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Obwohl im Büro annähernd dreißig Grad herrschten, brach Hunter der kalte Schweiß im Nacken aus und lief ihm den Rücken hinab.
»Sind Sie bereit, Detective Hunter?«, fragte der Anrufer überflüssigerweise. »Ihre Lieblings-Website ist soeben wieder online gegangen. Die Adresse muss ich Ihnen ja nicht noch mal nennen, oder?«
Hunter war bereits dabei, den Domain-Namen in die Adresszeile seines Browsers einzugeben.
Die Website lud in weniger als drei Sekunden. Doch was Hunter darauf zu sehen bekam, ließ ihn stutzen. Diesmal hatte das Bild nicht den Grünstich eines Nachtsichtobjektivs, und die Übertragung kam auch nicht aus einem schmutzigen, dunklen Kellerverlies, sondern von einer belebten Straße mitten am helllichten Tag. Diesmal war die Kamera auch nicht statisch. Sie bewegte sich in gemächlichem Tempo mit dem Strom der Passanten, als würde ein Tourist Filmaufnahmen von seinem Urlaub in L. A. machen.
Hunters Augen wurden schmal.
Überall wimmelte es von Menschen. Männer und Frauen in den unterschiedlichsten Kleidern waren auf der Straße unterwegs, einige lässig in Jeans und T-Shirt, Shorts oder Sommerkleid, andere in Anzug und Kostüm. Manche schienen es eilig zu haben und hatten ihr Handy ans Ohr gepresst. Andere schlenderten gemütlich dahin – vielleicht weil sie einen Schaufensterbummel machten, es ließ sich nicht genau sagen, denn der Kamerawinkel war schmal, fast wie bei einem Tunnelblick. Hunter konnte sehen, wie die Menschen auf die Kamera zu- und an ihr vorbeigingen, doch was jenseits dieses kleinen Ausschnitts passierte, ließ sich allenfalls erahnen.
Rasch deckte Hunter die Muschel seines Telefonhörers mit der Hand ab. »Ruf Michelle an«, zischte er Garcia zu. »Die Website ist wieder online.«
Garcias Schreibtisch war vermutlich der aufgeräumteste Schreibtisch im gesamten PAB. Alles hatte seinen festen Platz, und alles war parallel zueinander angeordnet. Michelle Kellys Visitenkarte war die erste von dreien, die rechts von seinem Telefon nebeneinander aufgereiht lagen. Er wählte ihre Nummer, und Michelle nahm nach dem zweiten Klingeln ab.
»Michelle, hier ist Carlos.«
Michelle hatte sofort Garcias angespannten Tonfall registriert.
»Hey, Carlos, was gibt’s?«
Garcia gab etwas in die Adresszeile seines Browsers ein, während er sprach. »Er ist wieder online. Die Website ist wieder online.«
»Was?«
»Wir haben ihn gerade in der Leitung.«
Vom anderen Ende der Leitung war hektisches Tastaturgeklapper zu hören.
Inzwischen war die Seite auf Garcias Monitor geladen. Er betrachtete eine Weile verständnislos die Bilder der belebten Straße, dann sah er zu Hunter. »Was ist das?«
Hunter schüttelte andeutungsweise den Kopf.
»Carlos. Was soll das heißen – die Website ist wieder online?«, meldete sich Michelle zurück. »Da ist nichts.«
»Was?«
»Alles, was ich zu sehen bekomme, ist ERROR 404 – PAGE NOT FOUND.«
»Dann überprüfen Sie noch mal, was Sie eingetippt haben«, sagte Garcia und las selbst noch einmal den Domain-Namen in seiner Adresszeile durch. »Die Bilder sind live. Ich sehe sie hier vor mir.«
»Das hab ich schon überprüft. Sind Sie sicher, dass es dieselbe Adresse ist?«
»Hundertprozentig.«
Erneutes Tastaturklappern.
»Verdammt, er hat uns gesperrt«, sagte sie schließlich.
