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Hand- und Fußgelenke des Mannes steckten in dicken Ledermanschetten. Diese Manschetten wiederum waren an vier massiv aussehenden Eisenketten befestigt, die mit mechanischen Walzen verbunden waren. Die Konstruktion sah aus wie eine improvisierte, moderne Version der Streckbank, einem der grausamsten Folterinstrumente des Mittelalters, mit deren Hilfe die Gliedmaßen des Opfers ganz langsam immer weiter gedehnt werden konnten, bis sich die Knochen irgendwann aus den Gelenken lösten.

In Hunters Büro hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

»Aus Ihrem Schweigen schließe ich«, kam die Stimme des Anrufers aus dem Lautsprecher, »dass Ihnen allmählich klar wird, was ich vorhabe.« Er lachte bellend.

Auch diesmal kam keine Erwiderung von den Detec­tives.

»Aber das Bild ist noch nicht ganz vollständig«, fuhr der Anrufer fort. »Also lassen Sie mich das beheben.«

Die Kamera schwenkte langsam nach oben in Richtung Decke.

Plötzlich wurde die Tür zum Büro aufgestoßen, und Captain Blake kam hereingeplatzt. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Durcheinander aus Zorn, Fassungslosigkeit und Angst.

»Schauen Sie sich gerade das …«, setzte sie an, ehe Hunter sie mit erhobener Hand zum Schweigen brachte. Er deutete zum Telefonlautsprecher auf seinem Schreibtisch.

Zu spät.

»Na, so was«, sagte der Anrufer belustigt. »Wen haben wir denn da …?« Er sprach ohne Pause weiter. »Dem aufgebrachten Tonfall nach zu schließen, würde ich sagen – die Chefin des Raub- und Morddezernats höchstpersönlich. Captain Barbara Blake, ist der Name korrekt?«

Captain Blake wusste, dass der Killer ihren Namen je­derzeit auf der Website des LAPD hätte nachlesen können.

»Willkommen auf pickadeath.com, Captain. Wie schön, dass Sie uns heute beehren. Je mehr wir sind, desto lustiger wird’s.«

»Warum tun Sie das?«, fragte sie mit kaum zurückgehaltener Wut.

Hunter warf Blake einen mahnenden Blick zu. Regel Nummer eins für jegliche Kommunikation mit Tätern: Es gab nur einen Verhandlungspartner, es sei denn, der Täter wünschte es ausdrücklich anders. Denn wenn es mehrere Verhandlungspartner gab, konnte das leicht zu Verwirrung führen, die den Täter verärgerte und somit den Erfolg der Verhandlungen gefährdete.

»Warum ich das tue?«, wiederholte der Anrufer verächtlich. »Verlangen Sie etwa von mir, dass ich Ihren Job für Sie erledige, Captain Blake?«

Hunter sah Blake an und schüttelte leicht den Kopf.

Blake schwieg.

Die Kamera schwenkte weiter aufwärts.

Erneut kniff Hunter die Augen zusammen. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Als Erstes fiel ihm auf, dass der Ort, von dem der Killer sendete, nicht derselbe war wie bei den ersten zwei Morden. Man sah keine Ziegelwand im Hintergrund, und der Raum wirkte wesentlich größer. Dann bemerkte er noch etwas anderes: die Kamerabewegung. Es dauerte einige Sekunden, bis er herausgefunden hatte, was es war. Er fing Garcias Blick ein und formte lautlos einige Worte mit den Lippen.

Garcia verstand nicht, schüttelte den Kopf und rückte näher an Hunter heran.

»Ferngesteuerte Kamera«, flüsterte Hunter.

»Was?« Garcia und Captain Blake sahen ihn verständnislos an.

Hunter schaltete sein Telefon auf stumm. »So wie die Kamera zoomt und schwenkt«, erklärte er, »ganz langsam und gleichmäßig – das per Hand hinzubekommen ist praktisch unmöglich.«

Garcia und Blake richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.

»Er steuert sie fern«, sagte Hunter. »Vielleicht ist er nicht mal vor Ort.«

»Na und?«, gab Captain Blake unwirsch zurück. »Was bringt uns das?«

Hunter zuckte mit den Schultern.

Die Kamera war unterdessen zum Stillstand gekommen. Unwillkürlich zuckten sie zusammen. Einige Meter über dem Opfer und der selbstgebauten mittelalterlichen Folterapparatur hing ein Betonklotz von der Decke. Er schien etwa fünfzig Zentimeter dick, einen Meter zwanzig breit und knapp zwei Meter lang zu sein. Mit Sicherheit wog er mehr als eine Tonne. In die Oberseite des Betonklotzes waren zehn metallene Haken eingelassen, an denen dicke Ketten hingen. Man konnte jedoch nicht sehen, woran die Ketten weiter oben befestigt waren.

»So, jetzt ist das Bild komplett«, sagte der Anrufer mit einem leisen Lachen. »Aber die wahre Schönheit meiner Konstruktion ist … dass ich ihn nicht auf einen Schlag zerquetschen muss. Ich kann den Betonblock ganz langsam herunterlassen und ihm den Leib Stück für Stück zusammendrücken wie in einer riesigen Schraubzwinge, bis jeder einzelne seiner Knochen zermalmt ist.«

Hunter hatte bereits geahnt, dass es eine Besonderheit geben würde. Die Streckbank war ursprünglich als Folterinstrument gedacht gewesen, nicht zur Hinrichtung. Ihr Hauptzweck hatte darin bestanden, die Glieder des Verhörten langsam zu strecken, um ein Geständnis oder Informationen zu erzwingen. Die Schmerzen, die diese Art der Folter auslöste, waren so enorm, dass der Gefolterte in der Regel binnen kürzester Zeit aufgab und das Strecken nach wenigen Sekunden abgebrochen werden konnte. Hielt man allerdings die Walzen nicht an, so wurde der Körper früher oder später – angefangen bei den Armen – auseinandergerissen. Kurz darauf würde der Tod durch Blutverlust eintreten, doch bevor das Opfer starb, hätte es schreckliche Qualen gelitten. Jemanden mit einem riesigen Betonklotz zu zerquetschen war, verglichen mit einem Folterinstrument wie der Streckbank, relativ schmerzlos und ging sehr, sehr rasch. Und ein rascher Tod kam für diesen Killer nicht in Frage.

»Sie verdammtes Schwein«, platzte es aus Captain Blake heraus. Sie scherte sich nicht länger um Dienstvorschrift und Regeln.

Die Antwort des Anrufers bestand aus herzhaftem Gelächter. »Ich denke, es ist an der Zeit, mit der Vorstellung zu beginnen. Viel Vergnügen.«

Die Leitung war tot.

Auf dem Bildschirm wurden beide Buttons aktiviert, und in der linken unteren Bildschirmecke begann die Digitaluhr mit ihrem Countdown – 10:00, 9:59, 9:58 …

Der Totschläger
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