13
Die Sonne schien hell, Menschen hasteten an der kleinen Gruppe vorüber, die den Justizpalast verließ. Straßenbahnen sausten klingelnd über die Museumstraße, Radfahrer, Wehrmachtsautos.
»Ich bin ja so glücklich! So glücklich! Das ist doch prima gegangen, Mami, nicht?« Heinz Steinfeld zog die Krawatte herab und öffnete den Kragen, der ihn lange genug gequält hatte. »Jetzt noch die Untersuchungen, und dann …«
»Nicht hier«, sagte Forster schnell. »Kommen Sie.« Damit ging er bereits eilig auf einen nahen kleinen und noch ziemlich kahlen Park zu, der sich neben dem Justizpalast, gegenüber dem Auerspergpalais befand. Valerie und Martin Landau sahen sich plötzlich mit der schwarz gekleideten Hermine Lippowski allein.
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte Valerie.
»Und auch ich«, sagte Landau, noch übererregt von der Verhandlung.
»Sie müssen mir nicht danken«, antwortete die Lippowski, mühsam Atem holend, stockend. »Ich habe eine Nachricht bekommen. Gestern. Durch Freunde. Aus dem KZ Sachsenhausen …«
»Mein Gott – Ihr Mann?« fragte Valerie.
»Mein Mann, ja«, sagte das fette Ungeheuer und starrte Valerie aus verschwollenen Augen an. »Tot. Ermordet haben sie ihn, diese Bestien. Meinen Mann. Ich habe einen einzigen Menschen im Leben geliebt – ihn! Auch noch, als er mich verlassen hat … heute noch … immer werde ich ihn lieben … immer weiter! Es ist mir klargeworden wie in einem Blitzstrahl gestern. Deshalb habe ich für Sie und Ihren Mann und Ihren Sohn falsch geschworen, Frau Steinfeld. Sie haben Glück gehabt durch mein Unglück …« Damit nickte Hermine Lippowski noch einmal kurz und verloren mit dem schrecklichen Kopf und schlurfte dann davon, grußlos, ohne sich umzudrehen, eingesponnen in das Gewebe ihres großen Schmerzes.
Valerie starrte ihr nach.
»Glück für dich, sie hat es gesagt. So viel Glück, Valerie! Ach, aber …« Landau brach ab.
»Was aber?«
»Die Blutgruppenuntersuchung … wenn die nun ergibt – wie hat der Richter das formuliert? –, daß eine Zeugung durch mich eindeutig auszuschließen ist … Das klingt schon so negativ! Ich bin in der Partei, Valerie! Jetzt habe ich geschworen … Was geschieht mit mir, wenn da etwas passiert, was?«
»Wir werden auch da Glück haben. Es wird gar nichts geschehen«, sagte Valerie schnell. Sie hängte sich bei Landau ein. »Komm, wir müssen zu den andern.« Herr im Himmel, dachte sie, was ist, wenn die Blutgruppen wirklich nicht stimmen?
Martin Landau ließ sich führen wie ein kleiner Junge. In dem Park, den Splittergräben durchzogen, die man in Erwartung von Luftangriffen angelegt hatte, blühten Primeln, Schneeglöckchen und Krokusse, wenige, weit verstreut. Unter einem Baum, an dessen Ästen schon frische, grüne Blattspitzen zu sehen waren, warteten die anderen auf Martin und Valerie. Sie sahen den beiden entgegen, und ihre Gesichter waren ernst. Nur Heinz strahlte.
»Was habt ihr denn?« fragte Valerie, die zufrieden fühlte, wie eine immer größere Müdigkeit sie überkam. Das Beruhigungsmittel – nun erst begann es mit Macht zu wirken! »Ich glaube, wir können uns nur alle gratulieren!«
Die Agnes begann plötzlich zu schluchzen.
»Er hat mich nicht schwören lassen, der Kerl«, rief sie unglücklich. »Nicht und nicht hat er mich schwören lassen – und ich hab doch so gewartet darauf! Die anderen, die haben dürfen! Warum ich nicht, Herr Rechtsanwalt?«
»Sie waren dem Richter suspekt, Sie haben …«
»Ich war ihm was?«
»Sie haben zu oft davon geredet, daß Sie beschwören können, was Sie sagen. Das hätten Sie nicht tun dürfen.«
»Zu oft gesagt? Da haben Sie wohl recht, Herr Rechtsanwalt. Und jetzt ist es zu spät!«
»Wer weiß«, sagte Forster.
»Wieso?« Die Agnes horchte auf. »Glauben Sie, daß ich noch einmal drankomm?«
»Wer weiß«, sagte Forster wieder. Er wollte Agnes Peintinger trösten. Es gelang ihm auch.
»Ja, dann …!« Die Agnes wischte sich die Tränen fort. »Dann fang ich es aber gescheiter an, ich blöde Kuh!«
Valerie und Landau hatten Ottilie etwas beiseite gezogen. Martins Schwester zeigte ein unwirsches Gesicht.
»Was ist? Ich muß schnell heim. Der Wind … Die Schmerzen fangen wieder an.«
»Das vergesse ich dir nie!«, sagte Valerie.
»Aber ich verstehe das nicht!« rief Martin. »Du hast doch nicht wollen! Du hast doch gesagt, kein Wort sagst du für uns aus!«
»Ich habe heute nacht nicht schlafen können … nicht nur wegen der Zahnschmerzen … ich habe dauernd an Valerie denken müssen«, sagte Tilly, das Tuch an der Wange.
»Und?« drängte Martin.
