München, 13. April 2010, spät abends
JP hatte diesen Arbeitstag völlig entspannt verbracht! Das vergangene Wochenende mit seinen Zwillingsschwestern hatte ihm gut getan. Er schöpfte immer viel Kraft aus seiner Familie und die beiden „Zwillingsbiester“, wie er sie gerne neckte, liebte er ganz besonders. Er war tagsüber so entspannt, dass er das kurze, ihn durchaus neugierig machende Telefonat vom Heimweg aus Italien mit seinem Schulfreund Babtiste Lucard schon wieder völlig vergessen hatte. Für den Abend hätte JP sehr gerne ein bisschen weibliche Gesellschaft und Schmusesex gehabt, aber keine seiner Münchner Flammen hatte im Moment auch nur das geringste Interesse an ihm, weder an seiner Nähe und noch an seiner Gesellschaft. Seine Kumpels hatten alle was anderes vor, im Kino lief gerade nichts Besonderes und das Fernsehprogramm gab auch nicht viel her. Die Datenauswertung der gesammelten Malinger Daten wollte ihn im Moment gar nicht interessieren und so beschloss er lustlos eine Kleinigkeit zu essen und mal ausnahmsweise früh ins Bett zu gehen.
So gegen 23:00 Uhr schreckte er durch das aufdringliche Läuten seines Telefons hoch und ging völlig schlaftrunken an den Apparat. „JP, habe ich Dich geweckt! Excuse moi, mon amie! C`est moi – Babiste! Aufwachen! Du Schlafmütze! Wir waren jetzt zum Telefonieren verabredet! Ich bin in Los Angeles und habe diese Zeit nur für Dich geblockt!“ „Mensch, Babtiste! Sorry, ich war so müde und bin eingeschlafen. Ich war am Wochenende mit den Zwillingen in Italien und Du weißt ja, wie anstrengend meine lieben Schwestern sind. Aber Du hast natürlich recht, wir waren für jetzt verabredet! Du hast was rausgefunden?“ JP ging dabei zum Kühlschrank und holte sich eine angebrochene Flasche Weißwein, Gelber Muskateller vom Weingut Melcher aus der südlichen Steiermark, ein wunderbarer, trockener Tropfen! Damit war JP gut gerüstet für ein langes Telefonat.
Babtiste sprudelte nur so aus sich heraus. Im Grunde war er voll der Hochachtung vor dieser Skrupellosigkeit und zog seinen imaginären Hut vor diesem Gaunerstück, wenngleich er ansonsten kein Freund von illegalen Praktiken war. JP war nun jedenfalls hellwach, aber er konnte nicht behaupten, dass er alles verstand, was ihm sein Freund erzählte. Die Details überstiegen seine fachlichen Kenntnisse kommerzieller Zusammenhänge in einer Firma. Aber der Kern der Sache war folgender: Die Firma Malinger beschäftigte auf alle Tochterfirmen verteilt insgesamt 4.289 Personen. Durch geschickte Datenmodulation und Umbuchungen wurden an Sozialabgaben, Krankenkassen und Steuern konzernweit aber nur 4.138 Personen, d. h. 3,5% weniger als tatsächlich vorhanden, abgerechnet. In Deutschland wurden anstatt 3.098 Personen nur 2.990 abgerechnet. Konzernweit wurden somit jeden Monat die Sozialabgaben, Steuern und Krankenkassenbeiträge von 150 Personen vorsätzlich unterschlagen!
Diese Abgaben für diese Personen wurden vom Unternehmen Malinger allerdings in bestem Wissen überwiesen, allerdings landeten die Gelder nicht auf den vorgesehenen Konten, sondern auf irgendwelchen Scheinkonten. Dort verschwanden sie dann nach mehrmaligem Umbuchen und diversen Transfers. Im Klartext hieß das: Wer immer Malinger mit dem Verkauf geklauter Ware schadete, hatte noch eine zusätzliche, regelmäßige Einnahmequelle: Veruntreuung von Steuergeldern und Sozialabgaben von 3,5% der Mitarbeiterlohnkosten! Da kommen schon ein paar fette Milliönchen zusammen über die Jahre! JP überschlug grob im Kopf: bei 1.000,- Euro / Person / Monat und 150 beteiligten Personen, dann waren das 150.000,- Euro unterschlagene Gelder pro Monat, aber Babtiste korrigierte ihn, dass das viel zu niedrig berechnet sei. Da eine lückenlose Komplizenschaft zwischen Firmen-Management und externer Wirtschaftsprüfung bestand, war die Gefahr entdeckt und entlarvt zu werden eher gering. Vielleicht durch eine Buchprüfung, aber selbst da fiel es kaum auf. Der besondere Charme lag in der kleinen und regelmäßigen Vorgehensweise.
