41

Nackt, vollkommen nackt lag Nora Hill auf dem zerwühlten Bett, die Augen leuchtend, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Das Bett war groß und stand im Schlafzimmer von Jack Cardiffs eleganter Wohnung an der breiten Avenida da Liberdade, nahe dem großen Praca do Marquês de Pombal, dem Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal des Marquês erhebt, der Leitender Minister König Josephs I. und ein großer Reformer gewesen ist. Sonne schien in den Raum, Geräusche von Autos und Menschen drangen aus der Tiefe empor, und es war sehr warm in Lissabon an diesem Nachmittag des 3. Oktober 1942. Am Abend startete Noras Flugzeug. Doch sie hatte noch Zeit, ein paar Stunden hatte sie noch Zeit. Ihre Koffer im Hotel ›Aviz‹, in dem sie immer abstieg, waren schon gepackt.

Aus dem Wohnzimmer kam Jack Cardiff. Er hatte einen grauseidenen Morgenrock angezogen und schob eine kleine Bar auf Rädern vor sich her. Nora sah ihn glücklich an, diesen schlanken, großen Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht und den hellen Augen, diesen Mann, in dessen Umarmung sie sich eben noch auf dem Bett gewälzt hatte, keuchend vor Lust und Gier. Sie liebte ihn, oh, sie liebte ihn, seine Stimme, seinen Körper, jede seiner Bewegungen! Lächelnd sah sie zu, wie er nun geschickt zwei Drinks bereitete – Gin-Tonic. Er reichte ihr ein Glas.

»Auf ein glückliches Wiedersehen, Darling«, sagte Jack Cardiff.

»Auf ein glückliches Wiedersehen«, antwortete Nora Hill. Nachdem sie getrunken hatte, sagte sie: »Jedesmal, wenn ich nach Deutschland zurück muß, habe ich Angst, schreckliche Angst, daß etwas geschieht, was uns trennt, auseinanderreißt …«

»Es geschieht nichts«, sagte er. »Ich bin auch immer traurig, wenn ich nach London muß, Darling, aber beide kommen wir immer wieder zueinander, und so wird es bleiben, bis dieser Krieg zu Ende ist.«

»Dann sind wir zusammen für immer«, flüsterte sie. »Du bist meine Liebe. Meine erste. Meine einzige. Du wirst meine einzige Liebe bleiben.«

»Und du die meine, Darling«, sagte Jack Cardiff. Er trat, das Glas in der Hand, in die offene Balkontür und sah auf die sonnenglänzende Avenida hinab, zu dem Denkmal des Marquês und weiter empor zu dem blühenden Parque Eduardo VII. dahinter. Der große Ziergarten lag auf einem allmählich ansteigenden Abhang. Zwischen Pinien und Korkeichen, Orangen-, Zitronen-, Oliven-, Granatäpfel- und Feigenbäumen erblickte Jack Cardiff die schimmernden Scheiben des Estufa Fria, in dem, wie in einem riesigen Kühlhaus, seltene Pflanzen, Büsche und Farne gedeihen. Zwischen den Beeten mit Krokussen, Narzissen, Lilien und Tulpen winden sich weiße, kiesbedeckte Wege. Kleine Brücken spannen sich über künstliche Bäche. Jack Cardiff sah den dunkelblauen, winzigen See und die blitzenden Wasserkaskaden. Jack Cardiff sagte, während er ein schweres goldenes Zigarettenetui aus der Tasche seines Morgenmantels nahm und zwei Zigaretten mit einem goldenen Feuerzeug in Brand setzte: »Du hast dir alles gemerkt, was mir für Herrn Flemming eingefallen ist?«

Er steckte Etui und Feuerzeug – Geschenke Noras – wieder ein.

Sie nickte, während er zum Bett kam, eine der beiden Zigaretten zwischen ihre Lippen steckte und danach ihre Brustwarzen küßte. Er setzte sich auf das Bett und streichelte sanft Noras Hüften.

