71
Garcia telefonierte noch mit dem Rechercheteam, als ihm Hunters Miene auffiel. Eine Miene, die so eisig war, dass die Luft im Büro fast gefror. Eine Miene, die nur eins bedeuten konnte: Ihr Mörder war wieder fleißig gewesen.
Sofort dachte Garcia an Anna, und ihm war, als müsste ihm das Herz in der Brust zerspringen. Er brach das Telefonat mitten im Satz ab, knallte den Hörer auf und zog in panischer Hast die Tastatur seines Computers zu sich heran.
Hunter stellte den Anruf auf Lautsprecher, bevor er ebenfalls nach seiner Tastatur griff.
»Nein, nein, nein, nein …«, flüsterte Garcia zu sich selbst, während er die Adresse eingab. Seine Finger zitterten.
Innerhalb weniger Sekunden erschien die Website auf den Bildschirmen der beiden Detectives.
Starren.
Blinzeln.
Verwirrung.
»Scheiße!«, entfuhr es Garcia schließlich. Er atmete aus und sackte auf seinem Stuhl in sich zusammen. Im ersten Moment empfand er nichts als Erleichterung.
Sie sahen ein menschliches Gesicht in Nahaufnahme, und es war nicht das von Anna, sondern das eines hellhäutigen Mannes Mitte dreißig. Er hatte ein ovales Gesicht, eine runde Nase, fleischige Wangen, schmale Augenbrauen und kurze dunkle Haare.
Das Bild hatte den altbekannten Grünstich, ein Hinweis darauf, dass der Killer wieder ein Nachtsichtobjektiv verwendete. Wie schon bei den ersten beiden Opfern kam also auch diesmal die Live-Übertragung aus einem dunklen Raum.
Die Pupillen des Mannes im Bild zuckten unablässig von rechts nach links. Verängstigt … verwirrt … flehentlich … als suchten sie nach einer Antwort. Man konnte sehen, dass er eine helle Augenfarbe hatte, allerdings machte der Grünstich genauere Aussagen unmöglich. Der Mann hatte einen ledernen Knebel im Mund, der so fest saß, dass die Riemen in seine Haut schnitten. Auf seinem Gesicht glänzte der Angstschweiß.
Hunter gab Garcia lautlos ein Zeichen, Michelle und Harry beim FBI Bescheid zu geben. Er wusste, dass die Zentrale den Anruf bereits mitschnitt.
Garcia benutzte sein Handy und bedeckte es beim Sprechen mit der Hand, damit der Anrufer ihn nicht hörte.
»Die Website ist wieder online«, flüsterte er, kaum dass Michelle abnahm.
»Wissen wir«, gab sie zurück. Ihre Stimme verriet große Anspannung. »Ich wollte Sie gerade anrufen. Wir tun, was wir können, aber er benutzt wieder die Mirror-Sites und springt von einem Server zum anderen. Wir können sie nicht zurückverfolgen.«
Das hatte Garcia bereits vermutet.
»Hat er sich wieder bei Ihnen gemeldet?«, fragte Michelle.
»Er ist gerade in der Leitung.« Garcia stand auf und legte sein Handy auf Hunters Schreibtisch, damit Michelle mithören konnte.
Plötzlich, genau wie bei der Übertragung des zweiten Mordes, tauchte mittig am unteren Bildrand das Wort SCHULDIG auf.
Als Nächstes erschien in der rechten oberen Ecke eine Ziffernfolge. Diesmal lautete sie 0123. Sie warteten auf eine neue Buchstabenkombination, ähnlich wie »SSV«, doch nichts geschah.
»Die Regeln sind dieselben wie beim letzten Mal, Detective«, erklärte der Anrufer mit einem unterdrückten Lachen in der Stimme. »Aber heute bin ich in gönnerhafter Stimmung, ja ich wage zu behaupten, sogar ein wenig übermütig. Statt tausend Stimmen innerhalb von zehn Minuten müssen es diesmal zehntausend sein. Was sagen Sie dazu? So haben Sie immerhin eine Chance.«
Hunter erwiderte nichts.
Etwa in der Mitte des rechten Bildrandes tauchte das Wort ZERQUETSCHEN auf, gefolgt von der Zahl 0 und einem grünen Button. Einen Sekundenbruchteil später folgte unmittelbar darunter das Wort STRECKEN, ebenfalls gefolgt von einer 0 und einem Button. Beide Buttons waren noch nicht aktiviert.
Hunter und Garcia betrachteten mit zusammengekniffenen Augen den Bildschirm. Genau in dem Moment begann die Kamera langsam weiter weg zu zoomen.
Stück für Stück kam der restliche Körper des Mannes ins Bild. Er war bis auf dunkle Boxershorts nackt. Man konnte ihn nicht als schlank bezeichnen, aber auch nicht als übergewichtig. Er schien auf einem breiten hölzernen Tisch zu liegen. Seine Arme waren über dem Kopf ausgestreckt, so dass sie ein V bildeten. Seine Achseln waren rasiert worden. Die Beine waren etwas über Schulterbreite gespreizt und wie die Arme lang ausgestreckt.
Der Zoomvorgang dauerte mehrere Minuten. Erst ganz zum Schluss wurden die Hände und Füße des Mannes sichtbar, und jetzt erkannten Hunter und Garcia auch, was es mit dem grausamen Wahlvorgang auf sich hatte.