Die Gauner waren also sehr vorsichtig. JP war einerseits entsetzt, gleichzeitig aber von seinem Freund Babtiste fast schon infiziert von der unverhohlenen Bewunderung für dieses Bravourstück einer ausgeklügelten Gaunerei. Und irgendwie fand er zuerst den Betrug am Staat gar nicht so schlimm. Steuerhinterziehung und unterschlagene Sozialabgaben fielen für irgendwie in die Kategorie „Kavaliersdelikt“ und nicht vordergründig in den Bereich Verbrechen..
Aber je mehr JP darüber nachdachte – und das tat er für den Rest der Nacht, denn schlafen konnte er nun definitiv nicht mehr –, umso mehr wurde ihm bewusst, dass dies ganz und gar kein Kavaliersdelikt war! Er konnte und würde diese Unterschlagung nicht akzeptieren oder tolerieren. Seine gesamten Ethik- und Moralvorstellungen sträubten sich gegen derartige Machenschaften. Er loggte sich über sein Virtual Private Network direkt in die Firmenrechner von Malinger ein und begann bis zum Morgengrauen intensiv zu suchen. Denn, wenn man wusste, wonach man suchte, dann wurde man sehr schnell fündig. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm auf, dass in den Niederlassungen in Polen eine sehr große Menge an Leiharbeitern für die Produktion immer von derselben Leihfirma angemietet wurden. Dies machte ihn sogleich misstrauisch, aber dieser Sache würde er zu einem späteren Zeitpunkt auf den Grund gehen müssen. Im Moment hatte er mit dem Nachweis des Sozialabgabenbetrugs erst mal genug zu tun. Trotz der späten Stunde und der steigenden Müdigkeit, wurden JPs Augen immer größer, als er das gesamte Ausmaß dieses Betrugs aufaddierte. Zu guter Letzt legte er diverse Archive, verteilt auf verschiedene Provider im WWW, an. Vorsicht ist die Mutter aller Porzellankisten und man konnte nie genug Sicherungskopien angelegt haben.
JP war sich vollkommen unschlüssig, wie oder an wen er diese Manipulationen melden sollte. In solchen Dingen war er, wie es wohl jeder andere Mitarbeiter auch wäre, extrem unerfahren und ratlos. Er überlegte, die einzelnen Webadressen anonym an die Wirtschaftspresse zu schicken. Dann verwarf er den Gedanken und dachte darüber nach, die Polizei zu verständigen. Aber er kam mit seinen Überlegungen nicht so recht weiter. War dies Wirtschaftskriminalität? Organisiertes Verbrechen? Wer ahndet Steuerhinterziehung? Wer verfolgt Unterschlagung von Sozialabgaben oder Krankenkassengeldern? Macht das die Polizei oder der Zoll? Wie verfährt man mit internationalen Konzernen? In welche Gerichtsbarkeit fallen ausländische Tochtergesellschaften? Naheliegend wäre gewesen, Herrn Joseph Malinger zu informieren, aber wer konnte wissen, ob dies mit oder ohne sein Einverständnis gemacht wurde? Obwohl: Joseph Malinger war so vermögend, dass er sicher nicht dieses Risiko für vergleichsweise kleine Beträge eingegangen wäre. Aber er weiß – die Gier geht oft unergründliche Wege...
Für heute war dies genug der Aufregung! So begnügte sich JP damit, alles fein säuberlich auf seine diversen Archive im Web zu verteilen und sich zu einem späteren Zeitpunkt Gedanken darüber zu machen, wen dies alles interessieren könnte. Vielleicht auch, wie er selbst ein bisschen Nutzen für sich daraus ziehen könnte.