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»Selbstverständlich«, sagte der Hofrat Groll, »hat nun Revierinspektor Kemal beim vierten Anruf von Frau Steinfeld alles vermieden, was die Anruferin aus ihrer berauschten Rede-Erlösung hätte reißen und wieder in Panik stürzen können. Denn dann hätte sie wahrscheinlich den Hörer in die Gabel gelegt, wie schon dreimal zuvor. Hören Sie nun weiter, Herr Aranda. Die Männerstimme ist die des Revierinspektors.« Groll drückte auf eine Taste des Tonbandgeräts. Die Teller begannen zu kreisen, im Lautsprecher wurde es lebendig.

»Was für eine Kapsel?«

»Na, Zyankali natürlich … Und so was ist bei der Polizei! … Ich habe mich beherrscht am Vormittag … mit aller Kraft …«

»Am Vormittag?«

»Da ist er … ist er gekommen, zum erstenmal …«

Manuel Aranda überfiel jene Benommenheit, jenes Schwindelgefühl. Er hielt sich an einer Lehne des alten, brüchigen Ledersofas fest, auf dem er saß. Unwirklich. Phantastisch. Grausig. Da erklang die Stimme einer Frau, die vor wenigen Stunden, am Nachmittag des 14. Januar, begraben worden war. Und die Stimme dieser Toten, Begrabenen, Nicht-mehr-Existenten, sprach von seinem Vater, der gleichfalls tot war, nicht mehr existent, der in einem Kühlfach im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts lag …

»Die große Mappe von Ehrlich …«

»Ehrlich?«

»Ja, Ehrlich!« schrie die Frauenstimme plötzlich schrill. »Alte Wiener Stiche … die wollte er haben … unbedingt …! Albert Ehrlich …«

»Ach so, natürlich. Albert Ehrlich.«

»Der Inspektor dachte an die Techniker«, sagte Groll leise. Sein rechter Zeigefinger strich auf der Glasplatte zärtlich die Umrisse des großen, grünlich-silbrigen Ginkgo-Blattes nach, die Rundungen, den tiefsten Einschnitt. »Zeit! Die Techniker brauchten Zeit, um die richtige Relaisverbindung zu finden.«

Aranda nickte. Mit aufheulender Sirene fuhr in der Tiefe ein Funkstreifenwagen davon.

»Alle die Menschen im Laden … ging nicht … wir hatten den Ehrlich natürlich … ich sage, nein, haben wir nicht … Kann den Ehrlich aber beschaffen, sage ich … Bis wann, fragt er … muß noch heute sein, morgen fliegt er weg …«

»Das stimmt!« Manuel Aranda sah auf. »Am zehnten Januar, zeitig, sollte mein Vater nach Paris fliegen und dort die Anschlußmaschine nach Buenos Aires nehmen. Der Kongreß hier war doch bereits am Siebten zu Ende!« Er starrte Groll an. »Warum ist er überhaupt nicht schon am Achten geflogen? Was hat er noch in Wien zu tun gehabt?«

»Ja, was?« sagte Groll. Er dachte: Wenn wir es herausfinden und es dir sagten, wie unglücklich wärest du dann? Grolls Finger strichen um die beiden Hälften des Ginkgo-Blattes. Sind es zwei, die sich erlesen, daß man sie als eines kennt? Uns alle kennt man nur als Eines, dachte Groll, und doch sind wir gespalten in eine Nachtseite, eine Tagseite. Du, junger Mann, kennst bisher nur die Tagseite deines Vaters. Die Nachtseite kennst du nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, daß es sie gibt. Wie wirst du reagieren, wenn ich dir gut zurede? Ich muß mit größter Vorsicht operieren, dachte Groll und antwortete: »Ich weiß nicht, was Ihren Vater noch in Wien festhielt.«

Und das ist eine Lüge, dachte er.

