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Der Polizeikonvoi bestand aus zwei schwarzen SWAT-SUVs, drei zivilen Polizeifahrzeugen und zwei Streifenwagen. In den SUVs hatten jeweils vier SWAT-Agenten Platz. Hunter, Garcia und Captain Blake saßen im ersten Zivilfahrzeug, das den Konvoi anführte, und Michelle fuhr zusammen mit zwei Mitgliedern der SIS im Wagen dahinter. Drei weitere SIS-Mitglieder saßen im dritten Zivilfahrzeug. Die beiden Streifenwagen dienten nur als Unterstützung für den Notfall.

Die Special Investigation Section, kurz: SIS, war eine beobachtungstechnische Eliteeinheit des LAPD. Es gab sie seit mehr als vierzig Jahren, trotz der Bemühungen zahlreicher Menschenrechtsorganisationen und politischer Gruppierungen, sie abzuschaffen. Ihre Tötungsrate war höher als die jeder anderen Einheit, SWAT mit eingerechnet. SIS-Teams wurden vornehmlich zur Überwachung gefährlicher Gewaltverbrecher eingesetzt, die nicht auf andere Weise überführt werden konnten. Die SIS-Officer waren Meister ihres Fachs. Sie beobachteten einen Verdächtigen so lange, bis dieser ein neues Verbrechen beging und sie ihn festnehmen konnten. Der Einsatz tödlicher Gewalt war keine Seltenheit, und sämtliche Mitglieder der Einheit waren exzellente Schützen.

Ihr Ziel lag an einer kleinen hügeligen Straße im Westen von Boyle Heights, einer Arbeitersiedlung östlich von Downtown Los Angeles.

Alle Häuser lagen zurückgesetzt von der Straße, allerdings gab es keinen Baumbestand. Es war eine seltsam unwirtliche Gegend. Im Sommer verwandelte die Hitze die Straße wahrscheinlich in eine Staubwüste, wo sich Aggression und Anspannung mit der gleichen Geschwindigkeit vermehrten wie Bakterien.

Graham Fishers Haus, die Nummer 21, lag ganz oben am Hügel. Es sah im Wesentlichen genauso aus wie die anderen Häuser der Straße: mittelgroß, eingeschossig, drei Schlafzimmer. Unter einigen Fenstern waren Klimaanlagen angebracht. Drei schmale Stufen führten hinauf zur vorderen Veranda aus Beton. Das Haus war in einem verblichenen Blau gestrichen, die Nummer 21 von Hand neben die Eingangstür gemalt. Sämtliche Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Alles schien friedlich. Der Vorgarten wirkte vernachlässigt, am Rand des halb von Unkraut erstickten Rasens hatte der Wind Staub und Dreck zusammengeweht. Ein weißer, wadenhoher Stahlzaun umgab das Grundstück. Da die Gasse, die hinter den Grundstücken ­parallel zur Straße entlanglief, nicht breit genug für ihre Fahrzeuge war, parkte der Konvoi am Anfang der Straße.

»Okay, alle mal herhören«, sagte Fallon mit befehlsgewohnter Stimme, als sie sich um die zwei SUVs versammelten. »Team Alpha – Morris, Luke und ich – geht durch die Haustür rein. Wir sichern Wohnzimmer, Esszimmer und das untere Bad, hier.«

Während er sprach, zeigte er die Räume auf dem Grundriss, den er auf der Motorhaube eines der Fahrzeuge aus­gebreitet hatte.

»Team Beta – Johnson, Davis, Lewis – nimmt die Hin­tertür, die direkt in die Küche führt. Sie sichern zuerst die Küche, dann gehen sie weiter nach oben. Dort sichern sie beide Badezimmer und alle drei Schlafzimmer. Team Gamma – Lopez und Turkowski – kommt mit Team Alpha durch die Haustür und nimmt sich den Keller vor.« Er hielt inne und sah zu Captain Blake. »Die SIS-Leute und Ihre Detectives betreten das Haus erst, wenn wir Ihnen über Funk das Okay geben, dass alles sicher ist. Haben wir uns verstanden?« Er sah jedem, der nicht zum SWAT-Team gehörte, kurz und scharf in die Augen, um sicherzugehen, dass er sich klar ausgedrückt hatte.

»Verstanden«, sagten Hunter, Garcia und die Mitglieder der SIS.

Fallon wandte sich an sein Team.

