „Allein das ist schon den Deal wert.“ „Ihre Datei auf der IP-Adresse war sehr überzeugend. Unser Wirtschaftsprüfer hat Kulleräuglein bekommen und dem Finanzamt würde wohl der Speichel im Mund zusammenlaufen bei dem leckeren Häppchen, das da auf dem Tellerchen liegt...sofern die davon wüssten..... Aber das Finanzamt halten wir erst mal aus der Sache raus. Der Chef ist mittlerweile Ihr größter Fan und findet, Sie sind ein Held.“ „Sympathien kommen und gehen....“ Die von JP gegenüber dem Bürokratenwichser-Chefchen war unverändert negativ. „Die Obduktion bei Franz Korber hatten wir auch ohne Ihren Vorschlag gemacht. Aber so haben wir ein bisschen schneller hingeschaut.“ „Ja?“ „Der Herr Korber war schon mindestens ein bis zwei Stunden vor der Explosion mausetot. Gebrochenes Genick, durch Fremdeinwirkung, ohne Hilfsmittel. Schwere Misshandlungen und wohl Folter....“ „WAS??? Franz ist gefoltert und umgebracht worden?“ „Yep, sieht ganz so aus, nachdem er kurz zuvor vergewaltigt worden war. Umgebracht wurde er wahrscheinlich woanders und dann zum IT-Container geschafft. “ „Wow, das ändert alles! Ich dachte, Franz ist einer der Hauptbeteiligten.“ „Kann sein, vielleicht war er nur im Weg. Das wird sich klären. Der Mörder war offensichtlich ein Profi, jemanden mit bloßen Händen umzubringen, das ist nicht so einfach. Aber bei der Explosion hat er arg improvisiert und gepfuscht. So ein gewaltiger Wums und Brand war sicher nicht notwendig und nicht effizient. Zuviel Kollateralschäden. Die großen Rechner, das wahrscheinliche Ziel, sind zwar stark verbeult, äußerlich angekohlt und allein schon durch das Löschwasser außer Funktion. Vielleicht sind aber einige Speicherplatten nicht irreparabel beschädigt. Die Hitzeentwicklung war wohl nicht so extrem stark. Unsere Spezialisten sind zuversichtlich....“
Diese Information wollte erst verdaut werden! JP wollte nachdenken. „Holzner, es war ein harter Tag, lassen Sie es uns auf morgen früh vertagen? Sie sind mein Verbindungsmann, oder wie immer Sie das nennen?“ „Ja, Herr Santa Cruz, sieht ganz so aus. Ich will bei dieser Sache unbedingt mitspielen, ganz vorne! Rein fachliches Interesse oder wollen sie lieber mit meinem Chef - direkt...?“ Heftiges Kopfschütteln von JP. „Gut dachte ich mir! Ach, eins noch: der Lkw-Fahrer war auch schon tot, vor der Explosion. Adnan Androwitsch, er wurde erwürgt, von vorne.“ „WAS?? Was hat der zum Teufel damit zu tun?“ „Tja, vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort, Zeuge oder Mittäter. Wird sich noch herausstellen. Nun gute Nacht, ich bin übrigens wirklich Frühaufsteher und ja, Sie dürfen auch morgen noch etwas liegen bleiben, während wir arbeiten“. Hozner zwinkerte und lachte kurz auf.
Das waren vielleicht News!
Tante Romana war mit dem Vertrag fertig, ein paar kleine Änderungen mussten noch rein, dann passte es. Beim Thema „Offenlegung der Ermittlungsarbeit“ musste JP ein wenig nachgeben und musste Sätze wie „nach Ermessen der ermittelnden Behörde usw.“ akzeptieren. Tante Roma machte ihm am Telefon klar, dass er nun mal kein Polizist war und, dass gewisse Dinge vertraulich sind und auch aus rechtlichen Gründen nicht Außenstehenden mitgeteilt werden dürfen. Damit konnte er aber gut leben. Es reichte JP, wenn er grob wusste, was die Polizei herausgefunden hatte. Um ca. 23:10 Uhr war der Vertrag unterschriftsreif. „Ach, noch eins, Tante Romana. Du hast ja den Schlüssel zu meiner Wohnung. Ich brauche hier folgendes: das schwarze Notebook, den kleinen HP Drucker mit Papier, Stromkabel, Ethernetkabel, die rosarote Funkkarte, die drei roten USB-Sticks aus der ersten Schublade rechts und vor allem mein Ladegerät vom IPhone, das steckt noch in der Küche in der Wanddose. Hast Du´s? Danke, ja passt. Nochmals vielen Dank für deinen Einsatz, Tante Roma. Schlaf gut. Ja, bis morgen um 8:00 Uhr. Bussi.“ Jetzt musste er nur noch ein Telefonat führen. Lucky Eagle Ltd . sollte einen Auftrag erhalten.
