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In dem bestürzten Schweigen, das sich im Raum ausbreitete, mischten sich Trauer, Ohnmacht und unbändige Wut. Obwohl die Website inzwischen nicht mehr zugänglich war, klebten Hunters, Garcias und Captain Blakes Augen noch immer an Hunters Monitor.

Auch Michelle Kelly und Dennis Baxter in der Kon­ferenzschaltung schwiegen. Michelle war die Erste, die schließlich ihre Sprache wiederfand.

»Detective Hunter, wir haben den Verkehr auf der Seite von Beginn an überwacht. In den wenigen Minuten, die sie online war, hat sie über fünfzehntausend Klicks bekommen.«

»Über fünfzehntausend Menschen haben dieser armen Frau beim Sterben zugesehen?«, fragte Captain Blake ungläubig.

»So sieht es aus«, bestätigte Michelle.

»Ms Kelly.« Hunter hatte das Wort ergriffen. »Können wir uns treffen? Falls nötig, stelle ich auch einen formalen Antrag auf Amtshilfe zwischen dem LAPD und dem FBI, ich würde nur gerne so bald wie möglich loslegen.«

»Auf jeden Fall. Ich will dabei sein, auch ohne formellen Antrag. Das hier ist wichtiger als irgendein Kompetenzgerangel. Mein Team und ich werden alles tun, um zu helfen. Ich bin heute noch bis spätabends im Büro, falls Sie vorbeikommen wollen.«

»Das mache ich, vielen Dank. Und danke auch für Ihre Hilfe heute.«

Sie beendeten die Verbindung.

»Über fünfzehntausend Besucher?«, wiederholte Captain Blake, noch immer halb unter Schock. »Die Sache ist schon bekanntgeworden, Robert, wir können sie unmöglich eindämmen. Besser, wir machen uns auf die Mutter aller Shitstorms gefasst.«

Hunters Handy klingelte. Das Display zeigte eine unbekannte Nummer an.

»Vielleicht ist das schon so ein Blutsauger von der Presse«, meinte Blake.

»Detective Hunter, Morddezernat I«, meldete sich Hunter.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, es wird lustig«, meinte der Anrufer heiter.

Hunter musste erst einmal tief durchatmen, bevor er die Taste für den Lautsprecher drückte.

»Und es waren noch fast zwei Minuten übrig.« Der Anrufer lachte. »O Mann. Das war wirklich was ganz Besonderes, oder? Ich weiß, ich weiß, sie wurde nicht wortwörtlich aufgefressen, aber glauben Sie mir, die Stiche sind so schmerzhaft, dass es sich anfühlt, als würde einem der Körper von scharfen Zähnen in Stücke gerissen.«

Captain Blake sah Garcia an. »Ist das der perverse Scheißkerl?«, wisperte sie.

Garcia nickte.

Blakes Nüstern blähten sich. Sie war drauf und dran, einen Schwall wüster Beschimpfungen loszulassen.

Als Hunter das bemerkte, hob er die Hand als Zeichen, dass sie lieber ruhig bleiben sollte.

»Wissen Sie, wie viele Leute das im Netz angeschaut ­haben, Detective?« Der Anrufer schien regelrecht aufgeräumt. »Mehr als fünfzehntausend. Ist unsere Gesellschaft nicht krank?« Er machte eine Pause und schnaubte. »Natürlich wissen Sie das bereits, Sie jagen schließlich Kranke, das ist Ihr Beruf, nicht wahr, Detective Hunter? Kranke wie mich.«

Hunter sparte sich eine Entgegnung.

»Die Frage ist nur«, fuhr der Anrufer fort, »wann gilt ­jemand als krank, Detective? Was ist mit all denen, die zugeschaut haben? Was ist mit denen, die ihre Stimme ab­gegeben haben? Sind die auch krank? Normale Durchschnittsbürger, Detective: Sozialarbeiter, Lehrer, Studenten, Taxifahrer, Kellnerinnen, Ärzte, Krankenschwestern, sogar Polizisten. Sie alle wollten sie sterben sehen.« Er überdachte seine Worte. »Nein … noch schlimmer: Sie wollten es nicht nur sehen, sie wollten dabei mithelfen, sie zu töten. Sie wollten auf den Button klicken. Sie wollten bestimmen, wie sie draufgeht.« Er machte eine Pause, damit das Gewicht seiner Worte voll zur Geltung kam. »Macht sie das nun alle zu Komplizen in einem Mord, oder fällt das unter ›morbide menschliche Neugier‹? Sie müssten das doch wissen, Detective Hunter. Sie sind sowohl Polizist als auch Kriminalpsychologe, oder nicht?«

Auch darauf antwortete Hunter nicht.

