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Schwarze Pest. Pocken. Milzbrand. Gehirngrippe. Ruhr. Gasbrand. Gelbfieber. Rotz. Wundstarrkrampf. Typhus. Papageienkrankheit. Fleischvergiftung. Fleckfieber. Bangsche Krankheit. Q-Fieber … rund 160 furchtbare Erkrankungen werden in den Laboratorien des Ostens und des Westens für die Menschheit vorbereitet. Das wußte der Hofrat Groll ebenso wie Manuel Aranda. Sie mußten nicht darüber reden. 30 Gramm des Q-Fieber-Erregers beispielsweise, so hatte man errechnet, könnten 28 Milliarden Menschen infizieren.
Zwei Fingerhüte voll Botulinus-Toxin, einem Gift, mit dem AP Sieben nahe verwandt sein mußte, würden ausreichen, um die Bevölkerung halb Europas zu töten, weniger als ein Pfund genügte demnach für die Vernichtung der Bevölkerung der ganzen Erde. Doch das war eine theoretisch errechnete Zahl. Und gegen dieses Toxin hatte man einen Impfstoff gefunden. Gegen AP Sieben aber gab es – und daß mußte Raphaelo Aranda glauben – kein Serum, gab es keine Abwehr …
Und überall auf der Welt sucht man nach solchen Bakterien, Viren, Toxinen, nach ›B-Waffen‹, und stellt sie her.
Und überall auf der Welt arbeitet man an chemischen Kampfstoffen, die man verschämt ›C-Waffen‹ nennt.
Im Osten und Westen werden Giftgase fabriziert, die unendlich wirksamer sind als etwa das im Ersten Weltkrieg eingesetzte Senfgas: Die farb- und geruchlosen Stoffe bleiben unbemerkt.
Es werden Nervengase produziert und auch bereits ausprobiert – im Jemen zum Beispiel durch die Ägypter, in Vietnam zum Beispiel durch die Amerikaner –, Nervengase, die eine ganze Skala von Wirkungen auslösen können: von Bewußtseinsstörungen über Lähmungen bis zum Tod.
Es werden hergestellt – und auch bereits, in Vietnam zum Beispiel, ausprobiert – Erntevernichtungsmittel, etwa Pflanzenhormone oder gewisse Pilzarten, die über weite Landstriche hinweg die Vegetation vertilgen und den Boden unfruchtbar machen.
Der Hofrat Groll wußte das. Manuel Aranda wußte das.
Beiden war bekannt, was Professor Edward M. Backett, Sozialmediziner an der englischen Universität Aberdeen, gesagt hatte: »Es ist heut jedem, der dazu entschlossen ist, möglich, die Menschheit zu vernichten.«
Oh, und Professor Backett ahnte nichts von der Existenz des Kampfstoffes AP Sieben, den Manuel Arandas Vater und seine Mitarbeiter heimlich in verborgenen Laboratorien entwickelt hatten. Nein, er ahnte nichts von dem Kampfstoff AP Sieben, dessen Geheimnisse der Dr. Raphaelo Aranda in Wien soeben an Amerikaner und Sowjets verkauft hatte: an beide Mächte, ein glattes Geschäft, das auf der ebenso verbreiteten wie mörderischen Lehre vom Gleichgewicht des Schreckens basierte, welches angeblich allein den Weltfrieden erhalten konnte.
Der untersetzte Hofrat mit dem silbernen Haar und Manuel Aranda saßen nun wieder in Grolls stillem Büro. Vor den Fenstern, von denen eines halb geöffnet war, sanken Schneeflocken zur Erde. Schweigend lasen die Männer zwei Kopien des dechiffrierten Manuskripts, die ein Kurier der Staatspolizei gebracht und Groll übergeben hatte. Manuel saß nahe neben dem Hofrat, am Schreibtisch. Die starke Tischlampe brannte. Im Zimmer war es dunkel und warm. Keiner der Männer sprach ein Wort.
Von Zeit zu Zeit sah der Hofrat Groll besorgt den jungen Mann an. Doch Manuel hatte sich nach dem Ausbruch im Filmvorführraum des Sicherheitsbüros mit äußerster Anstrengung aller Kräfte gefangen, und sein Gesicht war nun erschreckend unbewegt und ausdruckslos. Das begann den Hofrat zu ängstigen. Der Junge darf nicht in dieser Starre verharren!, dachte er und las schaudernd weiter. Er verstand genug von Biologie und bakteriologischer Kriegsführung, um zu begreifen: Alles, was es bisher auf diesem Gebiet gab, war lächerlich, verglichen mit den Auswirkungen von AP Sieben …
Und das will etwas heißen, überlegte Groll, wenn man zum Beispiel daran denkt, was die bekanntesten amerikanischen Nervengifte GA, GB und GD anrichten, deren Grundlagen, wie die der meisten Nervengifte, schon während des Zweiten Weltkrieges bei den IG-Farben-Werken entwickelt worden sind.