»Er hat was …? Wie kann er Ihren Zugang blockieren und unseren nicht?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich will mich jetzt nicht mit technischen Details aufhalten.«
Garcia schüttelte den Kopf. »Sie können es nicht sehen«, flüsterte er. »Jemand hat ihren Zugang geblockt, aber unseren nicht.«
Hunter rümpfte die Nase, wusste aber, dass er keine Zeit für Erklärungen hatte. Er stellte den Anruf auf Lautsprecher.
»Schauen Sie zu?«, wollte der Anrufer wissen.
»Ja, wir schauen zu«, gab Hunter mit ruhiger, fester Stimme zurück.
»Wo zum Geier ist das?«, sagte Garcia lautlos in Hunters Richtung und deutete auf seinen Bildschirm. »Rodeo Drive?«
Hunter schüttelte den Kopf. »Sieht mir nicht danach aus.«
Der Rodeo Drive galt als die bekannteste Shopping-Meile von L. A. Sie lag in Beverly Hills und war berühmt für ihre Designershops und Haute-Couture-Boutiquen. Tag für Tag zog es unzählige Menschen hierher. Aber Hunter hatte recht. Die Bilder sahen nicht so aus, als kämen sie vom Rodeo Drive. Sie hätten aus jeder beliebigen Einkaufsstraße der Stadt kommen können – in einer Stadt mit Tausenden von Einkaufsstraßen.
»Schöner Tag für einen kleinen Spaziergang, nicht wahr?«, bemerkte der Anrufer mit Singsang-Stimme.
»Stimmt«, pflichtete Hunter ihm bei. »Sagen Sie mir doch einfach, wo Sie gerade sind, dann gehe ich eine Runde mit Ihnen spazieren.«
Der Anrufer lachte. »Danke für das Angebot, aber ich glaube, ich habe für den Moment genug Gesellschaft. Sehen Sie nicht?«
Menschen strömten in alle Richtungen.
Hunter und Garcia klebten vor ihren Bildschirmen und hielten Ausschau nach etwas, das ihnen einen Hinweis darauf liefern konnte, von wo der Anrufer die Bilder sendete. Bis jetzt hatten sie nichts, aber auch gar nichts entdeckt.
»Ist es nicht wundervoll, in einer Stadt mit so vielen Menschen zu leben?«, fuhr der Anrufer fort. »Diese Energie, dieses Pulsieren?«
Hunter erwiderte nichts.
»Der Nachteil ist, dass Los Angeles so voll ist. Alle sind immer in Eile, müssen irgendwo hin und sind nur mit ihren eigenen Gedanken, ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Obsessionen beschäftigt. Sie nehmen keinerlei Notiz von ihren Mitmenschen.« Der Anrufer lachte, als würden ihn seine eigenen Worte köstlich amüsieren. »Ich könnte im Batman-Kostüm herumlaufen, und niemand würde sich auch nur nach mir umdrehen.«
Der Anrufer ging weiter, während er sprach, doch noch immer hatten Hunter und Garcia nichts gesehen, was ihnen irgendwie bekannt vorkam.
Plötzlich musste der Anrufer ein Stück nach links ausweichen, um nicht mit einem ihm entgegenkommenden Mann zusammenzustoßen, der den Blick auf sein Handy geheftet hatte und eine Textnachricht tippte. Als der Mann an ihm vorbeieilte und ihn dabei um wenige Zentimeter verfehlte, drehte sich der Anrufer um. Die Kamera folgte dem Mann mit dem Handy, der nach wenigen Metern eine dunkelhaarige Frau anrempelte, die in die gleiche Richtung unterwegs war wie der Anrufer. Der Mann mit dem Handy blieb nicht einmal stehen. Nicht eine Sekunde lang löste sich sein Blick vom Display seines Telefons.
