76

Obwohl Hunters und Garcias Büro an der Westseite des Police Administration Building lag und auf die South Spring Street hinausging, drehten sich alle instinktiv zum Fenster.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte Captain Blake. »Wie kann das möglich sein, wenn er gleichzeitig all das hier jetzt in diesem Moment live überträgt?«

»Weil er die Kamera und alles andere per Fernsteuerung kontrolliert«, antwortete Hunter. »Deswegen.«

Blake überlegte kurz. »Verdammter Mist«, knurrte sie dann. »Ist er vielleicht im Park?«, wandte sie sich an Seth.

Der City Hall Park, oder South Lawn, wie ihn viele nannten, war eine etwa 0,7 Hektar große, von Bäumen überschattete Grünfläche vor dem berühmten Los Angeles City Hall Building. Er lag in der West 1st Street direkt gegenüber vom Eingang des PAB.

»Wäre möglich«, meinte Seth. »Wir mussten es triangulieren«, erklärte er. »Das ist nicht so exakt wie eine Ortung des GPS-Chips im Handy. Nichtsdestotrotz, wir sind hier im Stadtkern von Los Angeles, da ist die Genauigkeit wesentlich höher, als wenn er von irgendwo außerhalb der Stadt anrufen würde – wir konnten den Bereich auf fünfzig bis hundert Meter eingrenzen.«

»Und dieser Bereich befindet sich unmittelbar draußen vor dem PAB?«, fragte Captain Blake erneut. Sie hatte immer noch ihre Zweifel.

»Das ist richtig«, bestätigte Seth auch diesmal.

»Okay, danke Ihnen«, sagte Blake, ehe sie nach dem Hörer auf Garcias Schreibtisch griff.

»Was haben Sie vor, Captain?«, erkundigte sich Hunter.

»Alle verfügbaren Einheiten da rauszuschicken, was glauben Sie denn?«

»Und was sollen die dort machen?« Diese Frage kam von Garcia. »Jeden Mann verhaften, der ein Handy in der Hand hat?«

Sie zögerte. Ihr Blick ging von Garcia zu Hunter. »Der Wahnsinnige, der für das hier verantwortlich ist« – sie zeigte auf den Computerbildschirm –, »steht direkt vor unserer Tür. Soll ich da etwa hier rumsitzen und Däumchen drehen?«

UHR: 4:41, 4:40, 4:39 …

ZERQUETSCHEN: 8155.

STRECKEN: 8146.

»Wahrscheinlich war er da, während er mit uns telefoniert hat«, räumte Garcia ein. »Arrogant genug ist er, und solche Spielchen geben ihm das Gefühl von Macht, aber jetzt wird er garantiert nicht mehr da unten stehen, Captain. Er hat doch gewusst, dass wir den Anruf zurückver­folgen würden. Und wir konnten ihn diesmal nur deshalb lokalisieren, weil er es zugelassen hat. Das gehört doch alles zu seinem Plan.«

»Carlos hat recht, Captain«, sprang Hunter seinem Partner bei. »Er wollte, dass wir wissen, dass er direkt vor dem PAB stand, als er angerufen hat, und ich wette, er wusste exakt, wie lange wir brauchen würden, um den Anruf zu triangulieren.«

»Es ist fast sechs Minuten her, dass er aufgelegt hat«, ergänzte Garcia. »Wahrscheinlich ist er längst über alle Berge.«

»Der Meinung bin ich allerdings nicht«, widersprach Hunter. »Ich denke, er ist noch ganz in der Nähe.«

Captain Blake funkelte ihn schweigend an.

»Wie Carlos ganz richtig gesagt hat«, erklärte er, »ist er arrogant, außerdem erregt ihn dieses Katz-und-Maus-Spiel. Er ist bis vor unsere Haustür gekommen, um uns zu pro­vozieren und das Spiel ein bisschen riskanter und aufregender zu machen … wenigstens für ihn. Er wird sehen wollen, wie wir auf seinen kleinen Streich reagieren. Er wird irgendwo sein, von wo aus er die West 1st Street und den South Lawn beobachten kann …« Hunter hielt inne, weil er über etwas nachdenken musste. Unvermittelt kamen ihm Christina Stevensons Schlafzimmer und die Schrift an der Scheibe hinter den Vorhängen in den Sinn. »Nein, halt, ich liege falsch«, ruderte er zurück. »Er wird uns nicht nur beobachten, um zu sehen, wie wir reagieren. Er wird uns beobachten, um zu sehen, ob wir es finden.«

Auf Captain Blakes Stirn erschienen tiefe Falten. »Was finden?«

»Seinen Hinweis«, sagte Hunter. »Das ist seine Art zu spielen.«

Zum nunmehr dritten Mal nahm Captain Blake Garcias Telefonhörer in die Hand. Sie tippte eine interne Durchwahl und begann gleich darauf Kommandos in die Leitung zu bellen.

