24
Die Frau schien Anfang dreißig zu sein. Sie hatte lange, glatte, blondierte Haare, die feucht aussahen, wahrscheinlich vom Schweiß. Ihr ovales Gesicht wurde akzentuiert durch volle Lippen und tief liegende blaue Augen, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie geweint hatte. Rechts unterhalb ihrer Unterlippe befand sich ein Muttermal. Sie war durchschnittlich groß und trug nur Unterwäsche am Leib: ein violettes Höschen und einen dazu passenden BH.
Garcia spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.
Die Frau stand Todesängste aus. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, wie es nur ging, und ihr Blick sprang unablässig hin und her, als hielte sie verzweifelt nach etwas Ausschau. Immer wieder drehte sie den Kopf von rechts nach links, offenbar versuchte sie zu begreifen, wo sie war und was mit ihr passierte. Ihre Lippen bebten, und man hatte den Eindruck, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie lag auf dem Rücken und hatte nur wenig Bewegungsspielraum – allerdings nicht, weil sie gefesselt war, sondern weil sie in einer Art Gehäuse lag. Einer durchsichtigen Box aus Glas, Acryl oder einem ähnlichen Material gebaut. Allerdings war sie wesentlich kleiner als der Tank, den der Täter bei seinem ersten Opfer verwendet hatte. Die Frau hatte zu beiden Seiten nur etwa zwölf Zentimeter und über dem Kopf etwa acht Zentimeter Platz.
»Liegt sie in einem gläsernen Sarg?« Garcia warf Hunter einen Blick zu, woraufhin dieser ein Schulterzucken andeutete.
Dann öffnete er rasch ein Programm zum Aufzeichnen des Bildschirminhalts, das die EDV auf seinen Wunsch hin auf seinem Rechner installiert hatte, und begann die Übertragung mitzuschneiden.
Sofern der gläserne Sarg flach auf dem Boden lag, was man annehmen konnte, musste die Kamera, die die Bilder filmte, sich schräg darüber befinden. Die Frau war nur etwa bis zur Hüfte im Bild, ihre Beine waren nicht zu sehen.
Plötzlich überkam sie Panik, und sie begann verzweifelt mit den Fäusten an die Wände ihres Gefängnisses zu trommeln und mit den Füßen dagegenzutreten, doch das Glas war viel zu dick, als dass sie irgendetwas hätte ausrichten können. Sie schrie aus Leibeskräften, und die Adern an ihrem Hals traten hervor, als müssten sie jeden Moment platzen, doch weder Hunter noch Garcia hörten auch nur einen Ton.
»Was ist das da?«, fragte Hunter und deutete auf eine bestimmte Stelle im Bild.
Erst jetzt fiel Garcia eine dunkle Röhre auf, etwa zwölf Zentimeter im Durchmesser, deren Ende in einer Seitenwand der Glaskiste mündete.
Garcia starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht zur Belüftung?«
»Also«, dröhnte plötzlich die Stimme des Anrufers aus dem Lautsprecher. Die Anspannung im Raum wurde spürbar größer. »Was meinen Sie, sollen wir mit der Vorführung beginnen, Detective? Die Regeln sind diesmal allerdings ein klein wenig anders. Augen auf den Bildschirm.«
Plötzlich erschien das Wort SCHULDIG in Großbuchstaben am unteren Bildrand. Eine Sekunde später tauchte am rechten Bildrand, etwa in der Mitte, das Wort BEGRABEN auf, gefolgt von der Zahl 0 und einem grünen Button. Direkt darunter erschien das Wort GEFRESSEN, ebenfalls gefolgt von der Zahl 0 und einem Button. Oben am Bildschirm blinkten die Buchstaben SSV und die Ziffernfolge 678 zweimal kurz wie eine Warnung auf, bevor sie verschwanden.
»Was zum Henker läuft da?«, fragte Garcia.
Hunter verschlug es einen Moment lang den Atem. »Das ist eine Abstimmung.«
»Was?«
Der Anrufer lachte. Er konnte hören, wie Hunter und Garcia miteinander sprachen. »Alle Achtung, Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, Detective Hunter. Ihr Ruf ist wohlverdient. Es wird tatsächlich eine Abstimmung. Diesmal senden wir nämlich live im Internet.«
Garcia fuhr sich nervös mit der Hand durch die langen Haare.
»Ich habe ein wenig nachgedacht«, fuhr der Anrufer fort. »Und beschlossen, dass das Ganze doch viel schöner wird, wenn wir mehr Menschen ermöglichen, daran teilzunehmen, finden Sie nicht auch? Deswegen kann heute jeder abstimmen. Man muss nichts weiter tun, als auf einen der Buttons zu klicken.« Er machte eine effektvolle Pause. »Und das sind die Regeln, Detective: Die erste Todesart, die es auf eintausend Stimmen bringt, gewinnt. Klingt doch lustig, oder?«
»Warum tun Sie das?«, fragte Hunter.
»Das habe ich doch gerade gesagt: weil es lustig ist. Finden Sie das nicht auch? Aber ich sage Ihnen was, Detective Hunter: Damit die Sache noch spannender wird, gebe ich ihr eine Chance, weiterzuleben. Machen wir daraus einen Wettlauf gegen die Uhr, einverstanden? Wenn ich innerhalb von … sagen wir … zehn Minuten keine tausend Stimmen für eine der beiden Todesarten zusammenbekomme, lasse ich sie unversehrt laufen. Sie haben mein Wort. Wie klingt das?«
Hunter atmete aus.
»Ich finde, das klingt nach einem ziemlich fairen Angebot, oder?«
»Bitte tun Sie das nicht«, beschwor Hunter ihn, wurde jedoch ignoriert.
»Möchten Sie gerne der Erste sein, der seine Stimme abgibt, Detective Hunter?« Der Anrufer lachte, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. »Das dachte ich mir. Aber es gibt noch Hoffnung für sie. Die Website wurde gerade erst online gestellt. Vielleicht wird niemand sie sehen, und selbst wenn, vielleicht stimmt ja keiner ab. Wer weiß? In jedem Fall werden wir zehn sehr aufregende Minuten miteinander verbringen.«
Links unten am Bildschirmrand wurde eine Digitaluhr eingeblendet, die rückwärts zu laufen begann – 10:00, 9:59, 9:58 …
Plötzlich wurde aus der 0 neben dem Wort BEGRABEN eine 1, gleich darauf eine 2.
Der Anrufer lachte laut. »Hoppla, das war ich nicht, versprochen. Ich schummle nicht. Sieht so aus, als wäre das Rennen gestartet.«
Einen Moment später war die Leitung tot.