»Und am Morgen, da habe ich mir gesagt, ich kann das einfach nicht tun, erklären, daß ich von nichts weiß. Da habe ich mir gesagt, es ist Christenpflicht, der Valerie zu helfen, und dem Heinzi …«
»Ach, Tilly, du bist wunderbar!« rief Landau.
»Ich bin gar nicht wunderbar«, sagte seine Schwester mit schmalen Lippen und wieder so verschlossen wie zuvor. »Ich habe es getan. Nun läuft das also alles, nun geht das seinen Weg. Aber ich fürchte, es wird keinen guten Weg gehen …«
»Tilly!«
»Nein, keinen guten Weg, Martin. Diese Wahnsinnsgeschichte kann nicht gutgehen! Sie wird ein böses Ende nehmen, ihr werdet es sehen. Aber ihr habt es ja nicht anders gewollt …« Damit eilte Ottilie Landau, ohne sich von jemandem zu verabschieden, aus dem Park zur nahen Straßenbahn.
Valerie und Martin sahen ihr nach, dann blickten sie einander stumm an. Forster trat zu ihnen. Er sagte: »Wenn Sie mich in den nächsten Tagen einmal aufsuchen wollten, gnädige Frau? Damit wir die nächsten Schritte besprechen können …» Er küßte ihr die Hand und verabschiedete sich auch von Landau. Er hatte eine dringende Verabredung.
»Warum ist der so sonderbar?« fragte Martin ängstlich.
»Ein Anwalt. Die sind eben so. Wir haben den besten, den es gibt«, antwortete Valerie und hörte die Stimme der Agnes: »Ich fahr mit dem Heinzi nach Hause zum Essen, gnä’ Frau! Hab was Feines vorgekocht für heute! Ich sag nicht was, Sie kriegen es am Abend, als Überraschung! Zur Feier des Tages hab ich es gemacht!«
»Und wenn das hier schiefgegangen wäre, Agnes?« fragte Landau.
»Konnte doch nicht schiefgehen!« rief Heinz lachend.
Die Agnes sagte leise: »Nein, konnte nicht. Der Herrgott hält seine Hand über alle braven Leut, wo in Not gekommen sind, das sagt mein Herr Hochwürden. Und vielleicht darf ich doch noch schwören, sagt der Herr Rechtsanwalt … Komm jetzt, Heinzi. Die Mami und dein Vater müssen ins Geschäft zurück.«
Valerie sah zu der Normaluhr an der nahen Kreuzung. Plötzlich war sie aufgeregt.
»Schnell, Martin! Es ist schon zwanzig vor eins!«
»Na und? Wir haben doch geschlossen bis – ach so«, sagte er gottergeben. BBC. Natürlich wollte sie um 13 Uhr wieder BBC hören!
Ja, das wollte Valerie – noch nie hatte sie es so sehr gewollt! Es war, als wünschte sie die Stimme ihres Mannes – hoffentlich sprach er in der 13-Uhr-Sendung! – zu hören, um so mit ihm verbunden zu sein, als könnte sie ihm durch geheimnisvolle Kräfte über viele Hunderte von Kilometern hinweg dann mitteilen, daß alles gutging.
Sie hörte die Stimme, die sie stets für jene ihres Mannes hielt. Unter der Decke, das Ohr an den Lautsprecher des Radios gepreßt, vernahm sie diese Stimme, dieweilen Martin Landau seine gewohnten Runden um den Häuserblock machte. Die Sendung lief schon seit einiger Zeit, als Valerie endlich an ihren Apparat kam, die Nachrichten waren bereits verlesen. Eine Uhr tickte, und Valerie lauschte der Stimme: »Hören Sie das Ticken dieser Uhr? Hören Sie in Ihrem Zimmer Ihre eigene Uhr die Sekunden ticken? Eins, zwei, drei … sechs, sieben. Jede siebente Sekunde stirbt ein deutscher Soldat in Rußland …«
Mit aller Kraft, mit zusammengezogenen Brauen und gefurchter Stirn, dachte Valerie: Sei ohne Sorge, Paul, alles geht gut …
»… Nach verläßlichen Berichten sind allein in den ersten vier Monaten des russischen Feldzugs über eine Million Deutsche gefallen. Jede Woche achtzigtausend. Jede Stunde fünfhundert. Wofür? Für verwüstete Erde? …«
Das kleine Reh … es bringt uns Glück … uns allen …
»… Für wen? Für Adolf Hitler? Wofür? Für Machtwahn? …«
Dieser Richter war ein ganz böser Hund, aber er hat sich dem einfach nicht verschließen können, was wir vorgebracht haben, was die Zeugen beschworen haben …
»… Jede siebente Sekunde … Stunde um Stunde … Tag und Nacht … Tag und Nacht jede siebente Sekunde …«
Valeries Kopf glitt an der Wand des Apparates herab auf die Tischplatte. Sie seufzte noch einmal lange und glücklich. Dann bewegte sie sich nicht mehr.
Als Martin Landau eine Viertelstunde später in den Laden zurückkehrte, fand er Valerie so vor – unter der Decke, den Kopf auf der Tischplatte, in tiefem Schlaf. Der Apparat lief. Ein tschechischer Ansager verlas gerade Nachrichten. Landau stellte das Radio schnell ab und drehte an den Skalenknöpfen, dann bettete er Valerie behutsam auf das alte Sofa und deckte sie vorsichtig zu.
So ist auch einmal der Heinz eingeschlafen, dachte er beklommen, damals, in jener Nacht, in der alles begann. Martin Landau blickte Valerie Steinfeld an. Ein seliges Lächeln erhellte ihr Gesicht …