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Harry Mills war aus dem Untergeschoss nach oben gekommen, um Hunter und Garcia in der Eingangshalle des FBI-Gebäudes abzuholen. Er führte sie am Empfangstresen vorbei durch die Sicherheitstüren, den Flur entlang und schließlich in den Fahrstuhl. Diesmal jedoch drückte er statt des Knopfs für Untergeschoss 1 den für Untergeschoss 3.
»Michelle ist im Schießstand im dritten Untergeschoss«, ließ Harry sie wissen. »Auf die Art lässt sie Dampf ab – Heavy Metal und ein Papierziel, das sie in Fetzen ballern kann.« Die Fahrstuhltüren schienen ewig zu brauchen, um sich zu schließen. Harry stach wiederholt auf den Knopf ein.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Hunter.
Harry zuckte die Achseln. »Wir haben gerade schlechte Nachrichten bekommen. Ein Opfer aus einem der Pädophilen-Fälle, die wir bearbeiten, hat vor einer Stunde Selbstmord begangen. Sie war zwölf.«
Das eintretende Schweigen wurde erst durch die roboterhafte Frauenstimme unterbrochen, die verkündete, Untergeschoss drei sei erreicht.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Harry führte sie einen weiteren kahlen Flur entlang. Das Licht kam von einer Reihe Leuchtstoffröhren an der Decke. Sie bogen erst links ab, dann rechts und gelangten schließlich an eine dicke Doppeltür aus dunklem Glas. Harry zog seinen FBI-Ausweis durch das elektronische Lesegerät, tippte eine sechsstellige Nummer in den Ziffernblock ein, und die Tür öffnete sich summend.
Bereits im kleinen Vorraum drang ihnen der vertraute Lärm von Pistolenschüssen ans Ohr. Ein Waffenmeister saß alleine in einem abgetrennten Kabuff, sichtbar nur durch ein großes Fenster aus Sicherheitsglas. Harry meldete die beiden Detectives an.
»Sie ist in der gleichen Kabine wie immer«, gab der Waffenmeister Auskunft und deutete die Richtung mit einer Bewegung seines Kopfes an.
Ein weiterer kurzer Gang führte sie zum eigentlichen Schießstand, wo der Lärmpegel auf ein Fünffaches anschwoll. Zwölf Schießkabinen lagen hier in einer Reihe, auf einen großen Zielbereich ausgerichtet. Die ersten vier Kabinen waren von FBI-Agenten in faltenfreien schwarzen Anzügen, gelb getönten Schießbrillen und dicken Ohrschützern belegt. Keiner nahm von den Neuankömmlingen Notiz.
Die nächsten sieben Kabinen waren leer. Michelle Kelly stand in der allerletzten Kabine. Sie trug ein schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und schwarze Boots. Sie hatte sich die langen Haare eingedreht und locker über die rechte Schulter nach vorn gelegt. Statt der Ohrenschützer hatte sie sich weiße Ohrstöpsel in die Ohren gesteckt. Als sie sich ihrer Kabine näherten, sahen sie, wie sie in rascher Folge mit einer halbautomatischen Handfeuerwaffe sechs Schuss auf ein zwanzig Meter entferntes Papierziel in Gestalt eines männlichen Torsos abgab.
Michelle zog sich die Ohrstöpsel heraus und sicherte ihre Waffe, bevor sie sie vor sich auf den Sims der Kabine legte. Sie drückte den Knopf, der den Schlitten mit der Zielscheibe steuerte, und der männliche Torso kam wie Superman auf sie zugeflogen.
Sechs Körpertreffer – vier in die Herzgegend, einer in die linke Schulter und einer im Übergang zwischen Bauch und Brust.
»Ausgezeichnet geschossen«, stellte Hunter fest.
Michelles Augen funkelten. »Wenn Sie glauben, Sie können es besser, dann nehmen Sie sich eine Waffe, Sie Angeber.«
Garcia und Hunter legten verdutzt den Kopf schief.
»Das wollte ich damit nicht sagen«, gab Hunter zurück. »Und das war auch nicht sarkastisch gemeint. Sie haben wirklich sehr gut geschossen.«
»Für eine Frau, meinen Sie, oder was?«
Hunter sah erst Garcia, dann Harry, dann wieder Michelle an. »Das habe ich ebenfalls nicht gesagt und auch nicht so gemeint.«
Garcia, der spürte, dass sich ein Konflikt anbahnte, machte diskret einen Schritt zurück. Was auch immer hier los war, er wollte sich lieber aus der Sache raushalten.
»Warum holen Sie sich nicht eine Waffe?«, forderte Michelle Hunter abermals auf. »Na los, FBI gegen LAPD, Mann gegen Frau – wie auch immer Sie es nennen wollen. Sehen wir mal, wie gut Sie schießen können.«
Hunter hielt ihren glühenden Blick einen Moment lang fest. Sie hatte definitiv noch nicht genügend Dampf abgelassen.
