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Hunters und Garcias Büro war eine zweiundzwanzig Quadratmeter große Betonschachtel im hintersten Winkel des Stockwerks, auf dem das Raub- und Morddezernat beheimatet war. Es gab darin nicht viel mehr als zwei Schreibtische, drei altmodische Aktenschränke und eine große weiße Tafel, die zugleich als Pinnwand für ihre Ermittlungen diente. Trotzdem war es beengt.
Sie waren an ihre Schreibtische zurückgekehrt, wo sie sich nun wieder und wieder die Aufzeichnung aus dem Internet ansahen und den Anruf abhörten. Baxter hatte Hunters und Garcias Computer mit einer Software ausgestattet, die es ihnen erlaubte, den mitgeschnittenen Stream Bild für Bild zu betrachten. Und genau das war es, was sie während der letzten viereinhalb Stunden getan hatten. Sie hatten jeden Quadratzentimeter jedes einzelnen Bildes analysiert und nach Hinweisen abgesucht, egal wie klein.
Der Kameraausschnitt beschränkte sich größtenteils auf den Glasbehälter und den darin sitzenden Mann. Hin und wieder zoomte die Kamera näher an das Gesicht des Opfers heran oder nahm etwas im Wasser aufs Korn. Es gab nur eine einzige Abweichung von diesem Schema, nämlich als die Kamera einen Schwenk nach rechts machte, um die Wanduhr und die aktuelle Ausgabe der L. A. Times zu zeigen.
Die Wand war aus rotem Backstein gemauert und hätte zu jedem beliebigen Gebäude gehören können – zu einem Keller, einem Schuppen, einem Zimmer oder auch zu einer kleinen Garage an irgendeinem gottverlassenen Ort.
Die Uhr an der Wand war batteriebetrieben und rund mit schwarzem Rand. Ihr Durchmesser betrug etwa dreißig Zentimeter, und sie hatte ein leicht lesbares Zifferblatt mit arabischen Ziffern. Minuten- und Stundenzeiger waren schwarz, der Sekundenzeiger rot. Auf dem Zifferblatt stand kein Herstellername. Hunter schickte ein Bild der Uhr an sein Rechercheteam, auch wenn er wusste, dass die Chancen, sie zu einem Händler zurückzuverfolgen und dadurch den Käufer ausfindig zu machen, gegen null gingen.
Der Fußboden des Raums bestand aus Beton und war in keinster Weise auffällig. Böden wie ihn gab es überall.
Der Screenshot, den Hunter gemacht hatte, war perfekt geworden. Der Mann in seinem gläsernen Gefängnis schaute direkt in die Kamera. Hunter hatte das Foto bereits an die Vermisstenstelle gemailt. Der Ermittler, mit dem er telefoniert hatte, hatte ihm gesagt, dass die Gesichtserkennungssoftware aufgrund des Knebels im Mund des Opfers nur mit einer begrenzten Anzahl von Vergleichspunkten arbeiten konnte. Es sei möglich, dass diese für eine Identifikation ausreichten, falls der Mann tatsächlich als vermisst gemeldet worden war, doch man müsse abwarten. Hunter wies den Ermittler an, die Suche auf Fälle zu beschränken, die maximal eine Woche zurücklagen. Er hatte so ein Gefühl, dass der Anrufer sein Opfer nicht länger als einen Tag in seiner Gewalt gehabt hatte, bevor er es in den Glastank gesperrt hatte. Opfer, die achtundvierzig Stunden oder länger festgehalten wurden, zeigten immer die entsprechenden Symptome – Erschöpfungserscheinungen in Gesicht und Augen aufgrund von Schlafmangel, manchmal auch ein weggetretener Blick, weil der Täter dem Opfer Drogen verabreicht hatte. Die Körperhygiene litt ebenfalls beträchtlich, und es gab untrügliche Anzeichen von mangelnder Ernährung. Auf das Opfer im Glastank jedoch hatte keins dieser Symptome zugetroffen.
