82

Dennis Baxter teilte ihnen mit, dass er die gesamte Internetübertragung von seinem Schreibtisch aus verfolgt hatte. Dass der Anruf des Täters zurückverfolgt worden war, wusste er allerdings noch nicht. Hunter klärte ihn in knappen Worten über die Ereignisse der letzten Minuten auf.

»Und die da hat er im Park in einen Mülleimer geworfen?«, fragte Baxter mit Blick auf die Digitalkamera, die Hunter ihm auf den Tisch gelegt hatte. Vom ausgeklappten Display starrte ihm das Wort STRECKEN entgegen.

»Genau«, bestätigte Garcia. »So, wie’s aussieht, hat er alles ferngesteuert.«

Baxter dachte kurz nach.

»Wie schwierig wäre so was zu realisieren?«, fragte Garcia.

»Für ganz normale Leute? Ziemlich schwierig. Für jemanden, der Kenntnisse im Programmieren hat und sich mit Elektronik auskennt? Kinderkram. Er muss bloß ein Programm schreiben, das den Abstimmungsvorgang überwacht, und es mit einem zweiten Programm verknüpfen, das die Mechanik beider Apparate steuert. Sobald eine ­Todesart die erforderliche Anzahl von Stimmen erreicht hat – in diesem Fall zehntausend –, wird der entsprechende Mechanismus in Gang gesetzt. Es ist dasselbe Prinzip wie bei einem stinknormalen Timer, nur dass er statt der Uhrzeit eine Zahl eingesetzt hat. Und die Kamerabewegung hätte er von jedem Ort aus mit einer ganz gewöhnlichen Smartphone-App steuern können.«

Ein paar Schreibtische weiter klingelte ein Handy, und alle wandten sich um. Der Klingelton war die Titelmelodie von Star Wars.

Hunter ließ sich Baxters Worte durch den Kopf gehen. Es war durchaus vorstellbar, dass der Killer bei den voran­gegangenen Übertragungen genau dasselbe gemacht hatte. Wenn er gewollt hätte, hätte er alles aus der Ferne steuern können. Es gab keinen Grund, weshalb er hätte vor Ort sein müssen, und auch keinen Beweis dafür.

Baxter nahm ein Paar Latexhandschuhe aus seiner obersten Schreibtischschublade, streifte sie über und nahm vorsichtig die Kamera in die Hand.

»Der Akku ist wahrscheinlich leer«, klärte Garcia ihn auf. »Haben Sie ein Ladekabel, das dazu passt?«

Baxter nickte. »Hab ich.« Doch statt danach zu suchen, drehte er die Kamera um und öffnete eine winzige Klappe an der Unterseite des Gehäuses. Er stutzte und kaute auf der Unterlippe herum. »Aber ein Ladekabel wird uns in diesem Fall nicht viel bringen.«

»Und wieso nicht?«

»Das ist eine CX250«, erklärte Baxter und deutete auf die Modellbezeichnung an der Seite der Kamera. »Ein ziemlich weit verbreitetes Modell, und der Grund, weshalb sie kompakter ist als einige der teureren Kameras, ist der, dass sie keinen internen Speicher besitzt. Man braucht ­einen sogenannten Memorystick Pro Duo. Soll heißen: Alle Aufnahmen werden ausschließlich auf einer herausnehmbaren Karte gespeichert, die hier reinkommt.« Er zeigte auf die geöffnete Klappe. Das Fach war leer. »Bei diesem Mo­dell«, fügte er hinzu, »muss man den Memorystick erst runterdrücken, bis es klickt, bevor er sich rausnehmen lässt.« Er machte eine Aufwärtsbewegung mit dem Zeigefinger. »Ein Sicherheitsmechanismus. Das bedeutet, der Memorystick ist nicht versehentlich rausgefallen. Er wurde entfernt.«

Das ließ die beiden Detectives kurz innehalten.

»Ich kann ein Ladekabel besorgen und sie anschließen, wenn Sie wollen. Dann lässt sich die Kamera einschalten, aber mehr auch nicht. Sie werden keine Aufnahmen sehen können, falls Sie das erwartet haben.«

Natürlich hatten die beiden Detectives genau das getan.