Mosche Heiligenschein war eine Nachteule. 23:10 Uhr, das war für ihn erst früher Nachmittag. Der Anruf seines Cousins, Partners und wirklich guten Freundes war immer willkommen. Mosche hörte aufmerksam zu. Diese Informationen von Davide waren echt abgefahren. Ganz nach seinem Geschmack. Er hatte sofort einen Projektnamen parat – „Disclosure – Enthüllung“ und fühlte sich dabei gleich wie James Bond oder sonst ein abgefahrener Geheimagent. Der Auftrag für Lucky Eagle Ltd . wäre auch nicht schlecht. Kohle konnte man nie genug haben, obwohl er für sich fast keine ausgab. Mosche interessierte sich wirklich nur und ausschließlich für Computer, und das am liebsten 24 Stunden, 7 Tage. Alles andere war vollkommen nebensächlich. Er sah aus wie Scheiße, kleidete sich extrem nachlässig, aß nur Junkfood, rauchte wie ein Schlot und trank nur Cola. Sexuell war er wahrscheinlich noch Jungfrau. Aber darüber redete man nie. Sein Bankkonto war so prallvoll, dass sein Bankberater beinahe wöchentlich nachfasste, um sich zu erkundigen, ob und wie er vielleicht irgendwie helfen könnte....
Aber das nervte Mosche nur. Geld war nicht zum Anlegen oder Ausgeben da! Geld wurde verdient, aufs Konto gepackt und nicht mehr angefasst.... Es interessierte den Eigentümer ab dem Moment des Vorhandenseins absolut nicht mehr. Aber bis es auf dem Konto war, wurde um jeden Cent gefeilscht – schon aus Prinzip! Das gehörte einfach zum professionellen Spiel. Natürlich würde er diesmal höchst persönlich einsteigen – versteht sich von selbst, das Project Disclosure klang nach FUN. Und den gab es leider im Leben Mosche Heiligenschein`s nicht zu reichlich...
„... WAS? Bist du verrückt? Du willst FATBOY in diesem Team? Weißt Du, was Du da sagst? Wir holen uns die Krätze an den Hals? Erinnere Dich an das Drama von vor zwei Jahren in New York? Er ist unberechenbar! Und wenn er sich wieder die Taschen vollmacht? In New York hat er sich über zwei Mio. US-Dollar abgegriffen. Hast Du das vergessen?“ Oh nein, das hatte JP ganz und gar nicht vergessen. Aber Mosche musste auch nicht alles wissen.... Von den 2.137.154 US-Dollar waren vereinbarungsgemäß und pünktlich genau 50% definitiv nicht auf FATBOYs Konto hängen geblieben. Nein, JP war der Besitzer dieses Kontos auf den Cayman Islands und das war sein „Speck“ für die mageren Jahre. Aber das ist aber eine andere Story. „Hör zu Mosche, FATBOY braucht unsere Kohle sicher nicht! Das heißt, du kriegst ihn günstig. Ihn interessiert nicht die Kohle, sondern der Kick an dem Projekt. Verkauf ihm die Story gut, dann bleibt mehr für Lucky Eagle Ltd .“ Das war ein Argument, das für Mosche durchaus zählte. „Na gut Davide, Du bist der Boss! Aber ich werde ein Auge auf FATBOY werfen und ich gebe Dir morgen Bescheid, sobald ich ihn erreicht habe. Schlaf jetzt, see you.“ „Hey Mosche, nicht vergessen: Du und FATBOY bleiben im Hintergrund! Immer! Auf keinen Fall macht Ihr euch sichtbar, verstehst Du? Gib mir Dein Wort!“ „Gebongt, Bruder! Du hast mein Wort! Jetzt hau Dich endlich hin.“ Telefonverbindung Ende.
Zeit zum Schlafen.