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»Ich muss mich für diese plumpe Improvisation entschuldigen«, sagte Graham, an Hunter gewandt. »So hatte ich mir meine letzte Sendung gewiss nicht vorgestellt, aber da ich Sie und Ihren Partner unterschätzt habe, Detective, war dies das Beste, was ich in der knappen Zeit zuwege gebracht habe.« Eine ganz kurze Pause. »Aber genug der Entschuldigungen. Ich wette, Sie fragen sich, wie um alles in der Welt ich es geschafft habe, die Frau Ihres Partners in meine Gewalt zu bringen, wenn sie doch rund um die Uhr von einer Polizeistreife bewacht wurde.«

Hunter sagte nichts.

»Nun, wenn man die Identifikationsnummer des betreffenden Fahrzeugs kennt, wie schwer, glauben Sie, ist es dann für jemanden wie mich, sich in das Funksystem des LAPD zu hacken, so zu tun, als wäre ich die Zentrale, und die Streife abzuberufen, Detective?«

»Sie müssen sie gehen lassen, Graham«, sagte Hunter endlich. Er hatte nach wie vor kein freies Schussfeld. »Sie hat nichts mit Ihrem Plan zu tun. Das hatte sie nie. Sie wollen mich, nicht sie. Sie geben mir die Schuld, nicht ihr. Sie hatte an dem, was Ihrem Sohn passiert ist, keinen Anteil, weder vor noch nach der Sache auf der Brücke.«

»Das ist wahr«, räumte Graham ein. »Sie war nie Teil meines ursprünglichen Plans. Doch wie gesagt, aufgrund jüngster Ereignisse war ich gezwungen zu improvisieren, und wenn ich ehrlich bin, finde ich, dass es bis jetzt sehr gut läuft.«

UHR: 1:27, 1:26, 1:25 …

RETTEN: 29 783.

HINRICHTEN: 29 794.

Hunter korrigierte seine Schusshaltung.

»Nur zu, Detective, schießen Sie«, forderte Graham ihn auf. »Ich weiß, dass Sie es wollen. Ich weiß auch, dass Sie ein hervorragender Schütze sind. Ich habe Ihre komplette Akte studiert. Aus dieser Entfernung können Sie einer Fliege die Flügel abschießen. Alles, was Sie brauchen, ist die Gelegenheit dazu.«

Hunter schwieg.

»Was ist los, Detective Hunter, lässt Ihr Selbstvertrauen Sie im Stich? Sind Sie sich doch nicht so sicher, ob Sie mich mit einem Schuss töten können? Ach so, ich vergaß. Wenn Sie danebenschießen, könnten Sie die Frau Ihres Partners umbringen. Wie würden Sie ihm das nur erklären?«

Keine Antwort.

»Ich habe noch eine Überraschung für Sie, Detective Hunter. Die Kamera oben an der Wand rechts von Ihnen überträgt ebenfalls, was hier gerade geschieht. Allerdings nicht ins World Wide Web, sondern nur an Ihren Partner im Police Administration Building – und an alle, die möglicherweise bei ihm zuschauen.«

Hunters Aufmerksamkeit ließ nicht eine Sekunde nach.

»Oh, und er kann uns auch hören. Das Mikrofon ist eingeschaltet. Also, lassen Sie mich Ihnen folgende Frage stellen, Detective Hunter: Was, glauben Sie, würde Ihr Partner Ihnen in diesem Moment sagen? Würde er wollen, dass Sie schießen, oder nicht? Dabei gebe ich Folgendes zu bedenken: Falls Sie mich nicht treffen und wie durch ein Wunder seine Frau ebenfalls verfehlen, bin ich an der Reihe, den Abzug zu drücken.« Er presste den Lauf der Waffe fester gegen Annas Kopf. »Ich weiß jedenfalls, dass ich aus dieser Distanz nicht danebenschießen würde.«

Hunters Körper spannte sich an.

Wie um ihn zu reizen, trat Graham ganz kurz hinter Anna hervor.

Hunter hielt den Atem an. Mit der linken Hand griff er die Waffe fester, während er seine rechte ein klein wenig entspannte, damit sein Finger am Abzug flexibler war und sein Arm den Rückstoß besser abfangen konnte. Doch der Gedanke, dass Anna Grahams Schutzschild war, ließ ihn zögern, und der Moment gab Graham die Gelegenheit, wieder hinter ihr in Deckung zu gehen.

UHR: 1:01, 0:59, 0:58 …

RETTEN: 31 125.

HINRICHTEN: 31 148.

»Sartre hat einmal gesagt«, fuhr Graham fort, »dass die einzige wirklich freie Entscheidung des Menschen ist, ob er Selbstmord begehen will oder nicht. Sind Sie mit dem Zitat vertraut, Detective Hunter?«

Hunter spürte, wie sich eine kalte Angst in seinem Innern ausbreitete.

»Ja oder nein, Detective?«, fragte Graham.

»Ja«, antwortete Hunter.

Graham hielt kurz inne. »Gut, weil ich Sie nämlich jetzt zu genau dieser Entscheidung zwingen werde, Detective. Sie wollen das Leben der Frau Ihres Partners retten? Dann halten Sie sich Ihre Waffe an den Kopf und drücken Sie ab.«

Totenstille senkte sich über den Raum. Selbst die Luft schien stillzustehen.

