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Ihr erster Gedanke, als sie endlich erwachte, war, dass der Tod sich ganz anders anfühlte, als sie erwartet hatte.
Dann, als ihre Sinne allmählich zurückkehrten, wurde ihr klar, dass sie gar nicht tot war. Dann kam der Schmerz – stark und lähmend wie eine Überdosis Drogen. Ihr war, als wäre jeder Knochen, jeder Muskel in ihrem Leib weichgeprügelt und verbogen worden. Ihr Schädel pochte so heftig, dass sie kaum Luft bekam. Das Blut toste in ihren Ohren, und sie dachte, ihre Trommelfelle müssten davon platzen. Sie stöhnte, während sie versuchte, genügend Kraft aufzubringen, um trotz der Schmerzen die Augen zu öffnen.
In dem Moment hörte sie wieder seine Stimme. Der Klang jagte eine entsetzliche Woge der Angst durch jede Zelle ihres Körpers.
»Nicht dagegen ankämpfen. Nicht bewegen. Einfach entspannen.« Sein Tonfall war ruhig, emotionslos, körperlos.
Es gelang ihr nicht, den ängstlichen Schrei zurückzuhalten, der aus ihrer Kehle drang.
Der Mann wartete. Sie versuchte zu blinzeln und dachte, dass sie jetzt auf keinen Fall in Panik geraten durfte, doch die Angst legte sich über sie wie ein Leichentuch. Keuchend schnappte sie nach Luft. Gleich würde sie hyperventilieren.
Da hörte sie ihn erneut.
»Atmen Sie tief durch und versuchen Sie ruhig zu bleiben.«
Noch ein verzweifeltes Luftholen.
»Ich weiß, Sie haben Angst. Mir ist klar, dass es Ihnen im Moment schwerfällt, aber atmen Sie einfach, dann wird es bald besser.«
Sie versuchte seinem Rat zu folgen.
Endlich gelang es ihr, die Augen zu öffnen und sich umzuschauen, doch der Raum lag größtenteils im Dunkeln. Das einzige Licht kam von einer schwachen Lampe in einer weit entfernten Ecke. Die Luft war schal, es roch nach altem Heu, Reinigungsmittel und noch etwas, das sie nicht identifizieren konnte. Etwas Süßlichem, Ekelhaftem. Sie konnte den Mann nicht sehen, hörte ihn aber atmen und spürte seine beklemmende Gegenwart.
Mit der Zeit erst stellte sie fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie saß auf einem schweren, harten, unbequemen Stuhl mit hoher Lehne. Ihre Handgelenke waren an die Armlehnen des Stuhls gefesselt, ihre Fußknöchel an die Vorderbeine. Oberkörper und Kopf waren jedoch frei, so dass sie sich ein Stück zur Seite drehen konnte. Genau das tat sie jetzt langsam. Erst nach links, dann nach rechts, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie nackt war.
Plötzlich überkam sie eine abgrundtiefe Verzweiflung, als ihr klar wurde, wie verletzlich, entblößt und hilflos sie war. Sie wollte sich im Griff haben. Sie wollte Stärke und Entschlossenheit zeigen, doch in diesem Moment war die Angst stärker als alles. Sie konnte nicht anders und fing an zu schluchzen.
»Sie tun nicht, was ich Ihnen gesagt habe«, erklang daraufhin die kalte Stimme des Mannes.
Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Sie spürte, wie immer mehr Tränen kamen, und kniff die Augen fest zusammen.
Bleib stark, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.
Sie hatte irgendwo gelesen, dass Vergewaltiger sich an der Angst ihrer Opfer weideten, dass sie die Unterwerfung genossen, doch dieser Gedanke machte ihr nur noch mehr Angst. Die Ungewissheit, welches Schicksal sie erwartete, lähmte sie. Als sie sprach, klang sie wie ein kleines verlorenes Kind.
»Bitte, tun Sie mir nichts.« Ihre Stimme versagte. »Bitte lassen Sie mich gehen.«
Schweigen.
Die nächsten Worte sagte sie, ohne nachzudenken.
»Ich tue alles, was Sie wollen. Bitte, lassen Sie mich gehen.«
Keine Reaktion.
»Bitte …« In einem kurzen Moment der Klarheit wurde ihr bewusst, wie lächerlich das Wort sich anhörte.
»Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen?« Sie stellte sich einige der möglichen Antworten vor, doch dann zwang sie sich, die schrecklichen Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen.
Der Mann atmete langsam aus, und sie spürte, dass er sich bewegte.
Einen Augenblick lang glaubte sie, ihr Herz habe aufgehört zu schlagen.