»Sagen Sie ihnen, sie sollen den Park und sämtliche Straßen in unmittelbarer Nähe des PAB durchkämmen, Captain«, riet Hunter. »Sagen Sie ihnen, sie sollen alles ab­suchen – Mülleimer, Bänke, Blumenbeete, alles.«

UHR: 3:15, 3:14, 3:13 …

ZERQUETSCHEN: 9199.

STRECKEN: 9180.

Auf dem Bildschirm sahen sie, wie die Kamera an den Mann auf dem Holztisch heranzoomte. Die Angst in seinen Zügen war um ein Vielfaches stärker geworden, als hätte er von irgendwoher eine Warnung erhalten oder als ahnte er, dass seine Zeit bald abgelaufen war.

Es war eine erwiesene Tatsache, dass, wenn ein Mensch eines seiner Sinne beraubt wurde, die übrigen Sinne diesen Verlust auszugleichen versuchten, indem sie sensibler wurden. Vielleicht lag es daran – und an einem neuerlichen Adrenalinausstoß –, dass die Kräfte des Mannes plötzlich wieder zum Leben erwachten und er sich gegen seine Fesseln zu wehren begann. Er zog und zerrte an ihnen, wand sich und strampelte, so heftig er konnte. Umsonst. Die Ledermanschetten saßen zu fest, die Ketten waren zu dick. Kein Mensch, egal wie stark und fit, hätte die Kraft besessen, diesem Foltertisch zu entkommen.

Genauso schlagartig, wie der Mann zu kämpfen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Seine letzten Reserven waren aufgebraucht. All seine Hoffnungen und Gebete hatten sich als vergeblich erwiesen.

Niemand würde kommen. Es würde nicht noch in letzter Minute ein Wunder passieren.

»Warum zum Teufel stimmen die Leute denn immer noch ab?«, blaffte Captain Blake völlig fassungslos. »Inzwischen wissen doch alle, dass es kein Spiel ist und auch kein Werbegag für einen Film. Das da ist real. Die Zeitungen haben dafür gesorgt, dass jeder da draußen darüber Bescheid weiß.« Sie zeigte auf den Monitor. »Der Mann wird sterben. Kein Fake. Keine Tricks. Alle wissen es, und sie stimmen trotzdem ab … Wieso?«

»Weil das die kranke Realität ist, in der wir heute leben, Captain«, sagte Hunter. »Den Leuten ist es schlichtweg egal. Sie laden ihre Happy-Slapping-Videos oder Filme von Gangfights auf YouTube hoch, und die Klicks gehen in die Hunderttausende. Je brutaler es ist, desto besser. Die Leute sind ganz heiß darauf. Man zeigt ihnen echte Gewalt – nicht inszeniert, keine Schauspieler –, und sie rasten schier aus vor Begeisterung. Wenn man dann daraus auch noch eine Reality-Show macht und den Leuten die Möglichkeit gibt, durch Abstimmen das Geschehen zu beeinflussen, kann man sicher sein, dass Millionen einschalten. Jeder will aufs Knöpfchen drücken, einfach nur weil er es kann. Der Killer weiß das. Er kennt die psychologischen Mechanismen, die dahinterstecken. Er kennt den Wahnsinn unserer heutigen Gesellschaft. Deswegen ist er auch so selbstgewiss. Es ist ein Spiel, von dem er weiß, dass er es gar nicht verlieren kann – ein vielfach erprobtes Rezept, dessen Auswüchse wir jeden Tag im Fernsehen zu sehen bekommen.«

Die Kamera zeigte nun das Gesicht des Mannes. Seine wässrigen Augen wurden noch glasiger, sein Blick trübte sich. Er wusste, dass es aus war.

Abermals vibrierte Captain Blakes Handy in ihrer Sakkotasche. Diesmal holte sie es gar nicht mehr heraus, sondern ließ es einfach klingeln.

UHR: 2:04, 2:03, 2:02 …

ZERQUETSCHEN: 9969.

STRECKEN: 9965.

Totenstille.

UHR: 1:49, 1:48, 1:47 …

ZERQUETSCHEN: 9995.

STRECKEN: 9995.

Alle hielten den Atem an.

… 10 000.

Der Totschläger
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