»Da ist nichts«, sagte Garcia, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und massierte sich die brennenden Augen. »In dem Raum gibt es nichts außer dem Wassertank, dem Opfer, der Uhr, der Zeitung und der Kamera, die alles aufgenommen hat. Der Kerl ist nicht dumm, Robert. Er wusste, dass wir sein Video aufzeichnen und komplett auseinandernehmen würden.«
Hunter atmete aus, ehe auch er sich die müden Augen rieb. »Ich weiß.«
»Also, ich für meinen Teil kann mir das nicht länger anschauen.« Garcia stand auf und ging zu dem kleinen Fenster an der Westseite des Raumes. »Diese Verzweiflung, dieses Flehen in seinen Augen …« Er schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich das sehe, spüre ich förmlich, wie seine Angst an mir hochkriecht wie ein giftiger Hundertfüßler. Und ich kann nichts machen, außer ihm immer wieder beim Sterben zuzusehen. Und wieder und wieder. Das macht mich ganz krank im Kopf.«
Auch Hunter hatte genug von den Aufnahmen. Ihm drehte sich jedes Mal der Magen um, wenn er das Gesicht des Mannes vor Hoffnung aufleuchten sah, als dieser merkte, dass der Wasserpegel nicht weiter anstieg. Und wie dann, kaum eine Minute später, eine schreckliche Angst in seinen Augen flackerte, als die Flüssigkeit ihm Haut und Fleisch zu zerfressen begann. Hunter konnte den exakten Moment bestimmen, in dem der Mann den Kampf aufgab, in dem er endlich begriff, dass er nicht überleben würde. Dass der Killer nur mit ihm spielte.
»Hat sein Tonfall oder so dir irgendwas verraten?«, fragte Garcia.
»Nein. Er war die ganze Zeit ruhig, außer das eine Mal, als er mich angeschrien hat, ich soll mich endlich entscheiden. Abgesehen davon gab es keine Ausfälle, keine Anzeichen von Erregtheit, nichts. Er hatte seine Emotionen und das Gespräch die ganze Zeit über im Griff.« Hunter ließ sich gegen seine Stuhllehne fallen. »Aber eine Sache gibt mir zu denken.«
»Und zwar?«
»Als ich ihm gesagt habe, dass er das nicht tun muss.«
Garcia nickte. »Da hat er geantwortet: ›Ich weiß, aber ich will.‹ Er hat gesagt, es würde ihm Spaß machen.«
»Genau. Und das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Opfer niemand Bestimmtes war. Vermutlich hat er es völlig willkürlich ausgesucht.«
»Der Kerl ist also wieder nur einer von diesen verdammten Psychos, die Leute ermorden, weil ihnen das einen Kick verschafft.«
»Das wissen wir noch nicht«, bremste Hunter seinen Partner. »Denn als ich ihm gesagt habe, dass ich die Entscheidung nicht treffen kann, weil ich nicht weiß, wer das Opfer ist, da hat er erwidert, dass ich das selbst rausfinden muss.«
»Und?«
»Und das würde doch darauf hindeuten, dass das Opfer eben nicht willkürlich ausgewählt war. Dass es einen konkreten Grund gab, weshalb es gerade diesen Mann getroffen hat, nur dass der Anrufer uns den eben nicht nennen wollte.«
»Soll heißen, er verarscht uns.«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Hunter abermals, ehe er sich mit dem Stuhl vom Schreibtisch abstieß, einen Blick auf die Uhr warf und frustriert ausatmete. »Aber ich bin auch erst mal damit fertig.« Er fuhr seinen Computer herunter. Erneut stellte sich das Gefühl der Ohnmacht ein, das ihn beim Anschauen der Live-Übertragung überkommen hatte. Es war, als brenne sie ihm ein Loch in die Brust. Aus der Aufzeichnung und dem Telefonmitschnitt ließ sich nichts weiter herausholen. Für den Moment blieb ihnen also nur die Hoffnung, dass die Anfrage bei der Vermisstenstelle etwas ergeben würde.