»Alles ganz genau«, sagte Nora. Sie räkelte sich unter seinen Händen. Rommels rasender Vormarsch in Nordafrika war Ende Juni bei El-Alamein, hundert Kilometer südwestlich von Alexandria, vor starken britischen Stellungen zum Halten gekommen, ein Durchbruchversuch fehlgeschlagen. Jedermann wußte, daß ein Gegenangriff der Engländer unter General Montgomery unmittelbar bevorstand. Die Briten hatten in den vergangenen Wochen große Mengen von Soldaten, Panzern und Flugzeugen herangeschafft. Über diese Bewegungen, ihr Ausmaß und den rollenden Nachschub sowie über den Beginn der Gegenoffensive brachte Nora dem für den Raum Südeuropa und Afrika zuständigen Ministerialdirektor des Auswärtigen Amtes, Carl Flemming, nun eine Menge Mitteilungen und Zahlen mit. Ein Teil der unwichtigen war richtig, die wichtigen waren alle falsch, ebenso falsch wie Angaben über Vorbereitungen der Engländer und Amerikaner für eine Landung in Süditalien. Das Amt in Wien arbeitete getarnt, es firmierte unter dem nichtssagenden Titel ›Arbeitsstab Flemming‹.

»Ich habe Flemming eine Menge zu erzählen«, sagte Nora.

»Wenn es dann nicht eintrifft, haben wir eben unsere Pläne geändert. Und werden dann vielleicht die Absicht haben, auf Sizilien zu landen. Oder in Griechenland. Das kann noch lange so weitergehen«, sagte Cardiff.

»Wird es noch lange so weitergehen?«

»Ich fürchte, Darling. Sei nicht traurig. Der Tag kommt, an dem wir die Deutschen besiegt haben …«

»Was ist?« Nora sah den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte, besorgt an. Eine gewisse Spannung in seiner Stimme, in seinem Gesicht beunruhigte sie. »Du hast etwas!«

In breiten Bahnen fiel das warme Licht der Nachmittagssonne durch das Schlafzimmer.

»Ja, Nora, ich habe noch etwas. Zuerst wollte ich es dir überhaupt nicht sagen. Aber ich habe es versprochen. Und so schob ich es auf – bis zur letzten Minute.«

»Warum?«

»Weil es dich vielleicht gefährdet.«

»Gefährdet bin ich seit Jahren. Sag es mir! Besonders, wenn du es versprochen hast! Ja, da, streichle da weiter. Langsam, ganz zart. Wem hast du es versprochen?«

»Paul Steinfeld«, sagte er.

»Was will Steinfeld?« fragte Nora. Jack hatte ihr von diesem emigrierten Österreicher, dem er in London begegnet war, erzählt, von seiner Frau Valerie, von seinem Sohn Heinz, von den großen Sorgen, die Steinfeld sich machte, weil er nicht wußte, wie es den beiden ging.

Cardiff trank wieder. »Vieles weißt du schon. Ich erkläre dir das Hauptproblem. Wenn es dir zu riskant erscheint, kannst du immer noch nein sagen. Ich werde dir wahrhaftig nicht böse sein.«

»Sprich«, sagte Nora. Sie hatte große, schöne Brüste, einen schlanken, ebenmäßigen Körper, lange Beine mit festen Schenkeln und makellos geschwungenen Waden. »Sprich. Und nimm die Hand nicht weg da, bitte.«

»Hör zu.« Er zog an seiner Zigarette. »Du weißt, die BBC hat phantastische Informationen. Besonders der Deutsche Dienst. Immer wieder bekommen diese Leute die neuesten Geschichten aus Deutschland heraus – es grenzt an Zauberei. Nun haben sie Berichte erhalten, die Steinfeld sehr beunruhigen. Er ist Volljude, wenn auch evangelisch getauft. Seine Frau ist Arierin. Herrgott, dieses Wort! Der Sohn, an dem Steinfelds ganzes Herz hängt, ist also ein Mischling Ersten Grades. Wäre sein Vater nur Halbjude, wäre er Mischling Zweiten Grades. Dann hätte Steinfeld nicht solche Angst um ihn …«

»Die Hand. Laß die Hand da liegen, bitte.«

»Bis vor kurzem haben die Nazis Mischlinge Ersten und Zweiten Grades ganz in Ruhe gelassen. Halbjuden durften Soldaten werden, studieren …«

»Nur bis Anfang dieses Jahres«, sagte Nora.