Der Mann trat aus den Schatten heraus und erschien zum ersten Mal am Rande ihres Sichtfeldes. Sie drehte den Hals in seine Richtung. Er war jetzt anders gekleidet, trotzdem erkannte sie ihn auf Anhieb wieder. Es war der Mann, mit dem sie sich im Supermarkt unterhalten und dem sie später auf dem Parkplatz geholfen hatte. Doch das angenehme, offene Lächeln, die Schüchternheit und die freundlichen Augen waren verschwunden. Jetzt sah er groß, stark und gefährlich aus. Sein Gesicht schien nur noch aus scharfen Ecken und Kanten zu bestehen.
»So sieht man sich wieder«, sagte er.
Sein Blick hielt ihren fest wie eine riesige Klaue, und sie hatte das Gefühl, als würde sie in ein schwarzes Loch gesogen. Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Weinen wird Ihnen nicht helfen.«
»Bitte, tun Sie mir nichts«, flehte sie noch einmal. Die Worte kamen ganz von selbst, ungebeten, verängstigt, flehend. »Ich mache auch, was Sie wollen.«
»Was immer ich will?« Seine Augen ruhten auf ihrem nackten Körper. Der Unterton in seiner Stimme und das Unerbittliche seines Blicks trafen sie mit der betäubenden Wucht eines Fausthiebs gegen die Schläfe.
Sie würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter und hörte das kleine Kind in ihr antworten: »Ja. Was immer Sie wollen.«
Er kam näher.
Sie hielt den Atem an. »O Gott, bitte nicht.«
»Hören Sie auf zu beten.«
»Tut mir leid«, sagte sie hastig. »Was immer Sie sagen. Es tut mir leid.«
»Hören Sie auf zu betteln.«
Da begann sie wieder zu schluchzen.
»Hören Sie auf zu weinen.«
Sie atmete durch die Nase ein und hielt so lange die Luft an, bis sie sich einigermaßen im Griff hatte.
»Sie werden also tun, was immer ich will?«, fragte er sie noch einmal.
Erneut atmete sie tief ein. Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm.
»Ja.« Jetzt schwang darin Entschlossenheit mit. Du kannst das, meldete sich die Stimme in ihrem Innern.
Er trat noch näher an sie heran. Sie sah ein Messer in seiner Hand aufblitzen.
»O Gott … nein.« Schlagartig war es mit ihrer Entschlossenheit vorbei. Ihr Kopf wurde zu einem schwarzen Abgrund nackter Panik. Sie war wie erstarrt.
Der Mann lächelte auf eine Art, die ihr verriet, dass ihre Angst ihm gefiel. Sein Blick hielt ihren fest, als wären sie durch ein unsichtbares Band verbunden. Sie spürte die Kälte der stählernen Klinge an ihrer Haut, konnte jedoch nicht den Blick von seinen hypnotischen Augen losreißen. In einer schnellen Bewegung sauste die Klinge herab.
Die Frau hielt den Atem an.
Keine Schmerzen.
Sie wusste, dass eine scharfe Klinge durch Haut und Gewebe schneiden konnte, ohne dass man dabei etwas spürte. Sie wusste auch, dass die enorme Menge an Adrenalin, die ihr Körper in diesem Moment ausschüttete, selbst den schlimmsten Schmerz hätte ausschalten können.
Sie wartete.
Immer noch keine Schmerzen.
Der Mann wich einen Schritt zurück und unterbrach endlich den Blickkontakt.
Als wäre sie aus einem Bann erlöst, glitt ihr Blick an ihrem Körper hinab und hielt Ausschau nach Blut oder Schnittwunden.
Nichts.
Stattdessen sah sie, dass der Mann die Stricke durchtrennt hatte, mit denen ihre rechte Hand an den Stuhl gefesselt gewesen war.
Sie war verwirrt. Wollte er sie etwa freilassen? Sie verwarf den Gedanken gleich wieder, denn ihre linke Hand und ihre Füße waren immer noch gefesselt. Sie nahm den rechten Arm an die Brust, und das Gefühl, ihn wieder bewegen zu können, war geradezu berauschend. Sie blies auf ihr Handgelenk und schloss die Finger ein paarmal zur Faust, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Es fühlte sich gut an.
Unvermittelt tauchte der Mann, der hinter ihr gestanden hatte, wieder neben ihr auf. Er legte ihr etwas Schweres, Kaltes in den Schoß. Sie senkte den Blick.
Eine Gartenschere.
»Nehmen Sie sie«, sagte er.
Sie gehorchte.
