40

Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Nebel um Michelle gelichtet hatte. Vor ihren Augen tanzten gleißend helle Punkte. Ihr Kopf tat weh, als steckte er in einer Schraubzwinge, und sie spürte den Blutdruck in der Wunde an ihrer Unterlippe so heftig pochen, dass sie das Gefühl hatte, die Lippe würde anschwellen wie ein Luftballon.

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Sophie. Sie kniete neben Michelle und hielt ihren Kopf in den Händen. Alles war so schnell gegangen, dass sie keine Zeit gehabt hatte zu reagieren.

Michelle sah sie mit verschleiertem Blick an. Wer war dieses Mädchen noch gleich? Ihr Gehirn kam erst langsam wieder in Gang.

»Michelle, alles klar bei dir?«, kam Harrys Stimme aus den Ohrstöpseln, die ihr um den Hals baumelten. Er sprintete bereits die East Market Street entlang auf den Skatepark zu. Auf einmal war wieder alles offen.

»Michelle?«, sagte Sophie.

Ganz plötzlich, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über ihr ausgekippt, sprang Michelles Gehirn wieder an. Sie fixierte Sophies Gesicht und wusste sofort wieder, was geschehen war. Ihre Hand flog an ihre Lippe, und sie fuhr zusammen, als ihre Fingerspitzen mit der Wunde in Berührung kamen. Sie nahm die Hand weg und betrachtete sie.

Blut.

Schlagartig wich die Verwirrung dem Zorn.

»Na warte«, sagte sie zu sich selbst und fummelte sich hastig die Ohrstöpsel wieder in die Ohren.

»Der Vogel versucht zu fliehen«, hörte sie Harry sagen.

»Das könnte ihm so passen«, entgegnete Michelle.

»Michelle, alles in Ordnung mit dir?«, fragte Harry. Er klang gleichzeitig erleichtert und außer Atem.

»Ich werd’s schon überleben«, gab sie grimmig zurück.

»Das war eine ganz schön heftige Kopfnuss.«

»Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen, verdammte Scheiße noch mal«, fluchte sie in ihr Mikrofon. »Seht lieber zu, dass ihr Bobby erwischt.«

»Sind schon dabei.«

Kaum hatte Bobby Michelle außer Gefecht gesetzt und war getürmt, hatte sich der Undercoveragent am Strand neben seinen Schäferhund gekniet und auf den davonrennenden Bobby gezeigt. »Fass, Junge. Fass.«

Der Hund war losgeschossen wie eine Rakete.

Bobby war schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Hund ihn eingeholt.

Das Kommando »Fass« bedeutete lediglich, dass der Hund einen Flüchtenden mit Hilfe seines Körpergewichts zu Boden drücken sollte. Ein ausgewachsener Schäferhund im vollen Lauf entwickelt dieselbe Impulskraft wie ein Motorrad bei fünfundzwanzig Meilen pro Stunde.

Bobby wurde nach vorn katapultiert und schlug hart auf dem Boden auf.

Eine Viertelstunde später saß er auf dem Rücksitz eines nicht gekennzeichneten SUVs mit getönten Scheiben, das in der Nähe des Strandes in einer Gasse parkte. Die Hände waren ihm mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Ein FBI-Agent saß links neben ihm, Michelle Kelly und Harry Mills ihm gegenüber.

Bobby hielt den Kopf gesenkt, den Blick auf seine Knie gerichtet.

»Brutales Arschloch«, sagte Michelle und betastete erneut ihre geschwollene Lippe.

Bobby sah nicht auf.

»Aber das macht nichts«, fuhr sie fort. »Denn wissen Sie was? Wir haben Sie am Sack, Sie erbärmliches Stück Scheiße. Sie werden für sehr, sehr lange Zeit einfahren.«

Bobby schwieg.

