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»Mit Gott«, sagte der Professor und zog den konusförmigen Drehknopf an der Tresorwand an. »Ich versuche es jetzt so.«
8 4 1 9 3 5.
Diese Zahlen standen nebeneinander auf einem der Papiere, die den Anwaltsschreibtisch bedeckten. Der Professor hatte in der letzten Dreiviertelstunde die sechste Zahl gefunden.
Es war 0 Uhr 46 am Dienstag, dem 28. Januar 1969.
Der Franzose, erschöpft zum Umfallen, stand neben Sirus und tupfte diesem, der keinerlei Zeichen von Ermüdung zeigte, die Stirn trocken.
Mercier erlebte die anstrengendste Nacht seines Lebens. Der Schreck beim Anblick des reglosen, nicht ansprechbaren Sirus, der die Bücherwand angestarrt hatte, saß dem Franzosen noch in den Knochen.
Sechs endlose, grauenvolle Minuten hatte der Professor im Lotussitz, die Hände im Schoß, aufrecht, mit sanftem, entrücktem Gesicht, einer Statue gleich, zugebracht, während Mercier, am Schreibtisch, die Zähne in die Knöchel seiner Hände bohrte und abwechselnd lautlos fluchte und betete. Dann, so plötzlich, daß Mercier einen leisen Schrei ausstieß, hatte Sirus sich geschmeidig erhoben und den Franzosen angelächelt. Ein unendliches Gefühl des Friedens ging nun von ihm aus.
»Was … was war los mit Ihnen?« stammelte Mercier. »Was haben Sie da gemacht auf dem Boden, Herr des Himmels?«
»Yoga«, sagte der Professor, die Finger bewegend und Lockerungsübungen veranstaltend.
»Wie?«
»Ich bin ein alter Yoga-Anhänger. Das Wunderbarste, was es gibt. Durch Meditation, geistige Konzentration, durch völlige Herrschaft über den Körper wird der Geist befreit. In schweren Sekunden meiner Arbeit, nachdem – wie vorhin – ein Unglück gerade noch verhindert werden konnte, setze ich mich stets so hin.«
»Es war also nicht die Sirene, die Sie erschreckt hat?«
»Was für eine Sirene?« fragte der Professor verwundert.
»Sie haben nichts gehört?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Aber daß ich das Licht ausknipste …«
»Sie haben das Licht ausgeknipst?«
Mercier hatte nur schwach gestöhnt und abgewinkt. Der Professor war, frisch und mit neuen Kräften, an den Tresor getreten …
Der nun gezogene Einstellknopf drehte sich, unendlich langsam, Mercier konnte es nicht mitansehen. Er blickte zur Seite. Im nächsten Moment erklang die ruhige Stimme des Professors: »Wir haben die siebente Zahl. Es ist die 2.«
Mercier wirbelte herum.
»Die ganze Kombination?«
»Das werden wir gleich sehen.« Der Professor streifte das Stethoskop ab und griff nach dem Türchen über dem Konus. Es ließ sich an einem oberen Drehpunkt zur Seite schwenken und gab den Blick auf zwei Schlüssellöcher frei. In dem unteren steckte eine Stahlstange.
Der Professor bückte sich.
Auch das zweite Türchen ließ sich bewegen.
Sirus zog eine etwa zwanzig Zentimeter lange Stahlstange, die einen Durchmesser von fünf Millimetern hatte und an ihrem Ende einen seltsam gezackten Bart besaß, aus dem einen Schlüsselloch des unteren Schlosses. Danach zog er die zweite Stange aus dem oberen Schloß.
»Die Sperren lassen sich entfernen«, sagte er. »Die Kombination ist also richtig.« Er legte die beiden Stäbe auf das Tuch, das er über den Schreibtisch gebreitet hatte und auf dem seine Instrumente ruhten. »Jetzt müssen wir noch die beiden Schlösser öffnen.«
»Wie?«
Der Professor hob eine Stahlstange auf, sehr ähnlich den beiden, welche er eben aus dem Tresor entfernt hatte. Sie besaß an einem Ende einen Haltegriff und zahlreiche herausragende gekrümmte Enden von Stahlstiften.
»Das ist eine kleine Erfindung von mir. Mit ihr wurde ich … nun ja, sagen wir es ruhig … weltberühmt.« Der Professor bewegte einen der kleinen Stifte. Aus dem glatten anderen Ende der Stange trat zu Merciers Verblüffung das millimeterdünne Teilstück eines Schlüsselbartes hervor. Jetzt sah er, daß dieses Ende der Stange zahlreiche feine Schlitze aufwies. Der Professor bewegte einen zweiten Stift. Ein zweites dünnes Stahlstück, bizarr gerippt, trat aus einem Schlitz.
»Sie verstehen das System«, sagte Sirus. »Ich führe den Stab ein, mit allen Teilstücken des Bartes in seinem Innern. Danach probiere ich ihn aus. In allen Kombinationen der einzelnen Teile des Bartes. Wenn er für das Schloß nicht paßt, versuche ich es mit dem nächsten. Sie sehen, ich habe ein Dutzend hier. Sie alle gehören zu dieser Art von Tresoren. Deshalb mußte ich vorher genau die Type kennen.«
»Sie haben solche Geräte auch für andere Typen?«
»Selbstverständlich. Die gesamte Kollektion stellt ein Vermögen dar, wie Sie sich denken können.«
»Und … und wenn Sie die Schlösser einmal geöffnet haben, können Sie sie dann auch wieder verschließen?«
Der Professor sah Mercier mit hochgezogenen Brauen an.
»Natürlich«, sagte er. »Oder wünschen Sie, daß ich den Tresor offenstehen lasse? Da hätten Sie einen anderen Mann engagieren müssen. Wenn ich fertig bin, sieht der Gegenstand meiner Bemühungen genauso aus wie zu Beginn. Ein Anton Sirus hinterläßt keine Spuren …«