»Also wirklich, haben Sie das gesehen?«, fragte der Anrufer. »Der Kerl hat gerade eine Frau angerempelt, und es interessiert ihn einen Scheißdreck. Kein ›Tut mir leid‹, kein entschuldigendes Lächeln … Er ist nicht mal langsamer geworden. Die Leute hier haben nur Augen für sich selbst, Detective.« Wieder ein Lachen, diesmal lag eine Spur Verachtung darin. »Niemand kümmert sich um irgendetwas außer um sich selbst.« Eine kurze Pause. »Die gute, alte amerikanische Art, was? Jeder ist sich selbst der Nächste, alle anderen können einen am Arsch lecken.«
Trotz der harten Worte schwang keine Wut in seiner Stimme mit.
Garcia hatte die Nase voll von der einseitigen Unterhaltung. »Haben Sie was gegen die amerikanische Art?«
Hunters Blick ging zu ihm.
»Ach, Detective Carlos Garcia, nehme ich an«, sagte der Anrufer. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Nein, ich habe nichts gegen die amerikanische Art. Im Gegenteil. Aber ich finde die Frage ein wenig seltsam – von einem Mann, der nicht einmal in diesem Land geboren wurde.« Wieder hielt er kurz inne. »Brasilien, habe ich recht?«
Carlos Garcia war tatsächlich in Brasilien geboren worden. In São Paolo, um genau zu sein. Er war der Sohn eines brasilianischen Staatspolizisten und einer amerikanischen Geschichtslehrerin. Im Alter von zehn Jahren war er, nachdem die Ehe seiner Eltern in die Brüche gegangen war, mit seiner Mutter nach Los Angeles gezogen.
»Wie zum Teufel …«, begann Garcia, aber Hunter schüttelte warnend den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass er sich nicht auf einen verbalen Schlagabtausch mit dem Anrufer einlassen sollte.
Ein Lachen drang durch die Leitung. »Es ist so leicht, an Informationen zu kommen. Man muss nur wissen wie, Detective Garcia.«
Garcia befolgte den Ratschlag seines Partners und verbiss sich eine Erwiderung.
Der Anrufer nahm das Schweigen als Aufforderung, fortzufahren. »Hier wimmelt es von Menschen, die von hier nach da hetzen und ihrem täglichen Leben nachgehen. Wissen Sie, wenn ich hier draußen bin, dann komme ich mir vor wie ein Kind im Bonbonladen. Diese Auswahl. Jeder könnte mein nächster Gast werden, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Unbewusst hielt Hunter den Atem an. War das der Grund für den Anruf? Der Mörder hatte ihnen gezeigt, wie er Menschen folterte und tötete. Er hatte ihnen gezeigt, wie er die Todesart auswählte. Würde er ihnen nun zeigen, wie er seine Opfer auswählte?
»Ich glaube allerdings, ich habe da schon jemanden im Sinn«, fuhr der Anrufer fort, ehe Hunter etwas erwidern konnte. »Können Sie erraten, wen?«
Hunter und Garcia rückten noch näher an ihre Bildschirme heran, doch die Kamera nahm keine konkrete Person aufs Korn.
Ein Stück weiter vorn, links im Bild, war eine blonde Frau stehen geblieben und suchte etwas in ihrer Handtasche. Meinte der Anrufer sie?
Ein eigenartig aussehender Mann mit einem dichten Schnauzbart, der den dünnen Strich seiner Lippen und die spitze Nase noch stärker betonte, näherte sich langsam der Kamera. Vielleicht hatte es der Anrufer auf ihn abgesehen?
Die Wahrheit war, dass jeder Mensch auf der Straße das nächste Opfer hätte sein können. Hunter und Garcia hatten keinerlei Möglichkeit, herauszufinden, auf wen der Anrufer sich bezog.
Der Mann mit dem Schnauzbart machte einen Schritt nach rechts, um dem Anrufer aus dem Weg zu gehen.
In Hunters Büro kam die Welt zum Stillstand.
Etwa drei Meter weiter vorn ging jemand. Die Kamera hatte die Person genau im Bild. Jetzt endlich wussten Hunter und Garcia, von wem der Killer gesprochen hatte.