Michelle nahm Bobbys Rucksack, öffnete den Reißverschluss und kippte den Inhalt zwischen ihnen auf dem ­Boden aus. Viel war es nicht: verschiedene Schokoladentafeln, Kaugummipäckchen, drei Flaschen Cola, eine kleine quadratische Geschenkschachtel mit einer roten Schleife, ein Plan der näheren Umgebung sowie ein Schlüssel mit Anhänger. Keine Brieftasche. Kein Führerschein. Nichts, was seine Identität verraten hätte. Bobby war bereits gefilzt worden. Er trug keinerlei Ausweisdokumente bei sich.

»Was haben wir denn da?«, murmelte Michelle, während sie die Sachen durchwühlte.

Bobbys Blick folgte ihren Händen. »Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbeschluss? Das sind meine persönlichen … uff.«

Der Agent hatte Bobby den Ellbogen in die Rippen gerammt.

»Ich an Ihrer Stelle«, riet er, »würde mich darauf beschränken, die Fragen zu beantworten, die Ihnen gestellt werden, andernfalls kann die Angelegenheit sehr schnell hässlich werden … für Sie, meine ich natürlich.«

Michelle sammelte die Schokoladentafeln, Kaugummipäckchen und Colaflaschen auf und reichte sie an Harry weiter. »Die hier sollen so schnell wie möglich ins Labor«, wies sie ihn an, ehe sie den Blick wieder auf Bobby richtete. »Ich wette auf Ihre Freiheit, dass mindestens eine davon mit Drogen versetzt ist.«

Keine Antwort. Bobby fuhr fort, seine Knie anzustarren.

Michelle grinste. »Und was ist da drin?« Sie griff nach der Geschenkschachtel. Auf einem kleinen Kärtchen stand: Für Lucy, in Liebe. Sie löste die Schleife und nahm den Deckel ab.

Harry fiel die Kinnlade herunter. »Ich glaub’s ja wohl nicht.«

Michelle starrte wutentbrannt auf den Gegenstand in der Schachtel. »Rote Spitzenhöschen?«, brachte sie schließlich hervor. »Sie dachten, Lucy wäre dreizehn, und schenken ihr Reizwäsche?« Sie sah Harry an. »Wenn mir jemand eine Waffe gibt, kriegt die Kotztüte von mir eine Kugel ins Gesicht, hier und jetzt.«

Bobby rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her.

»Wissen Sie, eigentlich spielt es gar keine Rolle, dass Sie den Mund nicht aufmachen und uns weder Ihren wahren Namen noch sonst was verraten. Weil wir nämlich das hier haben.« Michelle hielt den Schlüssel mit dem Anhänger hoch, den sie in Bobbys Rucksack gefunden hatte. Auf dem Anhänger stand nichts als die Zahl 103. »Jetzt wissen wir auch, dass Sie sich irgendwo ganz in der Nähe ein Zimmer in irgendeinem schmierigen Hotel genommen haben. Vielleicht wird es ein paar Stunden dauern, aber wir finden das Hotel – und alles, was Sie im Zimmer gelassen haben. Ich wette, da liegt dann auch Ihre Brieftasche mit einem Ausweis.« Sie hielt kurz inne. »Oder noch besser, ein Laptop oder ein Smartphone.« Michelle beugte sich vor, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Bobbys entfernt war. Sie konnte sein billiges Eau de Cologne riechen. Seinen Pfefferminzatem. Sie lächelte ihn an. »Sie können sich nicht mal ansatzweise vorstellen, was wir alles aus einem Laptop oder der Festplatte eines Smartphones rausholen können. All die Monate haben Sie so fleißig gechattet, und Sie hatten keinen Schimmer, dass ich am anderen Ende war. Ich bin Ihre Lucy.« Michelle wartete einen Moment, damit die Worte bei Bobby ihre volle Wirkung entfalten konnten. »Schachmatt, Freundchen. Egal, was jetzt noch kommt, das Spiel ist aus.«

