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Sofort nach Ende der Übertragung rief Garcia Anna auf der Arbeit an. Ihr ging es gut. Sie ahnte nicht, was gerade passiert war, doch er wusste, dass sie es schon bald erfahren würde. Das konnte er nicht verhindern. Er wollte sich einfach nur vergewissern, dass sie wohlauf war. Nachdem er aufgelegt hatte, ging Garcia auf die Toilette, schloss sich in eine Kabine ein und übergab sich in aller Stille.
Hunter saß derweil an seinem Schreibtisch und versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen, während er mit aller Macht gegen die Wellen von Übelkeit ankämpfte, die immer wieder aus seinem Magen hochschwappten. Ihm war klar, dass er sich die gesamte Übertragung erneut würde ansehen müssen, vermutlich sogar mehrmals, aber im Augenblick war er dazu noch nicht imstande. Erst mal musste er raus aus dem Büro.
Zwei Minuten später waren er und Garcia unten und sprachen mit dem Sergeant, der die Durchsuchung des City Hall Park und der Straßen rund um das PAB koordinierte.
»Bis jetzt gibt es – Abfall«, berichtete der Sergeant, sichtlich genervt von der Müll-Schnitzeljagd, mit der er beauftragt worden war. Er hatte den ganzen Morgen Dienst am Empfang geschoben und noch vor fünfzig Minuten keine Ahnung gehabt, was überhaupt passiert war. »Einpackpapiere in allen Formen und Größen«, sagte er, sein Tonfall an der Grenze zum Sarkasmus. »Von Hamburgern, Sandwiches, Schokoriegeln, Twinkies – allem, was das Herz begehrt. Außerdem noch Wagenladungen voll Getränkedosen, Flaschen und Kaffeebechern.«
Hunter hörte dem Mann zu, während er gleichzeitig mit den Augen den Park, die Straßen und sämtliche Gebäude in der Umgebung absuchte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass der Killer noch in der Nähe war. Der war zu stolz auf sein Werk, als dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hätte. Nein, er würde mit eigenen Augen sehen wollen, wie die Polizei auf seine dreiste Aktion – ein Anruf direkt von der Schwelle des PAB aus – reagierte, erst recht wenn sie glaubte, dass er womöglich etwas hinterlassen hatte, das es nun zu suchen galt. Ob er ein Psychopath war oder nicht, so etwas musste ihm ein Gefühl tiefer Befriedigung verschaffen. Es ist dasselbe Prinzip, wie wenn man jemandem etwas schenkt, das man mit viel Liebe selbst gemacht oder ausgewählt hat. Die wahre Freude kommt durch die Reaktion des Beschenkten beim Auspacken.
Ja, dachte Hunter. Der Killer sieht auf jeden Fall zu. Er ist noch in der Nähe. Kein Zweifel. Aber wo?
Hunter sah sich um, doch der Feierabendverkehr hatte gerade eingesetzt. Hunderte Menschen kamen von der Arbeit und machten sich auf den Weg nach Hause. Auf den Straßen und im Park waren zu viele Leute unterwegs, es gab zu viele Gebäude, zu viele Orte, von denen aus man den Park im Blick hatte, ohne Verdacht zu erregen oder von anderen bemerkt zu werden. In ganz Downtown L. A. hätte der Killer sich für seine Zwecke keinen besseren Ort aussuchen können als den City Hall Park. Dass er direkt gegenüber vom PAB lag, setzte dem Ganzen noch die Krone auf.
Der Sergeant zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und betupfte sich damit die schweißnasse Stirn. »Wir tüten jedes Fitzelchen Abfall ein, und wissen Sie warum?« Offenbar hatte er keine Lust, auf eine Antwort zu warten. »Weil uns niemand gesagt hat, wonach wir da draußen eigentlich suchen, verdammt noch mal, und falls das Gesuchte zufällig ein Stück Kaugummipapier ist und wir es liegen lassen, bin ich nachher derjenige, der den Kopf hinhalten muss, und wegen so einem Mist riskiere ich garantiert nicht meine Rente. Wenn Sie auf was Spezielles aus sind, können Sie das ganze Zeug selber sortieren. Viel Glück dabei.«
Das Funkgerät, das der Mann am Gürtel um seine ausladenden Hüften trug, knackte laut, bevor man eine dünne Stimme hörte.
