22
Die Allee vom Ufer nach Fischamend sah im Mondlicht unwirklich und phantastisch aus. Sie leuchtete. Es leuchteten die Altwassertümpel, in denen Frösche quakten. Es leuchteten die Äste und Zweige und Blätter der alten Weiden, Linden, Kastanien, und die weißen Stämme der Birken in den Auwäldern.
Heinz ging schnell. Er trug den zerrissenen Mantel und den Brotbeutel des Russen. Auch der Mantel zeigte die Ölfarbenbuchstaben su. Bianca hatte Mühe, Schritt zu halten.
Sie redete hastig: »Du wirst es nicht tun, Heinz …«
»Natürlich werde ich es tun!«
»Bitte, nein! Der Mann ist verletzt … halb verhungert …«
»Wir führen Krieg mit Rußland! Einen Krieg auf Tod und Leben! Hast du das vergessen?«
»Aber du … aber du …«
»Was, aber ich?« Er blieb stehen und sah sie so zornig an, daß sie zu zittern begann. »Aber ich Halbjud – wolltest du das sagen, ja? Ich Halbjud habe es nötig? Das hast du sagen wollen, wie?«
»Nein, Heinz, nein! Lieber, guter Heinz, nie habe ich das sagen wollen, nie!« rief sie verzweifelt.
»Nein, nie?« Er musterte sie mit schmalen Lippen. War das der Mensch, in dessen Armen sie gelegen hatte, stundenlang, immer wieder, der erste Mann in ihrem Leben? War das Heinz, den sie so liebte? O Gott, was war geschehen? »Dann ist es ja gut. Ich bin nämlich kein Halbjud! Ich bin ein Arier wie du – kein Untermensch wie der dort!« Er wies mit dem Kinn den Weg zurück. Er sagte, plötzlich leise, mit durchdringender, bebender Stimme: »Und ich gehe den Weg, den ich zu gehen habe!«
»Was für einen Weg?«
»Den geraden! Wenn meine Mutter schon ihr Leben ruiniert hat, weil sie diesen geraden Weg nicht gegangen ist – mir passiert das nicht! Mir nicht, Bianca! Es gibt nur einen ehrenhaften und richtigen Weg jetzt – zur Gendarmerie!«
Damit eilte er weiter.
Sie lief ihm nach.
Zwei Kilometer lang war die Straße. Zwei Kilometer lang bat, bettelte und flehte Bianca Heinz an, seinen Sinn zu ändern. Er antwortete bald schon nicht einmal mehr auf ihre Worte. Aufrecht, den Kopf zurückgeworfen, marschierte er Fischamend zu.
Die ersten Häuser. Die Hauptstraße. Ende der Au-Allee.
Heinz bog in Richtung Marktplatz ein. Bianca eilte immer an seiner Seite. Immer noch versuchte sie, ihn umzustimmen.
»Wenn du mich liebst, tust du es nicht … Der arme Hund ist doch erledigt, wenn sie ihn erwischen … Und sie erwischen ihn – der kann doch nicht weiter, ohne Boot, mit seinem Fuß … Heinz! Heinz, hörst du denn nicht? Die stellen ihn an die Wand! Die bringen ihn um!«
»Quatsch nicht!«
»Wie redest du denn … Natürlich bringen sie ihn um!«
»Und wenn schon! Was machen denn seine Leute mit unseren Soldaten?« Leer lag die Hauptstraße, kein Mensch war zu sehen. Nun erreichten sie den Marktplatz. Er war leer und verdunkelt. Nur über dem Eingang zu einem Geschäft, dessen Auslage vernagelt war, brannte eine blaue Lampe. Das war das Gebäude, in dem sich der Gendarmerieposten befand, Heinz wußte es, und er hatte es Bianca gesagt. Das Gebäude hatte einem Juden gehört. Aus dem Lebensmittelgeschäft zur ebenen Erde war eine Wachstube geworden. Streifen mit Hunden kamen und gingen. Sie bewachten die Industrieanlagen und die Umgebung der Flakstellungen hier, durchstreiften die Auen.
»Heinz!« Bianca hatte ihn am Arm gepackt. »Tu es nicht!«
Er sah sie an, schmal die Augen, schmal der Mund.
»Natürlich tue ich es! Und kein Mensch wird mich daran hindern! Keiner! Auch du nicht! Oder?«
»Wie kann ich es? Wie kann ich dich hindern, Heinz? Der arme Kerl auf der Insel … Ich muß immerzu daran denken, was aus ihm wird … Heinz … Heinz!«
»Ich tue nur, was jeder gute Deutsche tun muß.«
»Heinz! Bitte! Bitte, Heinz! Was für ein Tag war das … Wir lieben uns doch … Wir lieben uns doch so sehr … und heute … gerade heute …«
»Glaubst du vielleicht, ich bin ein Schuft, ein Verräter? Glaubst du, ich lasse den Kerl da laufen? Morgen ist sein Bein besser, und er schwimmt ans Ufer und holt sich das Boot und haut ab … Nein! Nein!«
»Wenn du hineingehst, Heinz, wenn du da hineingehst …« Bianca mußte unterbrechen und keuchend Atem holen.
»Ja? Ja? Was ist dann?«
»Dann kann ich dich nicht mehr lieben!« rief sie im Paroxysmus der Verzweiflung. Es war die ärgste Drohung, die ihr einfiel. Eine Drohung, niemals ernst gemeint, dachte sie verzweifelt. Aber vielleicht glaubt er, sie ist ernst gemeint, vielleicht … Er sieht mich an … anders als früher. Er öffnet den Mund, er will sprechen, er bekommt kein Wort heraus. Er schluckt.
Heinz sagte heiser, sich mehrmals räuspernd, während es in seinem Gesicht zuckte: »Also gut. Dann mußt du wählen.«
»Was? Was muß ich wählen?«
»Zwischen dem Russen und mir.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ganz einfach.« Heinz stand jetzt hoch aufgerichtet. »Ich gehe da hinein und zeige den Russen an – dann bleibt zwischen uns alles, wie es ist, für immer. Oder …«
»Oder?«
»Oder der Russe ist dir wichtiger. Gut, dann gehe ich nicht da hinein. Dann habe ich ihn nicht gesehen …«
»Heinz! Heinz!«
»Aber dann gehe ich von dir fort! Jetzt in dieser Minute. Zurück ins Werk. Dann ist es aus zwischen uns …«
»Heinz! Bist du verrückt geworden?«
»Überhaupt nicht. Dann ist es aus. Wenn du das von mir verlangst – gut, ich will es tun. Aber lieben kann ich dich dann nicht mehr. Leben kann ich dann nicht mehr mit dir. Zu tun haben will ich dann nichts mehr mit dir …«
Sie sahen sich an, nah, ganz nah.
»Nun?«
Fast unhörbar flüsterte Bianca: »Geh nicht hinein, Heinz.«
Ohne ein Wort reichte er ihr den alten, schmutzigen Mantel und den Brotbeutel des Russen. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging den Platz hinauf, in Richtung seiner Fabrik.
»Heinz!« rief sie, leise und überwältigt. »Heinz! Heinz, bitte …« Sie stand nun allein auf dem harten Erdboden, vor dem Haus mit der blauen Lampe.
Bianca sah immer noch Heinz nach. Jetzt verschwand er schon in der Dunkelheit. Nur das Geräusch seiner Schritte war noch zu hören, und auch dieses wurde schnell leiser …