Der Totschläger
CoverImage.xhtml
9783843707237-1.xhtml
9783843707237-2.xhtml
9783843707237-3.xhtml
9783843707237-4.xhtml
9783843707237-5.xhtml
9783843707237-6.xhtml
9783843707237-7.xhtml
9783843707237-8.xhtml
9783843707237-9.xhtml
9783843707237-10.xhtml
9783843707237-11.xhtml
9783843707237-12.xhtml
9783843707237-13.xhtml
9783843707237-14.xhtml
9783843707237-15.xhtml
9783843707237-16.xhtml
9783843707237-17.xhtml
9783843707237-18.xhtml
9783843707237-19.xhtml
9783843707237-20.xhtml
9783843707237-21.xhtml
9783843707237-22.xhtml
9783843707237-23.xhtml
9783843707237-24.xhtml
9783843707237-25.xhtml
9783843707237-26.xhtml
9783843707237-27.xhtml
9783843707237-28.xhtml
9783843707237-29.xhtml
9783843707237-30.xhtml
9783843707237-31.xhtml
9783843707237-32.xhtml
9783843707237-33.xhtml
9783843707237-34.xhtml
9783843707237-35.xhtml
9783843707237-36.xhtml
9783843707237-37.xhtml
9783843707237-38.xhtml
9783843707237-39.xhtml
9783843707237-40.xhtml
9783843707237-41.xhtml
9783843707237-42.xhtml
9783843707237-43.xhtml
9783843707237-44.xhtml
9783843707237-45.xhtml
9783843707237-46.xhtml
9783843707237-47.xhtml
9783843707237-48.xhtml
9783843707237-49.xhtml
9783843707237-50.xhtml
9783843707237-51.xhtml
9783843707237-52.xhtml
9783843707237-53.xhtml
9783843707237-54.xhtml
9783843707237-55.xhtml
9783843707237-56.xhtml
9783843707237-57.xhtml
9783843707237-58.xhtml
9783843707237-59.xhtml
9783843707237-60.xhtml
9783843707237-61.xhtml
9783843707237-62.xhtml
9783843707237-63.xhtml
9783843707237-64.xhtml
9783843707237-65.xhtml
9783843707237-66.xhtml
9783843707237-67.xhtml
9783843707237-68.xhtml
9783843707237-69.xhtml
9783843707237-70.xhtml
9783843707237-71.xhtml
9783843707237-72.xhtml
9783843707237-73.xhtml
9783843707237-74.xhtml
9783843707237-75.xhtml
9783843707237-76.xhtml
9783843707237-77.xhtml
9783843707237-78.xhtml
9783843707237-79.xhtml
9783843707237-80.xhtml
9783843707237-81.xhtml
9783843707237-82.xhtml
9783843707237-83.xhtml
9783843707237-84.xhtml
9783843707237-85.xhtml
9783843707237-86.xhtml
9783843707237-87.xhtml
9783843707237-88.xhtml
9783843707237-89.xhtml
9783843707237-90.xhtml
9783843707237-91.xhtml
9783843707237-92.xhtml
9783843707237-93.xhtml
9783843707237-94.xhtml
9783843707237-95.xhtml
9783843707237-96.xhtml
9783843707237-97.xhtml
9783843707237-98.xhtml
9783843707237-99.xhtml
9783843707237-100.xhtml
9783843707237-101.xhtml
9783843707237-102.xhtml
9783843707237-103.xhtml
9783843707237-104.xhtml
9783843707237-105.xhtml
9783843707237-106.xhtml
9783843707237-107.xhtml
9783843707237-108.xhtml
9783843707237-109.xhtml
9783843707237-110.xhtml
9783843707237-111.xhtml
9783843707237-112.xhtml
9783843707237-113.xhtml
9783843707237-114.xhtml
9783843707237-115.xhtml
9783843707237-116.xhtml
9783843707237-117.xhtml
9783843707237-118.xhtml
9783843707237-119.xhtml
9783843707237-120.xhtml
9783843707237-121.xhtml
9783843707237-122.xhtml
9783843707237-123.xhtml