Zeitreise im vierten Jahrhundert

Um einen grundlegenden Eindruck von dieser Vorstellung zu bekommen, müssen wir in der Zeit zurückreisen, allerdings nicht die ganze Strecke zurück bis zum Urknall, aber immerhin bis zum vierten Jahrhundert n.Chr., denn 354 kam ein Mann zur Welt, der einige tiefe Einsichten in das Wesen des Universums hatte. In seiner Vorstellungskraft existierten Zeit und Raum als eine Einheit. Der Name des Mannes war Augustinus.

Heute nennt man ihn den heiligen Augustinus von Hippo (Hippo war eine römische Stadt in Nordafrika, das heutige Annaba in Algerien), um die Verwechslung mit dem heiligen Augustinus aus dem fünften Jahrhundert zu vermeiden, der die Kirche von England gründete und der erste Erzbischof von Canterbury war. Augustinus von Hippo war eine der Hauptfiguren, die an der Gründung der Kirche beteiligt waren, ein «Kirchenvater», der sich unter anderem die Lehre von der Erbsünde ausdachte.

Augustinus war der Sohn eines Bauern in Thagaste (heute Souk-Ahras) in Algerien. Er wurde erst mit 35 Jahren Christ. Zuvor führte er ein weltliches Leben, das ihm Einsichten verschaffte, die den anderen Kirchenvätern verborgen blieben. Berühmt ist sein Ausspruch, er habe als junger Mann gebetet: «Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, doch nicht sogleich!», denn er befürchtete, Gott könnte «mich allzu schnell erhören, mich allzu schnell heilen von der Krankheit meiner Lüste …». Der Beruf des Priesters fiel ihm nicht leicht – er musste zur Priesterweihe gezwungen werden –, aber als Schriftsteller war er ein Naturtalent, und das kommt in seinem Buch Bekenntnisse deutlich zum Ausdruck.

Lebte Augustinus heute, wären die Bekenntnisse wahrscheinlich ein Blog gewesen. Denn sie klingen wie Kommentare, die polemisch sein sollen, aber ich glaube ernsthaft, dass dies so ist. Seine Bekenntnisse haben genau diese spontane Atmosphäre, zeigen eine persönliche Note und machen eine Entwicklung durch – genau das, was einen guten Blog ausmacht. Bevor wir uns in das stürzen, was Augustinus zu sagen hat, müssen wir verstehen, woher die Bekenntnisse kommen.

Er schrieb sie 396, kurz nach seiner Weihe zum Bischof. Seine Weihe verursachte eine ziemliche Kontroverse, erstens, weil er in Mailand getauft wurde, und zweitens, weil er verschiedene andere Religionen ausprobiert hatte, bevor er sich auf das Christentum festlegte. Insbesondere hatte er sich dem Manichäismus gewidmet, einer damals als besonders gefährlich erachteten Ketzerei, und er hatte die Lehren der Kirche angegriffen. Die Kritik an Augustinus war öffentlich und schrill. Die Bekenntnisse waren eine Verteidigung gegen seine Kritiker.

Aber warum sind die Bekenntnisse an dieser Stelle von Interesse? Weil Augustinus eine Vorstellung von der Zeit vor der Schöpfung hat, von der Zeit vor dem Urknall also. Ziemlich unerwartet beginnt er mit einem Witz. Allerdings windet er sich ein wenig und sagt, er wolle die Frage «Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf» nicht beantworten, aber trotzdem liegt die Pointe in der vermeintlichen Antwort: «Er bereitet denen, die sich vermessen, jene hohen Geheimnisse zu ergründen, Höllen.» Anschließend erweist sich Augustinus allerdings als Spaßverderber. Er sagt, es sei keine gute Idee gewesen, jene Menschen lächerlich zu machen, die tiefgründige Fragen stellen. Aber immerhin hat er den Witz eingebaut, wahrscheinlich um die Diskussion ein wenig aufzulockern.

Augustinus’ ursprüngliches Argument ist einfach. Angenommen, wir meinen mit «Himmel und Erde» jedes erschaffene Objekt statt buchstäblich nur die beiden Orte, dann tat Gott vor dem Augenblick der Schöpfung tatsächlich nichts, weil alles, was er gemacht hätte, erschaffen worden wäre und man nichts erschaffen kann, bevor alles Erschaffene gemacht wurde.

Dann jedoch geht Augustinus ans Eingemachte. Er sagt: «Wenn aber irgendjemandes schwärmerischer Sinn sich mit seiner Phantasie in vergangene Zeiten verliert» und erstaunt sei, dass Gott «unzählige Jahrhunderte» vor dem Augenblick der Schöpfung nichts getan habe, dann möge sich diese Person «fassen und bedenken, dass er sich über Falsches wundere». Für Augustinus gehörte, wie für Einstein, die Zeit untrennbar zum Raum. Und wenn die Zeit vor der Schöpfung nicht existierte, machte es keinen Sinn, wenn Gott herumsaß und auf irgendeinen beliebigen Augenblick wartete, um mit der Schöpfung anzufangen. Vor der Schöpfung gab es einfach nur Gott, weder Zeit noch Raum. Wie Augustinus es ausdrückt, machte es keinen Sinn, zu fragen, was Gott damals tat, «denn es war kein Damals, wo es keine Zeit gab».

In der Ewigkeit, die vor der Schöpfung existierte, sei sie, sagt Augustinus, stets die Gegenwart gewesen. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft. Der Umgang mit diesem Konzept ist nicht leicht. Zeit sei, räumt Augustinus ein, ein Thema, das man nur schwer in den Griff bekommen könne. «Was ist also die Zeit?», fragt er. «Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.» Es fällt einem nicht schwer, hier mit Augustinus zu sympathisieren, dennoch ist es wichtig, seine Vorstellung der Zeitlosigkeit zu begreifen.

Sobald Sie ein Gefühl für das Wesen der Zeitlosigkeit haben, gibt es eine einfache Antwort auf die Frage, warum der Urknall gerade dann geschah, als er geschah. Wenn es keine Zeit und keinen Raum «vor» dem Urknall gab, dann kann es auch kein «wann» geben. In diesem Bild fand der Urknall statt, und die Zeit begann. Das musste der Anfang sein, weil es kein Davor gab. Deshalb ergab es keinen Sinn, dass irgendetwas entscheiden musste (es muss ja nicht unbedingt Gott sein, es sind auch Quantenstörungen denkbar, falls Sie ein Universum ohne Gott bevorzugen sollten), «jetzt ist die Zeit gekommen, es zu tun». Irgendetwas geschah in diesem ewigen «Jetzt», und das wurde zum Anfang und zur Definition des Wann.

Es ist wirklich nicht nötig, hinter Augustinus zurückzugehen, um nach einem grundlegenden Konzept eines Anfangs der Zeit zu suchen, der mit dem Anfang des Raums übereinstimmt. Wir können uns selbst nicht außerhalb der Zeit vorstellen, weil unser ganzes Leben darin stattfindet, aber wir können ein Gefühl für diese Zeitlosigkeit bekommen, wenn wir uns die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anschauen. (Auch Augustinus tat das; ich übernehme sein Konzept, stelle es aber ein wenig anders dar.)

Vor dem Urknall
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