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Der Major Hans Waldegg war selig vor Freude, als er den Brief seiner Frau erhielt, in dem diese ihm mitteilte, daß sie schwanger sei. Er versuchte, Urlaub zu bekommen, jedoch wurde sein Ansuchen abgelehnt. Daraufhin begann der Major Waldegg, ein rechtschaffener, etwas einfältiger Mensch aus gutbürgerlicher Familie, der sich niemals um Politik kümmerte, sondern nur um seinen Beruf, den auch schon Vater und Großvater ausgeübt hatten, seiner geliebten Frau jeden zweiten Tag zu schreiben, und sehr viele Briefe erreichten auch ihn.
Alles gehe seinen guten Gang, schrieb Martha Waldegg. Dr. Orlam sei außerordentlich zufrieden. Sie befolge alle seine Anordnungen auf das gewissenhafteste. Mit der Geburt des Kindes rechne sie für Dezember. Ihre Schwester Valerie habe jetzt bereits versprochen, Anfang Oktober nach Villach zu kommen und bei ihr zu bleiben bis zur Niederkunft.
Das rührte den Major Waldegg, denn er wußte um Valeries Schicksal, und sie tat ihm leid. Waldegg schrieb auch Valerie Briefe, in denen er immer wieder seine Dankbarkeit aussprach.
Diese Briefe ließ Valerie daheim herumliegen, so daß die Agnes und ihr Sohn sie lesen konnten, und sie zeigte sie Martin und Ottilie Landau. Natürlich verstanden die beiden, daß sie der Schwester beistehen wollte und mußte, und so übersiedelte Valerie Anfang Oktober. Sie war da bereits im sechsten Monat, aber man sah ihrem schlanken Körper die Schwangerschaft nicht an. Genauso war es bei Heinz gewesen – erst in den letzten beiden Monaten vor der Geburt hatte Valeries Leibesumfang zugenommen.
Sie verließ Wien und die Buchhandlung Landau, Heinz blieb in der Obhut der Agnes zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn Heinz, mittlerweile ein wenig ruhiger geworden, zeigte sich der Mutter gegenüber immer noch feindselig und verschlossen. Mit schwerem Herzen fuhr Valerie nach Villach …
Regelmäßig erschien Dr. Orlam in der einsamen Fliederstraße und untersuchte scheinbar Martha Waldegg (die nun schon ein Kissen – Polster sagt man in Österreich dazu – unter dem Rock trug), tatsächlich jedoch Valerie, deren Bauch sich langsam rundete, was sie mit Hilfe einer veränderten Garderobe und dadurch verbarg, daß sie kaum noch das Grundstück verließ und in Begleitung ihrer Schwester täglich stundenlang in dem nun kahlen Garten, hinter dem die Züge rollten und die Lokomotiven pfiffen, spazierenging. Sie solle sich viel Bewegung machen, hatte Dr. Orlam gesagt.
Im November provozierte Martha dann einen wohlüberlegten Streit mit der Putzfrau, sie beschuldigte die Person ungerecht, was zur Folge hatte, daß die Putzfrau fristlos kündigte. Nun waren die Schwestern allein.
In der Nacht des 8. Dezember 1938 setzten bei Valerie die Wehen ein. Martha rief telefonisch Dr. Orlam herbei. Am frühen Morgen des 9. Dezember schon hatte Valerie, ohne jede Komplikation wiederum, ihrem zweiten Kind das Leben geschenkt. Sie war in guter körperlicher Verfassung, ebenso das Baby. Drei Tage verbrachte Valerie im Bett, ständig besucht von dem alten Arzt, der zu seiner Verwunderung feststellte, daß sie einen gelösteren und fröhlicheren Eindruck machte als Martha, die nun die Rolle der Mutter des Kindes übernehmen mußte.
Am 12. Dezember telefonierte Martha mit ihrem Mann und sagte ihm, daß sie ein Mädchen geboren habe. Dr. Orlam schickte ein Telegramm des gleichen Inhalts und seine Glückwünsche. Er hatte auch das Problem des Stillens mittlerweile erledigt. Das Neugeborene wurde mit fremder Muttermilch genährt, die eine Frauenklinik täglich lieferte, Valeries Milchvorräte ließ Dr. Orlam durch ständige kühle Umschläge zurückgehen. Und Martha, so konstatierte er einfach, besaß nicht genügend dieser Vorräte, um das Kind selber zu nähren.
Am 17. Dezember traf Hans Waldegg in Villach ein. Er hatte Urlaub über Weihnachten erhalten. Der Major fand eine fröhliche Valerie vor und eine ernste Martha, die im Bett lag, ein laut schreiendes Baby im Arm hielt und in Tränen ausbrach, als er neben dem Bett in die Knie fiel und sie küßte, wieder und wieder, wobei er flüsterte: »Danke … Ich danke dir, meine Liebste …«
Im dämmrigen Hintergrund des Zimmers verharrte reglos, mit einem Lächeln auf den Lippen, Valerie Steinfeld.
Dieses Lächeln war auch noch auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie – man hatte die gesetzlichen Formalitäten in aller Eile erledigt – am 21. Dezember 1938 in der Kirche zu Sankt Nikolai (laut rauschte die nahe, hoch angeschwollene Drau) vor den Pfarrer trat, der bei Beginn der Taufe, also vor Eintritt des Kindes in das Reich des Lichtes und des Lebens, noch eine violette Stola trug. Im Arm hielt Valerie das gut gegen die Kälte geschützte Baby. Der Major trug Uniform, seine Frau ein schwarzes Kostüm, ein schwarzes Hütchen und einen grauen Waschbärmantel, den Waldegg ihr zum Geschenk gemacht hatte.
»Der Friede sei mit euch«, sprach der Pfarrer. »Wie soll dieses Kind heißen?«
Draußen donnerte der Fluß, eiskalt pfiff der Nordwind.
»Dieses Kind soll Irene heißen«, antwortete Valerie mit klarer, lauter Stimme. Der Major Waldegg und seine Frau hatten den Namen gewählt. Es war ein Name, den auch drei Heilige trugen.
Der Pfarrer sprach: »Irene, was begehrst du von der Kirche Gottes?«
Valerie hörte, wie Martha, die hinter ihr stand, unterdrückt zu schluchzen begann und wie ihr Mann zärtlich und tröstend auf sie einsprach. Valerie antwortete, und ihre Stimme klang gleich einer Glocke aus Glas: »Den Glauben.«
»Was gewährt dir der Glaube?«
Valerie erwiderte: »Das ewige Leben.«
»Willst du also«, fragte der Pfarrer, »zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Gemüte und deinen Nächsten wie dich selber.«
Auch du sollst es nie erfahren, Paul, geliebter Paul, dachte Valerie, niemand soll es wissen außer mir und Martha und dem Doktor Orlam und Gott, wenn es wirklich einen Gott gibt, nein, niemand soll es wissen.
»Empfange das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn und auf das Herz«, sprach der Priester. Er sprach laut, um die brausende Drau zu übertönen.
»Ergreife den Glauben an die himmlische Lehre und wandle so, daß du ein Tempel Gottes sein kannst …«
Immer noch schluchzte Martha Waldegg. Und noch immer stand auf Valeries Lippen das geheimnisvolle Lächeln – das gleiche wie bei jener unbekannten Selbstmörderin, die man einst in Paris aus der Seine zog.