»Das heißt, die Kamera kann uns nichts liefern?«, fragte Garcia.

»Zumindest keine Bilder«, lautete Baxters Antwort. »Wie gesagt, die Kamera hat keinen internen Speicher, von dem man was runterladen könnte. Ohne den Memorystick ist die Kamera wie eine analoge Kamera ohne Film. Bloß ein schwarzer Kasten mit einem Objektiv dran.«

»Machen wir’s trotzdem«, beschloss Hunter nach einem kurzen, unbeholfenen Schweigen. Im Moment hätte er dem Killer alles zugetraut.

»Eine Sekunde«, sagte Baxter und verschwand in einem kleinen Raum. Sekunden später kehrte er mit einem Ladekabel zurück, das ein wenig größer war als ein reguläres Handykabel. Er verband es mit der Kamera und schaltete sie ein.

Nichts.

Die Kamera funktionierte ordnungsgemäß, doch da der Memorystick fehlte, geschah nicht das Geringste, als sie die Abspieltaste betätigten.

»Wie gesagt«, meinte Baxter. »Kein Stick – keine Bilder oder Filme, die man sich anschauen könnte.«

Lange Zeit sagte niemand ein Wort. Hunter musste sich eingestehen, dass er tatsächlich irgendwelche Aufnahmen befürchtet hatte. Was genau, wusste er selbst nicht – vielleicht ein kurzes Video von einem der Opfer vor seiner Entführung, oder wie es um Gnade flehte oder Ähnliches. Irgendeine neue Wendung, die sie noch weiter in die Irre führen und die Ermittlung noch komplizierter machen würde.

Warum sollte er uns eine leere Kamera dalassen?

Wenn der Killer lediglich beweisen wollte, dass er während seines Anrufs tatsächlich vor dem Gebäude gestanden hatte, hätte er seine kleine Spitze gegen die Polizei auf jeden beliebigen Gegenstand kritzeln können – ein Stück Papier, eine Hamburgerschachtel, ein Sandwich-Einwickelpapier, einen Pappbecher … was auch immer. Zweifellos hatte er damit gerechnet, dass das LAPD, sobald sein Anruf geortet worden war, sofort den Inhalt jedes Mülleimers im Park durchsuchen und sicherstellen würde. Früher oder später wären sie dabei auf seine Botschaft gestoßen, egal worauf sie geschrieben war.

Nein, dachte Hunter. Selbst eine kompakte Digitalkamera ist viel zu groß und unhandlich für so einen simplen Zweck. Es muss einen anderen Grund geben.

Seine nächste Überlegung war, dass die Kamera dem Opfer gehört haben könnte. Vielleicht hatte er sie zum Zeitpunkt seiner Entführung dabeigehabt. Vielleicht fehlte deshalb der Memorystick. Vielleicht hatte das Opfer den Killer versehentlich gefilmt – wie er die Straße entlangging, sich ein Hotdog kaufte, seinen Wagen volltankte, oder noch schlimmer: etwas Verdächtiges tat. Etwas, das seine Identität hätte verraten können. Womöglich war das der Grund, warum gerade dieser Mann das jüngste Opfer des Killers geworden war. Sie würden abwarten müssen, bis die Kriminaltechnik die Kamera untersucht hatte, und hoffen, dass sie ihnen doch noch irgendwelche Hinweise lieferte.

Hunter konnte sich an keinen Fall erinnern, bei dem er sich so hoffnungslos, so ohnmächtig gefühlt hatte. Alles, was er hatte, war eine lange Liste von Vielleichts, Wenns und Abers, und nichts ergab wirklich einen Sinn. Drei Opfer waren auf bestialische Weise gefoltert und ermordet worden, während er völlig machtlos hatte zusehen müssen. Und diese Machtlosigkeit ergriff Besitz von seinem Körper wie ein Gift. Nicht mal auf seine Gedanken konnte er sich noch verlassen.

Seine Einschätzung hatte sich als richtig erwiesen. Das Katz-und-Maus-Spiel erregte den Killer wie eine neue Droge. Aber im Moment hätte Hunter nicht einmal sagen können, wer die Katze und wer die Maus war.