Indessen hatte Valerie Steinfelds Stimme schon weitergesprochen:

»… mußte es riskieren … Soll noch einmal kommen, aber nicht vor sieben, sage ich zu ihm …«

Die Stimme des Revierinspektors: »Nicht vor sieben? Sie schließen doch schon um halb!«

»Na eben deshalb, Herrgott!« Pause. Aus dem Lautsprecher ertönte ein Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand ein Glas hastig vollgießt und trinkt. »Die Angestellten … nie schnell genug können die weg … immer schon fünf nach halb fort …«

Aranda saß zusammengesunken da und starrte das Magnetophon auf dem Tischchen an.

Du armer Hund, dachte Groll. So jung. So hilflos. So verloren. Und ich kann dir nicht helfen. Niemand kann dir helfen, niemand wird dir helfen. Im Gegenteil, ach, im Gegenteil!

»… nur Martin und seine Schwester … die bleiben oft noch eine Weile«, war Valerie Steinfelds Stimme fortgefahren. »Sage ich, sie sollen ruhig schon gehen, ich mache alles … Tageslosung … und so … und sperre ab …«

»Aha.«

»Aber dann wieder die Angst, daß er nicht kommt …«

»Verstehe.«

»Fünf nach sieben … kommt er dann … voller Schnee … natürlich herrlich für mich …« Die Stimme gluckste. Valerie Steinfeld lachte betrunken. Es klang grausig. Die Stimme lacht, dachte Aranda, und die Frau, der die Stimme gehört hat, liegt schon unter der Erde.

»Wieso herrlich?«

»Er sollte es doch im Cognac kriegen … wegen dem Geschmack … und wegen der Magensäure … alles genau überlegt … Sage ich: Unbedingt Mantel ausziehen und etwas trinken … Holen sich ja sonst den Tod! Den Tod – hahaha!«

Manuel Aranda richtete sich plötzlich auf. Sein Unterkiefer schob sich vor, er winkelte die Arme ab, ballte die Hände zu Fäusten und holte tief Atem.

Aggression, dachte Groll. Ausgelöst durch das Lachen. Angeboren ist das, nicht anerzogen. Lehrt uns die Verhaltensforschung. Ein Fall von Aggression, tausendmal habe ich das schon erlebt in diesem Zimmer. Es ist immer dasselbe. Seit der Eiszeithöhle hat der Mensch sich in der Substanz – der psychischen und physischen – nicht geändert. Was seither passiert ist, das war kulturelle Evolution, keine natürliche.

Die angeborenen Verhaltensweisen – immer noch dieselben.

Die Emotionen – immer noch die gleichen wie damals.

Und der Verstand? Ach je …

Aber, dachte Groll, dieser Manuel Aranda liebt seinen Vater, das sieht man nun deutlich. Deshalb die Aggressionshaltung. Aggression ist ja doch nicht nur etwas Böses, Negatives, sondern auch etwas Gutes, Positives! Indem ich mich gegen etwas auflehne, bin ich für etwas. Die Ambivalenz, die ewige Ambivalenz, dachte der Hofrat und strich die Umrisse des Ginkgo-Blattes nach. Goethes Polarität …

Während Manuel Aranda in seiner gereizten Pose verharrte, hatte Valerie Steinfelds Stimme weitergesprochen: »… Jetzt trinken wir einen, sage ich, und dann rufe ich Ihnen ein … ein Taxi … Er, begeistert: Charme, Wiener Charme! … Hand küßt er mir … Hallo … hallo … hören Sie mich?«

»Ganz deutlich. Und weiter?«

»Er schaut sich den Ehrlich an … ich gehe ins Teekammerl …«

»In das Teekammerl.«

»Gläser, die großen … die Flasche … und dann eine von den Kapseln … beten … Mach, lieber Gott, daß das Gift noch gut ist …«

Die Stimme des Inspektors: »Was war denn das für eine Kapsel?«

»Aus Glas … sind alle aus Glas … zugeschmolzen … Sie hat mir ja gesagt, daß zugeschmolzene Glaskapseln das Gift sogar Jahre … viele Jahre halten, ohne daß es sich zersetzen kann … hat mir auch eine Feile gegeben … falls ich das Zeug irgendwo reinschütten muß …«

»Sie?« Aranda sah zu dem Hofrat, der im Halbdunkel saß. »Wer ist sie

»Ich weiß nicht«, antwortete Groll.

