1. Der Zündsatz des Urknalls
Der Ursprung der Dinge muss im Obskuren liegen, jenseits der Grenzen der Beweisbarkeit, jedoch innerhalb derer der Spekulation oder analoger Schlüsse.
Asa Gray (1810–1888)
«Darwin über die Entstehung der Arten» (The Atlantic Monthly, Juli 1860)
Willkommen im Universum.
«Das Universum» ist ein phantastisches Gebilde – eines, das die offenbare Einfachheit des Begriffs konterkariert. Es umfasst schlichtweg alles, also die Gesamtheit dessen, was wir da draußen vorfinden, die Summe alles Existenten. Wir sind nur ein Teil dieses Ganzen, dennoch ignorieren wir meist alles außer unserer eigenen Existenz, diesem winzig kleinen Schnipsel des Universums, den unser Planet darstellt. Seitdem es vernunftgesteuertes Denken gibt, fragt sich der Mensch, was das Universum ist und von wo es herrührt. Wie wir später sehen werden, wurden im Laufe der Zeit alle erdenklichen Optionen in Betracht gezogen, dennoch dauerte es bis zum 20. Jahrhundert, bis unsere derzeitige Theorie zur Entstehung des Universums – die des Urknalls – postuliert wurde, um schließlich weitgehend Anerkennung zu finden.
Die wissenschaftliche Neugier, die uns treibt, nach dem Universum und seinem Ursprung zu fragen, scheint ein natürliches Wesensmerkmal des Menschen zu sein, auch wenn sie oftmals – bedingt durch eine Art Gruppenzwang – unterdrückt wird. Alle Kinder sind fasziniert, wenn sie die Welt um sich herum betrachten. Sie stellen Fragen nach dem Wie und Warum, und dies oftmals mit einer Hartnäckigkeit, die die Erwachsenen in den Wahnsinn treibt. Leider gilt es in der heutigen Zeit unter Teenagern als «uncool», sich für die Welt der Wissenschaft zu interessieren, weshalb viele Jugendliche diese Faszination für das, was da draußen vor sich geht, verdrängen. Dennoch ist sie zweifellos vorhanden und wartet darauf, entdeckt zu werden.
Für diese Neugier gibt es einen guten Grund. Wie ich in meinem Buch Upgrade Me beschrieben habe, waren unsere Vorfahren imstande, über den Tellerrand der Gegenwart hinauszuschauen und zu fragen: «Was wäre wenn?», um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass sie eines Tages sterben würden, was sie wiederum in die Lage versetzte, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die über ihre angeborenen Fähigkeiten weit hinausgingen. Unsere Neugier stellt einen Teil dieser Fähigkeit dar, über den Tellerrand hinauszuschauen, und ist unserem natürlichen Überlebensinstinkt durchaus förderlich. Hören wir nachts ein Geräusch und fragen uns: «Was war das? Wodurch wurde dieses Geräusch verursacht?», sind wir möglicherweise eine Gefahr zu erkennen imstande, bevor sie bedrohliche Ausmaße annimmt. Wir verspüren den Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen, und haben nicht die Einstellung, sie einfach als gegeben hinzunehmen, wie dies bei vielen Tieren der Fall ist; wir wissen, dass es für alles einen Grund gibt, und sind bestrebt, diesen auszumachen. Dieser Drang, nach der Ursächlichkeit eines Sachverhalts zu forschen, bringt einige interessante Konsequenzen mit sich, wenn wir fragen, was vor dem Urknall war.
Wenn Raum und Zeit mit dem Urknall entstanden, wie dies in manchen Theorien beschrieben wird, führt die Suche nach einer etwaigen Ursache zwangsläufig ins Nichts, gibt es in diesem Fall doch kein «Vorher», keinen vor dem Urknall befindlichen Zeitraum, in dem die Ursache entstanden sein könnte. Sind wir nicht in der Lage, in unserem Denken die Faktoren Raum und Zeit auszuklammern, wie dies bei theologischen Lösungsansätzen oftmals zu beobachten ist, stehen wir vor der merkwürdigen Situation, es mit einem Sachverhalt zu tun zu haben, für den es keine Ursache gibt. Dieser Fall kann durchaus eintreten, wenn wir uns mit einem derartigen Extrem wie dem Ursprung des Universums auseinandersetzen, einer Materie, die unser Gehirn, das auf Ursachenforschung programmiert ist, eindeutig überfordert.
Der Urknall stellt die derzeit plausibelste Erklärung für die Entstehung des Universums dar, auch wenn an dieser Stelle anzumerken ist, dass auch der Urknall lediglich eine Theorie und keine erwiesene Tatsache ist. Der belgische Wissenschaftler Georges Lemaître war der Erste, der – inspiriert von dem Gedanken, dass sich das Universum ausdehnt – die Theorie des Urknalls explizit erwähnte (auch wenn er sie nicht als solche bezeichnete). Wenn das Universum immer größer wird, wovon Lemaître ausging, musste er – so sein Kalkül – in der Lage sein, seine Entstehung zeitlich zurückzuverfolgen und dabei zu beobachten, wie es immer kleiner wird, bis es schließlich ein Stadium erreichte, in dem die gesamte Materie in einem einzigen Punkt ganz am Anfang verdichtet war. Dieser Ausgangspunkt eines Universums wurde ursprünglich als Uratom oder kosmisches Ei bezeichnet.