»Okay, Jungs. Sieht so aus, als wären wir klar im Vorteil. Dieser kranke Wichser hat keine Ahnung, dass wir kommen, also gehen wir schnell rein und liefern ihm die Überraschung seines verpfuschten Lebens. Wir müssen mit allem rechnen, aber er ist keiner, der wild um sich schießt. Selbst wenn er also eine Schusswaffe im Haus hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sie nicht griffbereit hat. Trotzdem: Immer wachsam bleiben. Keine Fehler, kein ­Zögern. Dieser Kerl ist gerissen und steckt voller Über­raschungen, und ihr wisst ja: Die einzigen Überraschungen, die ich mag, sind die, die wir für andere auf Lager haben. Sobald ein Raum gesichert ist, meldet ihr das über Funk. Wenn jemand die Zielperson sieht, festnehmen. Tödliche Gewalt nur, ich wiederhole, nur im äußersten Notfall. Keine nervösen Finger heute. Alles so weit klar?«

»Klar, Captain«, antworteten die sieben Mitglieder des Teams im Chor.

»Okay, Jungs, laden und entsichern. Ich will, dass das Ding in maximal sechzig Sekunden gelaufen ist. Positionen einnehmen, und dann kommt der Tag des Jüngsten Gerichts für diesen Scheißkerl.«

Zwanzig Sekunden später hörte Fallon das erste Status-Update über den Knopf in seinem Ohr.

»Team Beta in Position. Bereit zum Zugriff, Cap.«

Team Beta war das einzige Team, das sich hinten in der Gasse befand. Teams Alpha und Gamma würden durch die vordere Tür ins Haus kommen.

Um die Zielperson nicht frühzeitig zu warnen, fuhr einer der SWAT-Agenten im SUV den Hügel hinauf, während die verbliebenen Mitglieder der beiden Teams geduckt neben dem Wagen herliefen.

»Alles klar«, antwortete Fallon in sein Helmmikrofon. »Wir sind in zehn in Position.«

»Roger, Captain.«

»Los geht’s«, befahl der Captain seinen beiden Teams.

Sie bewegten sich schnell und lautlos. Fallon übernahm die Spitze, die übrigen Agenten folgten ihm in klassischer Zwei-mal-zwei-Formation. Statt durch das Gartentor mit den rostigen Angeln zu gehen, sprangen sie über den Zaun – kein Geräusch, keine Warnung.

Auf der Veranda gab Fallon ein Status-Update durch.

»Alpha und Gamma in Position.«

»Roger, Captain«, kam die Antwort von Davis aus Team Beta.

Morris, Captain Fallons Stellvertreter, schob rasch einen dünnen Schlauch unter der Haustür hindurch. Es handelte sich um ein Fiberskop, das an einen Dreizoll-Monitor an­geschlossen war.

Davis machte dasselbe bei der Hintertür.

Nirgendwo im Innern des Hauses regte sich etwas.

»Küche tot«, meldete Davis von hinten. »Keiner da.«

»Auch im Frontbereich: Bewegung negativ«, bestätigte Morris.

»Das Schloss macht einen sehr stabilen Eindruck, Captain«, berichtete Davis weiter. »Wir werden das Ding wohl ballistisch öffnen müssen.«

Rasch überprüfte Fallon Schloss und Angeln an der Vordertür – genau wie Morris, der seinem Captain mit einem Nicken signalisierte, dass er mit der Lageeinschätzung von Team Beta übereinstimmte.

Eine ballistische Türöffnung erfolgt mit einem regulären Gewehr, das mit barrikadebrechenden Geschossen, manchmal auch TESAR oder »disintegrators« genannt, geladen ist. Das sind Projektile, die speziell dafür konstruiert sind, Türriegel, Schlösser und Angeln zu zertrümmern, ohne dass eine Gefährdung durch Querschläger oder Durchschüsse besteht. Die Patronen sind brüchig und bestehen aus einem dichten, gesinterten Material, in der Regel Metallpulver, das zusammen mit einem Bindemittel, meistens Wachs, in Form gepresst wird. Sie zerstören ein Schloss oder eine Türangel und zerplatzen sofort nach Auftreffen auf ihr Ziel in sehr kleine Teile. Im Jargon des SWAT-Teams hießen die Projektile auch scherzhaft »Generalschlüssel« und die entsprechende Aktion »Die Avon-Beraterin kommt«.

»Roger und einverstanden«, antwortete Fallon und machte Luke, der das Gewehr mit der barrikadebrechenden Munition trug, ein Zeichen.

Luke trat vor und machte das Gewehr klar. Aus einer Distanz von etwa fünfzehn Zentimetern zielte er auf die obere Angel der Tür. Ein unmerkliches Nicken signalisierte Captain Fallon, dass er bereit war.

»Okay, Beta«, sagte der Captain ins Mikrofon. »Die Avon-Beraterin kommt auf eins. Drei … zwei … eins …«

BOOM.

Der Totschläger
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