51

»Was war, Mami? Was hat er gesagt?«

Mit diesen Worten kam Heinz Steinfeld in das große Wohnzimmer gestürzt. Sein schwarzer, dicker Gummiregenmantel triefte, durchnäßt waren der Monteuranzug, den er darunter trug, und die schweren Schuhe, dreckbespritzt war die ganze Kleidung. Aus dem blonden Haar flossen Regentropfen über das schmale Gesicht mit den Sommersprossen.

Es war 23 Uhr 30 an diesem selben Novembertag, und es regnete noch immer. Heinz hatte eine Arbeitsverpflichtung als Rollenpendler annehmen müssen, das Arbeitsamt hatte sehr schnell reagiert. Nun verließ er täglich die Wohnung um 15 Uhr und kam nie vor 23 Uhr 30 heim. Oft wurde es später. Die Kinos, zwischen denen er die Filmrollen hin und her transportierte, lagen im VI. Bezirk, in Mariahilf, er hatte also auch noch einen langen Weg zu seinen Arbeitsstätten. Gewöhnlich war Heinz zu müde, um noch etwas zu essen, wenn er endlich nach Hause kam. In dieser Nacht jedoch war er fieberhaft erregt. Sein Gesicht, naß und erschöpft, leuchtete auf, als er sah, daß außer Valerie auch noch Martin Landau anwesend war.

»Guten Tag, Vater!«

»Tag, mein Junge«, sagte Martin Landau mit unsicherer Stimme. »Nun rede schon, Mami! Der hat Augen gemacht, der Friedjung, wie du mit dem Anwalt angerückt bist, was?«

Valerie saß, im Hausmantel, auf einer Couch.

»Ja«, sagte sie und lächelte, »der hat Augen gemacht, Heinz! Das war vielleicht eine Überraschung für den!«

»So hat er sich das nicht vorgestellt, was?« Heinz lachte.

Martin Landau fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Valerie hatte ihn gebeten, an diesem Abend bei ihr zu bleiben, bis Heinz heimkehrte. Sie besaß nicht den Mut, ihn allein zu erwarten.

»Nein, so hat er sich das nicht vorgestellt. Zieh dich doch aus, Heinz, du bist ja völlig durchnäßt. In der Küche steht warmes Essen im Rohr. Die Agnes hat dir was Feines gemacht. Sie schläft schon. Komm, wir gehen in die Küche.

»Gleich, Mami, gleich.« Heinz war sehr aufgeregt. »Ich habe es ja gewußt, daß er kuschen wird, wenn du mit dem Anwalt anrückst! Der feige Hund. Ganz klein ist er geworden, was?«

»Ja, Heinz.« Valerie lächelte noch immer.

»Das ist doch klar, daß ich weiterstudieren darf, sobald wir den Prozeß gewonnen haben, nicht?«

»Das ist völlig klar«, sagte Valerie. »Darüber haben wir natürlich gesprochen. Friedjung war …« Sie mußte Atem holen.

Heinz bemerkte nicht, daß es eine Unterbrechung aus Schwäche war. Er sah nicht, wie seine Mutter sich an der Lehne der Couch festhielt.

»Ganz schön durcheinander, was?« Heinz lachte laut. »Ach, prima! Das gönne ich dem Drecksack! Das hat er nicht erwartet! Der hätte sich überlegt, mich rauszufeuern, wenn er gewußt hätte, daß wir jetzt vor Gericht gehen.«

Martin Landau sah, daß Valerie nicht sprechen konnte. Lächeln konnte sie noch.

Martin Landau sagte: »Ja, mein Junge. Der hätte sich das gründlich überlegt. Ist ihm irrsinnig unangenehm, die Sache, sagt deine Mutter. Na, der Anwalt hat ihm ordentlich Zunder gegeben, das kannst du dir ja vorstellen, nicht?«

»Und wie!« Um Heinz bildete sich auf dem Fußboden eine Pfütze. Niemand bemerkte sie. »Der dämliche Hund! Das wird ein Tag werden, wenn ich wieder zurückkomme in das Institut! Als Arier! Was, Mami?«

Valerie nickte. Sie lächelte noch immer.