Als ich zum ersten Mal von der Urknalltheorie hörte, hatte ich so meine Zweifel, hielt ich es doch als Jugendlicher eher mit der Steady-State-Theorie (Gleichgewichtstheorie) eines meiner Lieblingsastronomen, Fred Hoyle. So war ich furchtbar enttäuscht, als die Gleichgewichtstheorie schließlich verworfen wurde – als hätte «meine» Fußballmannschaft gerade die Meisterschaft verloren. Zwar konnte ich durchaus nachvollziehen, dass alles aus diesem verdichteten Ursprungspunkt hervorgegangen sein könnte, dennoch beschäftigten mich zwei Probleme. Warum sollte dieses anfänglich extrem kompakte Universum sich auszudehnen beginnen, wenn die gesamte Materie im Universum von der Schwerkraft zusammengepresst wurde? Und wie war es möglich, alles im Universum – diese gigantische Menge an Materie – in einem derart winzigen Punkt zu verdichten?
Anfangs fanden Lemaîtres Thesen wenig Zuspruch, was jedoch eher mit seiner Person zu tun hatte: Lemaître war Belgier und zudem katholischer Priester. Es war zweifellos ein Vorurteil, aber die meisten Leute glaubten, Belgien habe nun wirklich nichts zu bieten außer Pommes frites und guter Schokolade. Und sein Priestertum kam Lemaître in einer zunehmend atheistischen oder agnostischen Wissenschaftsgemeinde ebenso wenig zugute, zumal diese die von der katholischen Kirche betriebene Unterdrückung wissenschaftlicher und kosmologischer Theorien besonders argwöhnisch beäugte. Schließlich handelte es sich um die gleiche Kirche, die Galileis Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne bewegt, mit allen Mitteln zu hintertreiben versuchte. Lemaîtres kosmisches Ei stieß jedoch aus anderen Gründen auf Ablehnung.
Lemaître hatte an der Universität Cambridge unter dem berühmten Astronomen Arthur Eddington gearbeitet, und obwohl Eddington Lemaîtres Thesen über die Expansion des Universums durchaus zugetan war, tat er sich schwer mit dem Uratom, schien dieses doch zu implizieren, dass alles in einem einzigen Punkt seinen Ursprung hatte, was wiederum ein gänzlich anderes Wesen des Universums bedeutete. Dies lief seinem Verständnis von Physik zuwider. Andere Wissenschaftler wiesen darauf hin, dass Lemaîtres Bild von der Geburt des Universums der in der Bibel beschriebenen Schöpfungsgeschichte verdächtig nahe kam. Obwohl die Wissenschaft eigentlich mit der Religion kein Problem haben dürfte, machen sich Wissenschaftler – ob sie nun richtig liegen oder nicht – immer Gedanken, ob eine Theorie von einer religiösen Lehre inspiriert ist.
Fred Hoyle, dem Vater der als Alternative zum Urknall entwickelten Steady-State-Theorie, war es schließlich vorbehalten, der Urknalltheorie ihren Namen zu geben. Zuvor wurde das, was wir heute den Urknall nennen, als dynamisches Universum oder dynamisches Entwicklungsmodell bezeichnet, um sich von der vorherrschenden These eines statischen Universums abzuheben, bevor die Urknalltheorie schließlich auf den Plan trat. Hoyle, der sich dieses Begriffes im Jahr 1950 in einer beliebten Wissenschaftssendung des BBC-Hörfunkprogramms erstmals bediente, soll den Terminus ironisch benutzt haben (auch wenn er dies stets bestritt), aber die Bezeichnung «Urknall» blieb haften und wurde zum allgemein gebräuchlichen Namen für diesen dramatischen Moment der Entstehung eines expandierenden Universums.
In Wirklichkeit wäre es keine große Überraschung, hätte Hoyle diese Bezeichnung im Sinne einer Anspielung gemeint, war er doch ursprünglich einer der eifrigsten Kritiker der Urknalltheorie. Fest steht jedenfalls, dass der Urknall – wenn es ihn denn gab – mit Sicherheit nicht besonders groß war, wie der Name vermuten lässt. Lemaître ging in seiner Theorie davon aus, dass alles mit einem extrem kompakten Uratom begann, in dem die gesamte Materie verdichtet war, wohingegen das Universum in späteren Varianten der Theorie seinen Ursprung in einem unendlich kleinen Punkt hatte. Ebenso vertreten viele Wissenschaftler die These, dass es überhaupt keinen Knall gab. Jedenfalls ist der Schall nicht imstande, sich durch den luftleeren Raum auszubreiten. Aber diese Kritik ob des Namens ist vielleicht etwas schlecht durchdacht. Der zu jener Zeit existierende Raum war alles andere als leer; in Wirklichkeit beherbergte er die gesamte im Universum vorhandene Materie, die im Prinzip in der Lage gewesen wäre, Schwingungen zu übertragen, die dem Schall eigen sind.