»Die Mühe können wir uns schenken«, sagte er. »Ich bin kein besonders guter Schütze.« Er deutete mit dem Kinn auf das Papierziel, das Michelle gerade vom Schlitten herunternahm, um ein neues aufzuhängen. »Außerdem haben wir nicht viel Zeit, Michelle.«
»Was für eine bescheuerte Ausrede. Das dauert höchstens ein paar Sekunden«, hielt sie dagegen und schob ein neues Magazin in ihre Waffe. »Kommen Sie mit einer Neunmillimeter klar?«, fragte sie, nur um sich die Frage gleich darauf selbst zu beantworten. »Aber natürlich. Harry, machst du mal?« Sie deutete zur Waffenkammer.
Hunter und Garcia wussten, dass es vergebliche Liebesmüh wäre, mit einer Frau zu diskutieren, wenn sie so gelaunt war wie Michelle gerade. Noch dazu, wenn sie eine Waffe in der Hand hielt.
Eine Minute später war Harry mit Ohrenschützern, einer gelb getönten, entspiegelten Brille und einer Glock 19 Neunmillimeter wieder da – die gleiche Waffe, die auch Michelle benutzte.
Hunter lehnte die Brille ab.
»Standardübung, sechs Schuss«, sagte Michelle, obwohl das Magazin der Glock 19 fünfzehn Kugeln fasste. Sie zeigte auf die leere Kabine zu ihrer Linken. »Nur tödliche Schüsse, und halten Sie sich bloß nicht zurück. Das würde ich merken.«
Garcia schielte zu Hunter hinüber, sagte aber nichts.
Hunter nahm Kabine Nummer zehn, von Michelle aus gesehen die übernächste. Michelle steckte sich die Stöpsel wieder in die Ohren, drehte die Lautstärke ihres MP3-Players auf und nickte Hunter zu. Der jedoch wartete, bis Michelle den ersten Schuss abgegeben hatte.
Die Schüsse kamen schnell hintereinander. Zwölf Schuss innerhalb von acht Sekunden.
Als der Lärm sich gelegt hatte, nahmen beide ihren Gehörschutz ab und drückten auf den Knopf für den Schlitten.
Michelles Ziel wies drei Herzschüsse auf, zwei Kopfschüsse – linke Wange und Stirn – sowie einen Treffer im Hals. Lächelnd nahm sie die Zielscheibe ab.
Hunter hatte mit einem Schuss die linke Schulter getroffen, die anderen fünf waren über die Brustgegend verteilt. Nur zwei von ihnen waren tödliche Treffer ins Herz.
Michelle begutachtete Hunters Ergebnis. »Nicht sehr beruhigend, wenn man bedenkt, dass Ihr Motto ›Schützen und Dienen‹ ist.«
»Wieso?«, mischte sich Garcia ein, der ebenfalls Hunters Ziel betrachtete. »Jeder dieser Schüsse hätte den Täter gestoppt.«
»Stimmt«, musste Michelle einräumen. »Aber ich habe extra gesagt, tödliche Schüsse, oder nicht?« Sie funkelte Hunter an. »Wollen wir noch mal?«
Hunter sicherte seine Waffe und gab sie Harry zurück. »Das hat keinen Sinn. Das sollten tödliche Schüsse sein«, gestand er und sah dabei seinem Partner in die Augen.
Garcia mied Michelles Blick, weil er befürchtete, sie würde in seiner Miene lesen wie in einem offenen Buch. Unzählige Male schon war er dabei gewesen, während Hunter unten am Schießstand des LAPD ganze Magazine in die Stirn eines dreißig Meter entfernten, beweglichen Ziels geleert hatte. Fünfzehn Schuss, verteilt auf eine Fläche nicht größer als ein Tennisball. Garcia war selbst ein passabler Schütze, aber er hatte noch nie jemanden gesehen, der mit einer Handfeuerwaffe so präzise umging wie Hunter. Auf zwanzig Meter Entfernung hätte Hunter dem Mann mit seiner Waffe ein Smiley Face ins Gesicht schießen können.
Hunter sah Michelle an. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich kein besonders guter Schütze bin.«
Es folgte unbehagliches Füßescharren.
»Tut mir leid, dass ich Sie so angeschnauzt hab. Und dass ich Sie gezwungen hab zu schießen«, sagte Michelle endlich und holte das Magazin aus ihrer Waffe. »Ist irgendwie kein guter Tag heute.«
»Das können Sie laut sagen«, pflichtete Garcia ihr bei.
Hunter nickte lediglich.
Beide Detectives wussten, dass Michelle vermutlich nur noch aggressiver geworden wäre, hätte Hunter sich nicht auf das Wettschießen eingelassen. Dass er aber mitgespielt und sie, ohne dass sie es merkte, hatte gewinnen lassen, hatte sie milder gestimmt. Die Veränderung war deutlich spürbar. Sie war noch immer aufgewühlt, hatte aber ihre Feindseligkeit ihnen gegenüber abgelegt.
»Können Sie uns jetzt erklären, wieso wir heute Vormittag die Internetübertragung sehen konnten, Sie aber nicht?«, fragte Garcia, der keinesfalls noch mehr Zeit vergeuden wollte.
»Klar«, sagte Michelle. »Aber lassen Sie uns erst mal irgendwohin gehen, wo’s ein bisschen ruhiger ist.«