»Sind Sie noch dran, Detective?«

»Sie wissen, dass ich Sie kriegen werde, oder?« Aus Hunters Worten sprach felsenfeste Überzeugung.

Der Anrufer lachte. »Ist das so?«

»Ja. Ich werde Sie kriegen. Sie werden dafür bezahlen.«

»Mir gefällt Ihre Einstellung, Detective.«

»Das ist keine Einstellung. Das ist eine Tatsache. Ihre Tage sind gezählt.«

Der Anrufer zögerte einen Moment lang. »Ich denke, das wird sich zeigen. Aber da Sie im Hinblick auf Ihre Fähigkeiten als Ermittler so selbstsicher sind, Detective, schließe ich eine Abmachung mit Ihnen.«

Wieder schwieg Hunter.

»Ich war mir absolut sicher, dass zehn Minuten mehr als ausreichend waren, um es auf mindestens tausend Stimmen für eine der beiden Tötungsarten zu bringen. Ich war mir deswegen absolut sicher, weil unsere Gesellschaft vorhersehbar ist. Das wissen Sie, oder?«

Schweigen.

»Aber ich wusste auch, dass am Ende GEFRESSEN vorne sein würde.«

Eine lange Pause.

»Also, die Abmachung sieht folgendermaßen aus, Detective Hunter«, fuhr der Anrufer schließlich fort. »Wenn Sie mir sagen können, wieso ich wusste, dass die Zuschauer GEFRESSEN und nicht BEGRABEN wählen würden, werden Sie schon bald ihre Leiche finden. Wenn nicht, verschwindet sie. Wenn Sie von Ihrem Können so überzeugt sind, dann stellen Sie es jetzt mal unter Beweis.«

Hunter sah fragend zu Captain Blake auf.

»Sagen Sie ihm irgendwas«, drängte diese ihn. »Wir brauchen die Leiche.«

»Na los doch, Detective«, forderte der Anrufer ihn auf. »Das ist simple Psychologie. Ein Kinderspiel für Sie.«

Mehrere Sekunden verstrichen, ehe Hunter etwas sagte.

»Weil GEFRESSEN die menschliche Neugier kitzelt. BEGRABEN nicht.« Seine Stimme war ruhig und gefasst.

Captain Blake zog die Stirn in Falten.

»Gefällt mir«, sagte der Anrufer. »Bitte führen Sie das näher aus.«

Hunter kratzte sich an der Stirn. Er wusste, dass er für den Moment das Spiel des Anrufers mitspielen musste.

»Jeder weiß, was man von BEGRABEN zu erwarten hat. GEFRESSEN ist die Unbekannte. Wovon gefressen? Wie genau würde es funktionieren? Was kann einen Menschen überhaupt bei lebendigem Leibe fressen? Die angeborene menschliche Neugier gibt den Ausschlag, er entscheidet sich für das, was er nicht kennt.«

Eine Pause, gefolgt von lautem Gelächter und schließlich Applaus. »Bravo, Detective. Wie ich schon sagte, die Gesellschaft als Ganzes ist ziemlich berechenbar. Es war von Anfang an eine ausgemachte Sache.«

Hunter schwieg.

»Das muss Sie doch innerlich auffressen, oder, Detective?«

»Was?«

»Das Wissen, dass die überwältigende Mehrheit derjenigen, die sich diese Online-Show angesehen haben, ihren Spaß dabei hatten. Wahrscheinlich haben sie bei jedem Stich gejubelt. Sie haben es geliebt, ihr beim Sterben zuzusehen.«

Keine Erwiderung.

»Und wissen Sie was? Ich wette, dass Sie es kaum abwarten können, bis die nächste Vorstellung beginnt.«

Captain Blake bebte vor Zorn.

»Aber jetzt muss ich mich von Ihnen allen verabschieden. Ich habe noch viel zu erledigen.«

Im nächsten Moment war die Leitung tot.

Der Totschläger
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