GB ist viermal giftiger als GA und wirkt dreißigmal schneller tödlich. Es erweist sich in kleinsten Mengen als hochtoxisch. Die Symptome beginnen mit Schnupfen, Augenstechen und Erbrechen und enden mit Konvulsionen und Tod nach spätestens zwei Minuten. GD hat ähnliche Eigenschaften, nur verfliegt es langsamer und bleibt deshalb länger wirksam. GA, GB, GD – alles nichts im Vergleich mit AP Sieben! dachte Groll. Er sah wieder zu Manuel. Der las und bewegte keinen Muskel seines Gesichts. Auch Groll las weiter. Was hier, entschlüsselt, in dürren Worten stand, das war noch viel schlimmer, als der Film anzusehen gewesen war …
Die beiden Supermächte arbeiten fieberhaft an B- und C-Waffen, dachte Groll. Seit 1961 hat Amerika den Etat für die Entwicklung solcher Kampfmittel verfünffacht. 1967 – nun, da er mit dem Fall Aranda beschäftigt war, hatte Groll sein Gedächtnis durch die Lektüre alter Zeitschriften und Handbücher seiner großen Bibliothek aufgefrischt – erreichte das Jahresbudget der amerikanischen Kriegsgiftforschung und -herstellung 920 Millionen Dollar. 400 Millionen zahlte das Pentagon für Entlaubungs-Chemikalien, die den Dschungel Vietnams lichten sollten. Vor einem Monat erst hatte die US-Luftwaffe zu demselben Zweck 200 Millionen angefordert.
Die Amerikaner besaßen, für 75 Millionen Dollar unweit Washingtons erbaut, Fort Detrick, eine ›zentrale Forschungsstätte‹. Die Engländer experimentierten hauptsächlich in Porton Down. Rußland und die Ostblockstaaten hielten ihre Laboratorien besser geheim. Der geflüchtete westdeutsche Mikrobiologe Ehrenfried Petras erklärte 1968 im ostdeutschen Fernsehen, daß auch die Bundesrepublik über Auftrag der Amerikaner an der Entwicklung neuer B- und C-Kampfstoffe beteiligt sei, daß die Amerikaner solche Aufträge an viele Länder vergeben würden.
Im Osten war das ebenso. Die Russen standen den Amerikanern in nichts nach! Etwa ein Sechstel der Munition bei den Sowjetverbänden am Eisernen Vorhang war, wie der amerikanische Geheimdienst meldete, mit chemischem Kampfstoff gefüllt.
Natürlich gab es Pannen.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ereigneten sich allein im Sperrbezirk von Fort Detrick seit 1950 750 Unfälle. Mindestens vier Forscher starben an den zu Kriegszwecken ersonnenen Infektionen – zwei von ihnen an Milzbrand. Einen mühsam vertuschten Skandal gab es, als ein zweiundzwanzigjähriger Soldat, der in der Anlage Dienst tat, plötzlich elend an Lungenpest zugrunde ging. In München kam es 1967 zu einer rätselhaften Q-Fieber-Epidemie. Im US-Staat Utah fand man auf einem einsamen Weidegelände 6500 tote Schafe – Opfer eines aus einer nahen Forschungsstätte entwichenen Nervengiftes, hingeweht vom Wind zu den Tieren …
Manuel hatte gestöhnt.