»Äh … Sergeant, ich glaube, ich habe …« KRRRK, SCHHRK. »… hier.«
Der Sergeant nahm das Funkgerät vom Gürtel und drückte den Sprechknopf. »Negativ, Officer. Zehn-eins. Wiederholen Sie bitte.«
Beide Detectives wussten selbstverständlich, dass zehn-eins das Polizeikürzel für »schlechter Empfang« war.
Mehr Knacken und Rauschen.
Der Sergeant ging um Hunter und Garcia herum auf die andere Seite.
»Ich sagte, ich glaube, ich habe hier was gefunden, Sergeant«, meldete der Officer. Diesmal war das Signal deutlich besser.
Reflexartig wandte sich der Sergeant den beiden Detectives zu. Er wollte sehen, ob sie die Meldung gehört hatten.
Das hatten sie.
»Hol mich doch der Teufel«, sagte der Sergeant. »Was ist es denn?«
»Weiß nicht genau, Sergeant.«
»Okay. Wo sind Sie gerade?«
»In der nordöstlichen Ecke, beim Abfalleimer.«
Hunter, Garcia und der Sergeant drehten sich um und schauten in die entsprechende Richtung. Sie standen neben der Frank-Putnam-Wasserskulptur in der Mitte des Parks und waren daher nicht allzu weit von der nordöstlichen Ecke entfernt. Sie konnten einen jungen Officer erkennen, der neben einem Abfalleimer stand und ihnen zuwinkte. Rasch eilten sie zu ihm.
Der Officer war Anfang zwanzig und sah aus, als käme er frisch von der Polizeiakademie. Er hatte strahlend blaue Augen, von roten Aknemalen übersäte Wangen und eine spitze Nase. Er trug Latexhandschuhe und hielt einen kleinen schwarzen Camcorder in der Hand. Er grüßte die drei mit einem kurzen Nicken.
»Den hier habe ich da drin gefunden, Sergeant.« Er deutete links neben sich auf den Abfalleimer. »Lag in einer gewöhnlichen braunen Sandwichtüte aus Papier.« Er übergab dem Sergeant die Kamera, der sie kaum eines Blickes würdigte, sondern sie sofort Hunter hinstreckte.
»Das ist Ihre Show«, meinte er gelangweilt.
Hunter streifte sich Handschuhe über und nahm die Kamera entgegen. Die Aufschrift wies sie als eine Sony HDR CX250 aus. An der Seite hatte die Kamera ein ausklappbares Display.
»Ich weiß ja nicht so genau, wonach wir suchen, Sir«, erklärte der Officer. »Aber das ist eine nagelneue Digitalkamera, mindestens ein paar hundert Dollar wert. So was wirft man doch nicht weg.«
»Wo ist die Sandwichtüte, in der sie gelegen hat?«, fragte Hunter den Officer, der ihm augenblicklich einen Asservatenbeutel aus durchsichtigem Plastik präsentierte.
»Schon fertig eingetütet, Sir«, sagte er. »Ich habe mir gedacht, Sie wollen das bestimmt vom übrigen Müll getrennt haben.«
Garcia lobte den Officer für seine gute Arbeit, ehe er rasch die Sandwichtüte in Augenschein nahm.
Nichts.
Keine Kennzeichnung, keine Flecken, keine Aufschrift.
Er und Hunter richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Digitalkamera.
»Haben Sie sie eingeschaltet?«, wollte Hunter von dem Officer wissen.
Der schüttelte den Kopf. »Nicht mein Befehl, Sir. Ich habe sie bloß gefunden und es sofort gemeldet.«
Hunter nickte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er die Kamera sofort in die Kriminaltechnik bringen sollte, doch in Wahrheit gab es keinen handfesten Hinweis, dass der Camcorder tatsächlich vom Täter in den Abfalleimer gelegt worden war.
Hunter klappte das Display aus und erstarrte. Die Kamera einzuschalten konnte er sich sparen. Was er sah, war Beweis genug.