»Sie haben Zeit, bis die Uhr bei null angelangt ist«, fügte Graham hinzu. »Keine Sekunde länger.«

UHR: 0:47, 0:46, 0:45 …

RETTEN: 33 570.

HINRICHTEN: 33 601.

»Es ist eine simple Entscheidung, Detective Hunter«, fuhr Graham fort. »Das Leben einer Unschuldigen für das eines Schuldigen. Wenn Sie sich die Waffe an den Kopf halten und abdrücken, wird sie leben, ich garantiere es Ihnen. Ihr wird kein Haar gekrümmt werden. Aber wenn die Uhr bei null ist und Sie immer noch da stehen, werde ich ihr Gehirn im ganzen Raum verteilen, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken.« Er entsicherte seine Waffe. »Was danach passiert, spielt für mich keine Rolle mehr. Wie gesagt, das Schicksal von MSDarkDays liegt nicht in Ihrer Hand. Sie und ich, wir können nichts tun, um es zu ändern. Begreifen Sie, was hier geschieht, Detective? Ich will von ­Ihnen wissen, ob Sie, um sie zu retten, genauso viel tun, wie Sie damals bei meinem Sohn getan haben, oder ob Sie sich diesmal mehr anstrengen.«

Hunter schwieg.

UHR: 0:28, 0:27, 0:26 …

RETTEN: 33 888.

HINRICHTEN: 33 903.

»Ich will, dass Sie sich umbringen, so wie mein Sohn sich umgebracht hat«, sagte Graham in verächtlichem Ton. »Ich will danebenstehen und zusehen, so wie Sie bei ihm danebengestanden und zugesehen haben.«

In diesem Moment gingen Hunter eine Million Dinge durch den Kopf, doch er wusste, dass er keine Zeit hatte, über irgendetwas nachzudenken.

»Polizisten müssen darauf vorbereitet sein, für andere ihr Leben zu lassen, nicht wahr, Detective Hunter? Aber sind Sie auch wirklich dazu bereit, oder ist das alles nur dummes Gerede? Würden Sie wirklich Ihr Leben für das eines anderen Menschen opfern, Detective? Würden Sie Ihr Leben opfern, um das eines Unschuldigen zu retten?«

UHR: 0:16, 0:15, 0:14 …

RETTEN: 34 146.

HINRICHTEN: 34 155.

Hunter wusste, dass ihm keine Zeit blieb. Er wusste auch, dass er Graham Fisher unterschätzt hatte. Er war so viele Möglichkeiten im Kopf durchgegangen, wie die Begegnung mit Graham verlaufen könnte, doch dass er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte, war keine davon gewesen.

Nun begriff er, dass Graham ihn tatsächlich die ganze Zeit über zum Narren gehalten hatte. Das große Finale seines Plans hatte von Anfang an so ausgesehen. Wie Graham gesagt hatte: Er wollte dabei zuschauen, wie Hunter sich das Leben nahm, so wie Hunter zugeschaut hatte, als sein Sohn Brandon sich das Leben genommen hatte. Erst dann wäre Grahams Rache vollendet. Es war alles perfekt inszeniert. Er sendete den letzten Akt sogar an Garcia, damit dieser hautnah miterleben konnte, wie Hunter darüber entschied, ob seine Frau lebte oder starb.

Hunter hatte keinen Plan, keine Zeit und, wenn er ehrlich war, nur eine einzige Option. Er wusste, dass Graham sich nicht von seinem Vorhaben würde abbringen lassen. Sobald die Uhr bei null angekommen war, würde er Anna erschießen. Er hatte dieselbe Entschlossenheit im Blick und in der Stimme wie sein Sohn in jener Nacht auf der Brücke. Er suchte weder Hilfe noch Erlösung. Seine Entscheidung war schon vor langer Zeit getroffen worden.

»Zehn Sekunden, Detective«, sagte Graham.

Hunter betrachtete Anna. Seine letzten Zweifel waren verflogen.

Er hob die Waffe und hielt sich den Lauf unters Kinn, schloss jedoch nicht die Augen, wie die meisten Menschen es wohl getan hätten. Er ließ sie geöffnet … stolz … und blickte unverwandt geradeaus.

Die Zeit, die ein Neunmillimeter-Geschoss benötigt, um in den Schädel einzudringen und auf der anderen Seite wieder auszutreten, beträgt drei Zehntausendstelsekunden. Dabei ­zertrümmert es zunächst die Schädeldecke, um dann mit derartig hoher Geschwindigkeit die Gehirnmasse zu durchschlagen, dass das Nervensystem keine Zeit hat, Schmerzreize zu senden. Bei korrektem Eintrittswinkel geht die Kugel in aller Regel durch die Großhirnrinde, das Kleinhirn, sogar den Thalamus, und das Gehirn hört auf zu funktionieren, was den sofortigen Tod zur Folge hat.

Hunter setzte die Waffe so an, dass er sicher sein konnte, genau dieses Resultat zu erzielen.

UHR: 0:04, 0:03, 0:02 …

Hunter hielt den Atem an.

Der Totschläger
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