Doch nun wendete er eine Seite und las weiter, wie erstarrt, ohne Leben, das sonnengebräunte Gesicht grau. Auch Groll las. Was hier in Worten und Zahlen eines Wissenschaftlers stand, das war – ja, die Apokalypse war das, wahrhaftig, die Geheime Offenbarung des heiligen Apostels Johannes …
›… Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, vom Feuer und Rauch und Schwefel … Die übrigen Menschen aber, die nicht getötet wurden durch diese Plagen, bekehrten sich nicht von den Werken ihrer Hände … Sie bekehrten sich auch nicht von ihren Mordtaten und von ihren Zaubereien, auch nicht von ihrer Unzucht und ihren Diebereien …‹
Fünftausend Wissenschaftler, dachte Groll, darunter siebzehn Nobelpreisträger, haben eine Petition an Präsident Johnson unterzeichnet, in der ein Verzicht auf den Einsatz dieser neuartigen Waffen verlangt wird. Man hat ihre Forderungen nicht erfüllt …
›… und ich sah einen anderen mächtigen Engel vom Himmel herabsteigen; er war in eine Wolke gehüllt, über seinem Haupte hatte er den Regenbogen. Sein Antlitz war wie die Sonne, und seine Beine wie Feuersäulen. In seiner Hand hatte er ein geöffnetes Büchlein. Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und rief mit lauter Stimme, so wie ein Löwe brüllt. Und nachdem er gesprochen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimmen …‹
In einigen kommunistischen Staaten, dachte Groll, voller Entsetzen immer weiterlesend, sind vor einiger Zeit Millionen Menschen geimpft worden, ohne es zu wissen. Das hat mir Hanseder erzählt. Während sie in Kinos oder Versammlungssälen saßen, atmeten sie Stoffe ein, die scheinbar zur Verbesserung der Luft versprüht wurden. Und während sie Zeitungen lasen, drang ihnen durch die Berührung der Seiten mit den Fingern ein chemisches Mittel unter die Haut, das sie gegen eine Vielzahl von Seuchen immun machen sollte …
›… als die sieben Donner geschrien hatten, wollte ich schreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben, und schreibe es nicht auf!‹
Er hat es aufgeschrieben, dieser Dr. Raphaelo Aranda, dachte Groll, er hat es aufgeschrieben. Es ist zu spät. Zu spät.
Immun sollten jene Millionen Menschen werden gegen Viren und Bakterien, die ein potentieller Gegner verbreiten konnte. Nun, bei Dr. Raphaelo Arandas AP Sieben gab es noch keine Immunität, noch keine Rettung, gab es nur Tod und Verderben, Verderben und Tod …
›… der Engel aber, den ich stehen sah, auf dem Meer und auf dem Land, hob seine rechte Hand zum Himmel und schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was auf ihr ist, und das Meer, und was in ihm ist: »Nun wird keine Zeit mehr sein …«‹
O Gott, dachte Groll: 75 Kilo des AP-Sieben-Konzentrats, und es wird kein menschliches, tierisches oder pflanzliches Wesen mehr auf dieser Welt geben, es wird diese Welt nicht mehr geben. Das ›Doomsday poison‹, das Gift des Jüngsten Tages, es ist gefunden, es existiert, das Geheimnis seiner Herstellung ist verraten worden an die beiden mächtigsten Staaten der Welt …
›… sondern in den Tagen der Stimme des siebenten Engels, wenn er zu posaunen beginnt, wird vollendet werden das Geheimnis Gottes …‹
Groll blickte zu Manuel und sah, daß dieser die Blätter seines Manuskriptes hatte sinken lassen und mit zuckendem Gesicht in die Dunkelheit des Raums und zu einem der Fenster blickte, vor dem der Schnee zur Erde sank.
Manuel flüsterte heiser: »Das halte ich nicht aus … das halte ich nicht aus! Ich bin sein Sohn … der Sohn dieses Schweins … Mein Leben ist ruiniert … Ich kann nicht weiterleben …«
Und wenn er nun nicht Amok läuft, sondern Selbstmord begeht? dachte Groll. Ich muß ihn in der Hand behalten, diesen Jungen, ich muß ihn behüten und beschützen vor sich selber und vor anderen. Behüten und beschützen! Wenn ich das nur kann, mein Gott, wenn ich das nur kann. Er sagte: »Jetzt wissen wir wenigstens, was geschehen ist, Manuel … Und wir werden herausfinden, warum Valerie Steinfeld deinen Vater getötet hat …« Er bemerkte nicht, daß er ›deinen‹ sagte. »… Dein Vater hat gebüßt für seine Taten … Es gibt nichts auf der Welt, keine Äußerung eines menschlichen Wesens, die nicht bei genauer Betrachtung aller Lebensumstände eine Erklärung findet …«
»Ja!« Manuel richtete sich auf. »Ja! Ja! Und ich muß sie finden, diese Erklärung, auf alle Fälle! Ich fliege heim. Es wird sich doch jetzt, wo ich das alles weiß, in Buenos Aires etwas finden lassen … Ich muß zurück!«