»… feile eine Spitze ab …« lallt die Frauenstimme. Gleich darauf erklangen vier kurze, hohe Pfeiftöne.

»Was ist das?« fragte Aranda.

Groll drückte wieder auf die Taste und hielt das Band an.

»Der Inspektor hatte einen Zeichengeber an das Gerät angeschaltet. Ein Kollege legte ihm einen Zettel hin. Darauf stand mit Name und Adresse der Besitzer des Anschlusses, den die Frau benützte. Die Spezialisten hatten das richtige Relais gefunden. Der Anruf kam aus der Buchhandlung Landau in der Seilergasse. Eine Funkstreife mit Polizisten und Kriminalbeamten raste sofort los. Kemals Kollege verständigte von einem anderen Apparat aus uns hier, meine Mordkommission. Der Inspektor wollte das Gespräch natürlich immer noch so lang wie möglich weiterführen, um die Frau festzuhalten.«

Die Teller kreisten wieder.

»… das Zyankali in sein Glas … rufe ihn ins Teekammerl … Er ahnungslos … völlig ahnungslos … erkennt mich nicht … Bedankt sich noch einmal!« Valerie Steinfeld lachte wieder ihr schreckliches Lachen.

»Trinkt … einen großen Schluck! Dann … dann …«

»Ja, ich verstehe. Und wer sind Sie? Von wo sprechen Sie?«

»Jetzt konnte Kemal es riskieren«, murmelte Groll.

»Ich …« krächzte die Frauenstimme, »ich …« Klick! machte es. Dann summte nur noch der Lautsprecher.

»Da hat sie den Hörer niedergelegt«, sagte der Hofrat. Er stand auf und stellte das Gerät ab. Dabei verstreute er Zigarrenasche über Hemd und Weste. »Ein paar Minuten später brachen die Polizisten der Funkstreife die Eingangstür der Buchhandlung auf.« Groll ging zu dem halb geöffneten Fenster.

Der Hofrat atmete tief die frische, eiskalte Luft ein. Ich bin hier der Verbindungsmann zur Staatspolizei, dachte er. Auch wenn ich schon mehr wüßte, als wir ahnen, dürfte ich dir nichts sagen, mein Junge, nicht das geringste. Und das, was ich schon weiß, darf ich dir erst recht nicht sagen, sie haben es mir verboten, die hohen Herren von der Staatspolizei.

Hohe und höchste Herren, dachte Groll, und hier sitzt ein kleiner Mann, er kommt von der andern Seite der Erde, keiner kennt ihn, ohne Schutz ist er, ohne Hilfe, allein. Groll dachte an die furchtbare Stärke der Starken, die gräßliche Größe der Großen, die schreckliche Hilflosigkeit der Hilflosen und daran, wie das alles zusammengehört, einander ergänzt, einander entstehen läßt. Er drehte sich um und sagte: »Die Polizisten fanden in einem kleinen Hinterzimmer der Buchhandlung, in diesem Teekammerl, wie es heißt, zwei Tote – Ihren Vater, Raphaelo Aranda, und Valerie Steinfeld. Sie muß, unmittelbar nachdem sie aufgelegt hatte, Zyankali genommen haben. Und zwar in einer Kapsel, die sie zerbiß. Als wir mit unserem Arzt eintrafen, fand er Glassplitter in ihrem Mund. Die beiden Leichen lagen ganz dicht nebeneinander auf dem Boden …« Groll streifte Asche von seiner, Virginier. »Ihre Hände«, sagte er und dachte an das Ginkgo-Blatt, »berührten einander.«

Manuel Aranda antwortete nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Groll. »So war es. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Whisky? Cognac? Slibowitz? Wodka?«

»Nein, wirklich nicht. Ich … ich möchte …«

»Was?«

»Ich möchte das Band noch einmal hören«, sagte Manuel Aranda.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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