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Kaum hatten sie Patricia vor ihrem Mietshaus in Monterey Park abgesetzt, stellte Anna ihren Mann zur Rede.

»Okay, ich will nicht warten, bis wir zu Hause sind, um darüber zu reden, Carlos. Was zum Teufel ist hier los?« Anna klang noch immer aufgewühlt. »In Tujunga Village ist nichts vorgefallen, das hätte ich gemerkt. Keine Streifenwagen, niemand wurde verhaftet, kein Notfall, nichts, was irgendwie ungewöhnlich wäre.«

Garcia schaltete herunter und bog in südliche Richtung auf die North Mednick Avenue ein.

»Es hat mit eurem Fall zu tun, stimmt’s?«, fragte Anna, überflüssigerweise. »Das weiß ich, weil Robert die ganze Zeit auf die Straße gestarrt hat, als würde er nach was Ausschau halten. Nach wem sucht ihr? Woher wusstest du, dass ich mit einer Freundin shoppen bin? Wieso musst du mir solche Angst einjagen?« Erneut traten ihr Tränen in die Augen.

Garcia holte tief Luft.

»Rede mit mir, Carlos. Bitte.«

»Ich muss dich um was bitten«, sagte Garcia endlich, um Fassung bemüht.

Anna lehnte sich gegen die Beifahrertür, wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte ihren Mann schweigend an.

»Ich möchte, dass du für ein paar Stunden zu deinen Eltern fährst. Ich komme dann später und hole dich ab.«

Es dauerte geschlagene zwei Sekunden, bis Carlos’ Bitte bei Anna durchgesickert war. Augenblicklich war ihre Unruhe wieder da. »Was? Du hast doch gesagt, meinen Eltern geht es gut. Ist alles in Ordnung mit ihnen?«

»Ja, ja, ihnen geht es gut, Baby. Ihnen ist nichts passiert. Ich möchte bloß, dass du die nächsten paar Stunden dort bleibst. Ich muss zurück ins PAB und ein paar Sachen erledigen. Dann komme ich und hole dich ab.«

Anna wartete.

Garcia fügte nichts hinzu.

»Mehr willst du mir nicht verraten?«, fragte sie herausfordernd.

Einer der Gründe, weshalb es in Carlos’ und Annas Beziehung praktisch nie Spannungen gab, war, dass beide wussten, dass sie immer miteinander reden konnten, egal worum es ging. Und das taten sie auch. Ohne Vorwürfe, ohne Eifersucht und ohne gegenseitige Verurteilungen. Beide waren gute Zuhörer, die den anderen besser verstanden als sich selbst.

Anna sah ihrem Mann an, wie sehr er mit sich rang.

»Carlos«, sagte sie und legte ihm eine Hand aufs Knie. »Du weißt, dass ich dir vertraue. Das habe ich immer getan, und das werde ich auch immer tun. Wenn du willst, dass ich für ein paar Stunden zu meinen Eltern fahre, dann mache ich das, aber ich habe ein Recht darauf, den Grund dafür zu erfahren. Warum willst du nicht, dass ich nach Hause fahre? Was ist los?«

Garcia wusste, dass er Anna eine Erklärung schuldete. Er wusste auch, dass er ihr unmöglich den wahren Grund nennen konnte, ohne ihr Angst zu machen, und doch gab es keine Alternative. Wenn er log, würde sie ihn durchschauen. Das tat sie immer.

Erneut holte er tief Luft, dann berichtete er ihr, was sich kurz zuvor ereignet hatte.

Anna hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er fertig war, hatte sie erneut Tränen in den Augen, und Garcias Herz krampfte sich schmerzhaft in seiner Brust zusammen.

»Er war genau hinter uns?«, fragte Anna. »Und hat uns gefilmt?«

Garcia nickte.

»Und er hat das Ganze live im Internet übertragen?«

»Im Internet, ja«, sagte Garcia. »Aber nicht jeder konnte es sehen. Nur Robert und ich hatten Zugang, sonst niemand.«

Anna wollte und musste die technischen Details nicht erfahren.

»Bitte, Anna, bleib einfach die nächsten Stunden über bei deinen Eltern. Ich muss ein paar Dinge in die Wege leiten, außerdem will ich unsere Wohnung durchchecken.«

Anna blieb fast die Luft weg. »Du glaubst, er war bei uns zu Hause?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Garcia mit Nachdruck. »Aber ich will hundertprozentig sicher sein, der paranoide Cop in mir gibt sonst keine Ruhe, das kannst du dir ja vorstellen.«

Anna hätte nicht sagen können, ob das Gefühl, das in den Worten ihres Mannes mitschwang, Zorn oder Angst war.

»Das war also derselbe Kerl, der diese Reporterin von der L. A. Times gekidnappt und ermordet hat. Es stand heute Morgen in der Zeitung«, stellte sie fest. »Den Mord hat er auch im Internet übertragen, oder? Genau wie bei Pat und mir.«

Garcia brauchte ihr keine Antwort zu geben, Anna wusste, dass sie recht hatte.

Er hatte den Blick auf die Straße geheftet und umklammerte das Lenkrad fester, während er versuchte, seine ­Gefühle in Schach zu halten. Worum er Anna in Wahrheit bitten wollte, war, dass sie die Stadt verließ, bis dieser Psychopath gefasst war und hinter Gittern saß. Doch dazu wäre sie niemals bereit, selbst wenn ihr Leben tatsächlich in Gefahr wäre. Anna war eine entschlossene, eigensinnige und sehr engagierte Frau. Sie arbeitete mit sozial benachteiligten Senioren – Menschen, die auf sie angewiesen waren, und das jeden Tag. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie niemals die ihr anvertrauten Menschen einfach sich selbst überlassen. Zumal Garcia keine Ahnung hatte, wie lange die Jagd nach dem Killer noch dauern würde.

Garcia stimmte mit Hunter darin überein, dass der Täter nicht die Absicht gehabt hatte, Anna an diesem Tag etwas anzutun. Aber er verstand das Geschehene als Warnung, und es hatte ihm die Augen geöffnet. Schon morgen konnte der Täter seine Meinung ändern, und wenn nicht morgen, dann am nächsten Tag oder am übernächsten … und er musste sich eingestehen, dass es nur sehr wenig gab, was er dagegen tun konnte. Was der Killer an diesem Nachmittag getan hatte, hatte echte Furcht in ihm geweckt und ihm eine beängstigende Wahrheit vor Augen geführt: die Wahrheit, dass er trotz seines Berufs, trotz aller Bemühungen, Anna nicht rund um die Uhr beschützen konnte. Der Täter wusste dies. Und nun hatte er dafür gesorgt, dass Garcia und Hunter es ebenfalls wussten.

Der Totschläger
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