»Ich danke dir ja so, daß du dich zu dem Prozeß entschlossen hast … und auch dir, Vater … Natürlich ist das nicht angenehm für euch beide, verstehe ich vollkommen …«

»Es geht doch um dich«, sagte Landau. »Was heißt da nicht angenehm?«

»… aber wenn es vorüber ist, werden wir alle glücklich sein, so glücklich! Ich bin es jetzt schon! Jetzt schon!«

Martin Landau sagte langsam: »Es wird freilich eine Weile dauern, Heinz. Vielleicht eine lange Weile. Von heute auf morgen gewinnt man einen solchen Prozeß nicht.«

»Weiß ich doch!« rief der Junge. »Meinetwegen soll der Prozeß dauern, so lange er will! Daß ich kein Halbjud bin, das wissen jetzt alle! Der Friedjung, der Gauleiter, das Gericht! Das ist das Wichtigste! Was hast du denn, Vater?«

»Dein neuer Beruf … Ich habe gerade denken müssen, wie schwer das für dich ist …«

»Schwer? Überhaupt nicht! Zuerst, ja … oder bei einem solchen Sauwetter wie heute … Da ist es natürlich nicht gerade angenehm! Aber ich habe mich daran gewöhnt, ganz schnell! Und wenn ich auch spät nach Hause komme – ich kann doch lange schlafen! Das konnte ich früher nicht! Man trifft so interessante Leute, weißt du? Und während man auf die Rollen wartet, sieht man auch immer ein Stück Film … immer dasselbe Stück von jeder Rolle … nie den ganzen Film … komisch, nicht? Nein, deshalb brauchst du dir keine Gedanken zu machen!« Heinz lief, verdreckt und naß, wie er war, schnell zu Landau und zu seiner Mutter. Er umarmte und küßte beide. »Ich danke euch! Ich danke euch! Ach, ich danke euch so!« rief er. Dann kam er ein wenig zu sich. »Ich zieh mir rasch etwas Trockenes an. Jetzt habe ich sogar noch Hunger! Und ich bin gar nicht müde! Kommt ihr beide in die Küche, wenn ich esse? Ich will ganz genau hören, wie das war bei dem Schwein, dem Friedjung!«

»Wir kommen«, sagte Valerie. Ihr Lächeln war eingefroren. Heinz warf ihr eine Kußhand zu und verschwand.

Eine lange Stille folgte.

Dann sagte Landau: »Wir durften ihm nicht die Wahrheit sagen.«

»Nein, das durften wir nicht.« Nun war Valeries Lächeln verschwunden. Nun sah sie zu Tode erschöpft aus. »Wer weiß, wie lange dieser Prozeß dauert? Wer weiß, was geschieht mit uns allen, mit der ganzen Welt? Solange Heinz glaubt, daß er wieder studieren darf, ist er glücklich. Das muß er sein. Er darf nicht verzweifelt sein, wenn er vor Gericht kommt«, sagte Valerie. Sie sprach abgehackt. »Der Bub muß Hoffnung haben, Hoffnung. Und wenn wir den Prozeß gewinnen, dann werde ich diesen Friedjung zwingen, ihn wieder im Institut aufzunehmen …« Wie willst du so einen Mann zwingen?, dachte Landau, aber er schwieg und nickte. »Das sind alles Sorgen von morgen. Jetzt müssen wir eines nach dem anderen erledigen. Zuerst kommt der Prozeß. Der ist das Allerwichtigste. Und wir werden ihn gewinnen …«

»Toi, toi, toi!« Landau klopfte dreimal gegen Holz.

Valerie stand auf. Mit einer Stimme, die Landau vollkommen fremd, mechanisch und ohne jede menschliche Schwingung vorkam, sagte sie: »Sehen wir nach Heinz. Er wird schon in der Küche sein.«

Er war nicht in der Küche.

Sie fanden ihn in seinem Zimmer, ausgezogen bis auf ein Unterhemd und eine Unterhose. Die nassen Kleidungsstücke lagen verstreut umher. Heinz war in seinem Bett auf den Rücken gesunken. Er schlief. Die Müdigkeit, mit der er sich jede Nacht heimschleppte, hatte ihn übermannt. »Der arme Kerl«, sagte Landau.

Valerie war zum Bett geeilt. Sie zog die Decke unter dem Körper ihre Sohnes hervor und breitete sie über ihn. Martin trat näher. Heinz lag mit dem Kopf auf einem Kissen. Sein Haar und sein Gesicht waren immer noch regennaß. Er schnarchte zweimal. Er schlief sehr tief. Dann sagte er etwas im Schlaf, mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht.

»Goldene Stadt …«

»Was?« Landau neigte sich mit Valerie über den Jungen. »Was redet er?« Der Schlafende sprach undeutlich: »Golden … die Stadt … die Stadt … aus Gold … diese Stadt …«

Martin richtete sich auf.

»›Die goldene Stadt‹ – der neue Film von Veit Harlan! Mit der Söderbaum! Er läuft jetzt in den Kinos.«

»Und Heinz fährt die Rollen hin und her«, flüsterte Valerie. »Bis in den Schlaf hinein verfolgt ihn das …« Sie küßte ihren Sohn zart, dann ging sie mit Landau auf Zehenspitzen zur Tür und knipste das Licht aus. Der Junge bewegte sich. Die beiden Erwachsenen blieben in dem dunklen Zimmer stehen, Valerie eine Hand auf der Türklinke.

»Gold«, sagte Heinz Steinfeld im Schlaf. »Eine … ganze … Stadt … aus … Gold …«

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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