»Stimmt. Nur bis Anfang dieses Jahres. Dann kamen die ersten Maßnahmen. Die radikale Gruppe um Himmler begann sich gegen Goebbels durchzusetzen, der das ganze Problem auf die Zeit nach dem Endsieg verschieben wollte. Zuerst wurden die halbjüdischen Soldaten heimgeschickt. Dann folgten Schikanen aller Art. Sie steigerten sich. Aus lächerlichsten Anlässen wurden Mischlinge Ersten Grades – besonders solche mit jüdischen Vätern, mit emigrierten jüdischen Vätern! – verhaftet, eingesperrt, in Arbeitslager gesteckt. Und das, sagt Steinfeld, soll nun rasch immer schlimmer werden. Sie haben ihre Nachrichten. Er weiß, wovon er redet. Mit der ›Lösung nach dem Endsieg‹ ist es vorbei!«

»Und?« fragte Nora. Sie legte ihre Hand auf die von Cardiff und hielt sie fest.

Er rauchte nervös.

»Steinfeld sagt, die Nazis bereiten ein Gesetz vor, nach dem Mischlinge Ersten Grades – Bonzen und ihre Verwandten natürlich ausgenommen – Juden gleichgestellt werden sollen. Der Krieg geht langsam schief. Man braucht Ablenkung, Beunruhigung, neuen Terror. Natürlich hat das in den betroffenen Kreisen bereits eine Reaktion ausgelöst. Steinfeld erzählte, sie hätten Kenntnis davon, daß in Deutschland seit einiger Zeit Vaterschaftsprozesse geführt werden. Da tritt die Mutter eines Halbjuden, dessen Vater unerreichbar ist, vor Gericht und schwört, ihr Kind sei der ehebrecherischen Verbindung mit einem arischen Mann entsprungen. Der eigene Mann komme also nicht als Vater in Frage.«

Nora ließ Cardiffs Hand los. Sie hielt ihr Glas hin.

»Mach mir noch einen, bitte«, sagte sie, und, während er zwei weitere Gin-Tonics bereitete: »Davon habe ich noch nie gehört.«

»Die Beteiligten schweigen natürlich. Auch die Richter. Es soll nicht publik werden. BBC hat ein paar Dutzend konkrete Fälle katalogisiert. Hier bitte.«

»Danke, Jack.«

»Mud in your eye, Darling.«

»Mud in your eye.«

»Es gibt bereits Spezialisten unter den Anwälten. Denn so ein Prozeß ist kompliziert. Man muß einen Arier haben, der den Meineid schwört, der wirkliche Vater gewesen zu sein. Steinfeld denkt da an einen alten Freund, bei dem Frau Steinfeld jetzt arbeitet, an den Buchhändler Landau. Er ist der einzige, an den Steinfeld denken kann. Dann muß es Zeugen geben. Was da noch alles nötig ist! Ich sage dir ja, ohne Spezialanwalt geht das gar nicht. Steinfeld kennt einen Anwalt in Wien, persönlich, der dafür in Frage käme. Das ist ein Antinazi, wie er im Buch steht! Der würde die Sache sofort übernehmen …«

Nora ließ sich, das Glas in der Hand, langsam zurückgleiten.

Jack Cardiff fuhr fort: »Natürlich macht es vor Gericht einen guten Eindruck, wenn es da Zerwürfnisse zwischen Vater und Sohn gab, Zwistigkeiten, wenn der Junge den wirklichen Vater haßt. Steinfeld sagt, Heinz hat in den letzten Jahren bestimmt allerhand durchmachen müssen a conto seiner Abstammung. Steinfeld betet zu Gott, daß der Junge ihm die Schuld daran gibt, daß der Junge ihn haßt, so sehr wie möglich haßt. Du siehst, Darling, viele Menschen haben heute ihre schweren und großen Sorgen. Damit verglichen sind unsere klein.«

Nora griff nach seinem Arm.

»Was ist?«

»Leg deine Hand wieder da hin«, sagte Nora mit ihrer tiefen, heiseren Stimme. »Und erzähle mir alles. Alles. Ganz genau. Jede Kleinigkeit. Was ich wissen muß.«

»Du wirst es also tun?« fragte er, Freude und Stolz im Gesicht.

Sie nickte.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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