Er machte eine Pause. Die Zeit schien mit ihm zu zögern. »Also gut. Ich will, dass Sie sich alle Finger der linken Hand abschneiden. Beginnen Sie mit dem kleinen Finger und arbeiten Sie sich bis zum Daumen vor.«
Sie sah auf, doch er war bereits wieder in den Schatten verschwunden.
»Was?« Ihre Stimme zitterte.
»Sie haben gesagt, Sie würden tun, was immer ich will.« Die Stimme kam von hinter ihr. Er sprach jetzt sehr langsam. »Das ist es, was ich will. Ich will, dass Sie sich sämtliche Finger der linken Hand abschneiden.«
Die Frau konnte ihre schreckliche Angst nicht verbergen. Die Gartenschere in ihrer Hand begann zu zittern. Ihre Lippen bebten.
Sie brachte kein Wort heraus.
»Es wird weh tun. Kein Zweifel. Es wird ziemlich stark bluten. Auch das versteht sich von selbst. Bestimmt werden Sie das Gefühl haben, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. Aber wenn Sie mir beweisen, dass Sie psychisch stark genug sind, um Ihre linke Hand vollständig zu verstümmeln, dann werde ich Sie gehen lassen, das ist ein Versprechen. Ich fahre Sie sogar persönlich aufs Polizeirevier.«
Die Frau kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder und starrte auf die Schere.
»Ich lasse Ihnen die Wahl. Tun Sie es, dann sind Sie frei. Tun Sie es nicht, dann …« Was die Konsequenz einer solchen Entscheidung sein würde, überließ er ihrer überreizten, angsterfüllten Fantasie.
Sie atmete tief ein, doch diesmal gab ihr das keinen neuen Mut.
»Tun Sie es«, sagte er mit Bestimmtheit.
Ihr Blick ging zu ihrer linken Hand, die immer noch an den Stuhl gefesselt war.
»Tun Sie es. Das ist der Preis für Ihre Freiheit.«
Zögerlich spreizte sie die Finger der linken Hand.
»So ist es gut. Tun Sie es. Zeigen Sie mir, dass Sie stark sind.«
Sie nahm den kleinen Finger ihrer zitternden linken Hand zwischen die Klingen der Schere.
»Gut so. Sie ist laserscharf. Drücken Sie schnell und fest zu, der Rest geht von allein.«
Sie vermochte sich nicht zu rühren.
»SCHNEIDEN SIE SICH DIE FINGER AB!«, brüllte er so laut, dass sie vor Schreck die Kontrolle über ihre Blase verlor. Seine Stimme schien eine Ewigkeit lang im Raum widerzuhallen.
Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Klingen der Schere waren so scharf, dass schon eine kleine Berührung ausreichte, um sich daran zu schneiden. Sie sah einen Tropfen Blut an der Haut ihres Fingers.
»TUN SIE ES!«, befahl er, ein lauter, wütender Schrei.
Sie schloss die Augen und holte tief Luft.
Der Mann lächelte.
Die Frau schleuderte die Schere von sich weg.
»Ich kann das nicht, ich kann das einfach nicht.« Sie nahm zitternd die Hand vors Gesicht und schluchzte hemmungslos. »Ich kann es nicht, ich kann nicht.«
Der Mann lachte. »Sie dachten, ich will Sie vergewaltigen, oder?«, fragte er. Eine Antwort war überflüssig. »Und deswegen haben Sie gesagt, Sie würden alles tun, was ich von Ihnen verlange. Sie dachten, Sie müssten sich einfach nur hinlegen und die Beine für mich breitmachen. Ein paar Minuten lang durchhalten, während dieses Ungeheuer in Sie eindringt.« Erneut tauchte er am Rand ihres Blickfeldes auf. »Wenn ich Sie vergewaltigen wollte, wieso, glauben Sie, sollte ich dafür Ihre Erlaubnis oder Kooperation benötigen?«
Die Frau antwortete nicht. Ihr Schluchzen wurde immer lauter.
»Ganz ruhig«, sagte er. »Ich habe nicht vor, Sie zu vergewaltigen.«
Sie empfand Schmerz, Angst und Scham, fühlte sich entblößt und verloren.
»Wa… was wollen Sie denn dann mit mir machen?«, fragte sie wieder in ihrer Kleinmädchenstimme.
Der Mann verschmolz mit der Dunkelheit. Seine Antwort war ein Wispern ganz nah an ihrem rechten Ohr. »Ich werde Sie töten.«
Es schnürte ihr die Kehle zu. Ein Zucken ging durch ihren Körper.
Der Mann lachte. »Wenn Sie jetzt schon Angst haben«, er machte eine effektheischende Pause, »dann warten Sie erst mal ab, wie ich es tun werde.«