In diesem Fall ist es durchaus möglich, dass es einen Knall gab, auch wenn diesen natürlich niemand hören konnte. Manche Kosmologen stießen sich an der Bezeichnung «Urknall», fehlte es dieser aus ihrer Sicht doch schlichtweg an Pfiff (zumal sie von ihrem Erzrivalen Hoyle aufgebracht wurde); damals galt dieser Begriff als unwissenschaftlich und populistisch, heute ist er aus unserem Sprachschatz längst nicht mehr wegzudenken – ein griffiger und einprägsamer Name. Ihn als banal abzutun mutet scheinheilig an angesichts der Tatsache, dass Physiker Elementarteilchen Merkmale wie «Strangeness» und «Charm» zugeschrieben und Biologen sich für Gene Namen wie «Sonic Hedgehog» oder «Grunge» ausgedacht haben.
Andere Wissenschaftler schlugen in die gleiche Kerbe. Wie konnte aus einem derart winzigen Pünktchen ein so gigantisches Universum entstehen? Woher stammten die Atome, aus denen heute alles besteht? Und was stand am Anfang? Dies alles sind Fragen, auf die im Laufe der Zeit zunehmend differenziertere Antworten geliefert wurden. Aber bis vor kurzem gab es eine Frage, die stets geflissentlich ignoriert wurde: Was war vor dem Urknall – wenn es denn einen gab?
Dies ist ein Thema, das die Wissenschaft seit jeher tabuisierte, ein Thema, das uns scheinbar überforderte. Diese Sichtweise mag zu kurz greifen, aber eine der Stärken der Wissenschaft besteht darin, sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewusst zu sein. Ist es nicht möglich, eine Theorie entgegen dem aus Experimenten oder Beobachtungen gewonnenen Datenmaterial zu verifizieren, so ist diese Theorie wohl nicht als Wissenschaft zu betrachten. Aus diesem Grund argumentieren viele Leute, dass Wissenschaft und Religion nicht allzu viele Berührungspunkte aufweisen und somit keine Notwendigkeit besteht, sich gegenseitig das Leben schwerzumachen. Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sich zu Fragen der Religion zu äußern, und im Gegenzug sollte die Religion nicht versuchen, gestaltenden Einfluss auf die Wissenschaft zu nehmen. Religiöse Weltanschauungen entstehen per definitionem, entbehren also jeder wissenschaftlichen Grundlage. Besteht keine Möglichkeit, eine Religion im wissenschaftlichen Sinne zu verifizieren oder zu widerlegen, ist es sinnlos, den Versuch zu unternehmen, sich dieser Religion von wissenschaftlicher Seite zu nähern, würde dies doch völlig ins Leere laufen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Wissenschaft die Religion nicht ernst nehmen sollte, sondern einfach, dass wissenschaftliche Methoden nicht geeignet sind, um religiöse Dogmen zu beurteilen. Ebenso war es müßig – so folgerte man –, Spekulationen darüber anzustellen, was sich vor dem Urknall abspielte, sollte dieser bei der Entstehung unseres Universums tatsächlich stattgefunden haben. Da keine Möglichkeit bestand, in die jenseits des Urknalls liegende Vergangenheit des Universums zu schauen, war es auch unmöglich, zwischen den zahlreichen Theorien zu unterscheiden, die allenthalben kursierten – ob mystische Schöpfungsgeschichte oder reine Science-Fiction-Story.
Die Kosmologie stellt selbst bei nüchternster Betrachtung die spekulativste aller Wissenschaften dar, dennoch haben sich zunehmend empirisch überprüfbare Beweise ergeben, die verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, was sich vor dem Urknall abgespielt haben könnte. Somit ist dies nicht länger eine außerhalb der Wissenschaft angesiedelte Frage, und manche der möglichen Antworten sind in der Tat unglaublich.
Um besser verstehen zu können, was das Universum ist und wie es zustande kam, macht es Sinn, einen Blick auf die Entwicklung zu werfen, die unser Verständnis vom Ursprung aller Dinge genommen hat. Drehen wir das Rad der Zeit einmal zurück und betrachten frühere Epochen, so wäre die Antwort auf die Frage, was vor der Entstehung des Universums war, wie aus der Pistole geschossen gekommen. In vielen Kulturen war dies offensichtlich: Das Universum ist das Werk des Schöpfers, und folglich war es ebendieser Schöpfer, der bereits vor der Entstehung des Universums existierte. Jede dieser Kulturen hatte jedoch ihre eigene Schöpfungsgeschichte, und jede dieser Schöpfungsgeschichten wies ihrerseits wiederum einen anderen Protagonisten und einen anderen Modus Operandi auf. Betrachten wir die frühen Schöpfungsmythen, sind wir in der Lage, uns ein besseres Bild davon zu machen, wie die Menschheit zu ihrer Sichtweise über den Anfang von allem gelangt ist.