Der Totschläger
CoverImage.xhtml
9783843707237-1.xhtml
9783843707237-2.xhtml
9783843707237-3.xhtml
9783843707237-4.xhtml
9783843707237-5.xhtml
9783843707237-6.xhtml
9783843707237-7.xhtml
9783843707237-8.xhtml
9783843707237-9.xhtml
9783843707237-10.xhtml
9783843707237-11.xhtml
9783843707237-12.xhtml
9783843707237-13.xhtml
9783843707237-14.xhtml
9783843707237-15.xhtml
9783843707237-16.xhtml
9783843707237-17.xhtml
9783843707237-18.xhtml
9783843707237-19.xhtml
9783843707237-20.xhtml
9783843707237-21.xhtml
9783843707237-22.xhtml
9783843707237-23.xhtml
9783843707237-24.xhtml
9783843707237-25.xhtml
9783843707237-26.xhtml
9783843707237-27.xhtml
9783843707237-28.xhtml
9783843707237-29.xhtml
9783843707237-30.xhtml
9783843707237-31.xhtml
9783843707237-32.xhtml
9783843707237-33.xhtml
9783843707237-34.xhtml
9783843707237-35.xhtml
9783843707237-36.xhtml
9783843707237-37.xhtml
9783843707237-38.xhtml
9783843707237-39.xhtml
9783843707237-40.xhtml
9783843707237-41.xhtml
9783843707237-42.xhtml
9783843707237-43.xhtml
9783843707237-44.xhtml
9783843707237-45.xhtml
9783843707237-46.xhtml
9783843707237-47.xhtml
9783843707237-48.xhtml
9783843707237-49.xhtml
9783843707237-50.xhtml
9783843707237-51.xhtml
9783843707237-52.xhtml
9783843707237-53.xhtml
9783843707237-54.xhtml
9783843707237-55.xhtml
9783843707237-56.xhtml
9783843707237-57.xhtml
9783843707237-58.xhtml
9783843707237-59.xhtml
9783843707237-60.xhtml
9783843707237-61.xhtml
9783843707237-62.xhtml
9783843707237-63.xhtml
9783843707237-64.xhtml
9783843707237-65.xhtml
9783843707237-66.xhtml
9783843707237-67.xhtml
9783843707237-68.xhtml
9783843707237-69.xhtml
9783843707237-70.xhtml
9783843707237-71.xhtml
9783843707237-72.xhtml
9783843707237-73.xhtml
9783843707237-74.xhtml
9783843707237-75.xhtml
9783843707237-76.xhtml
9783843707237-77.xhtml
9783843707237-78.xhtml
9783843707237-79.xhtml
9783843707237-80.xhtml
9783843707237-81.xhtml
9783843707237-82.xhtml
9783843707237-83.xhtml
9783843707237-84.xhtml
9783843707237-85.xhtml
9783843707237-86.xhtml
9783843707237-87.xhtml
9783843707237-88.xhtml
9783843707237-89.xhtml
9783843707237-90.xhtml
9783843707237-91.xhtml
9783843707237-92.xhtml
9783843707237-93.xhtml
9783843707237-94.xhtml
9783843707237-95.xhtml
9783843707237-96.xhtml
9783843707237-97.xhtml
9783843707237-98.xhtml
9783843707237-99.xhtml
9783843707237-100.xhtml
9783843707237-101.xhtml
9783843707237-102.xhtml
9783843707237-103.xhtml
9783843707237-104.xhtml
9783843707237-105.xhtml
9783843707237-106.xhtml
9783843707237-107.xhtml
9783843707237-108.xhtml
9783843707237-109.xhtml
9783843707237-110.xhtml
9783843707237-111.xhtml
9783843707237-112.xhtml
9783843707237-113.xhtml
9783843707237-114.xhtml
9783843707237-115.xhtml
9783843707237-116.xhtml
9783843707237-117.xhtml
9783843707237-118.xhtml
9783843707237-119.xhtml
9783843707237-120.xhtml
9783843707237-121.xhtml
9783843707237-122.xhtml
9783843707237-123.xhtml