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Kurze Zeit später, um 19 Uhr 43, verließen der Hofrat Wolfgang Groll und Manuel Aranda das ›Ritz‹ durch den Vordereingang. Der Hofrat trug den schwarzen Diplomatenkoffer. Rechts und links von ihm und Manuel gingen zwei große, kräftige Männer, die Hände in den Taschen, dauernd nach allen Seiten Ausschau haltend. Die vier marschierten durch das dichte Schneetreiben und den fauchenden Ostwind, der ihnen Schneekristalle ins Gesicht peitschte, zu dem großen Wagen, der vor dem Portal parkte. Sie stiegen ein. Ein Mann setzte sich hinter das Steuer, startete, umkreiste das Hotel, kam auf den Ring zurück und lenkte den Wagen in Richtung Parlament. Die Fahrbahnen waren teilweise schon sehr verweht, Schneepflüge rollten durch die Straßen, Autos rutschten auf Eis und Neuschnee. Der Verkehr war noch stark, die Wagen schlichen vorsichtig dahin. Ein Beamter saß neben dem Fahrer, Manuel neben dem Hofrat im Fond. Groll hielt den kleinen Koffer nun auf den Knien. Gesprochen wurde lange Zeit kein Wort. Wie große Perlenschnüre glitten die Kugellampen vorüber, die zu beiden Seiten des Rings, unter tiefverschneiten Bäumen, brannten. Das Naturhistorische Museum, das große Denkmal der Kaiserin Maria Theresia, in Schnee versunken. Das Kunsthistorische Museum. Das Heldentor, der Eingang zur Hofburg …
»Sieht schön aus, nicht wahr?« sagte Groll.
Manuel nickte.
»Die eine Seite dieser Stadt. Die andere …« Groll brach ab. Er fragte den Fahrer: »Folgen sie uns?«
»Ja«, sagte der Mann. »Ein Chevrolet und ein Buick.«
»Gut«, sagte Groll. »Geben Sie acht, daß Sie die beiden nicht aus Versehen abhängen.«
»Ich passe schon auf.« Der Mann am Steuer bremste, denn die Lichtampel bei der Bellaria-Kreuzung sprang eben auf Gelb. Er wäre noch durchgekommen, aber die beiden Wagen, die ihn verfolgten, hätten halten müssen. Der Mann am Steuer sagte: »Sie haben stundenlang neben dem Hotel gewartet. Die Franzosen sitzen in dem Buick, ich habe einen von ihnen erkannt.«
»Dann fahren die anderen in dem Chevrolet«, sagte der Hofrat.
»Große, qualmende Scheiße«, sagte zur gleichen Zeit der Mann neben dem Fahrer des Buick in ein Handmikrophon. »Entschuldigen Sie, Chef. Aber es ist zum Kotzen. Wir sind jetzt bei der Bellaria. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, fahren sie mit dem Objekt ins Sicherheitsbüro.« Von krachenden Störungen unterbrochen kam Jean Merciers Stimme aus dem Lautsprecher des Buicks: »Verlieren Sie um Himmels willen den Wagen nicht, Nummer Fünf. Ich muß genau wissen, wo das Objekt landet …« Er sprach abgehackt, atemlos. Und während er sprach, drehte er mit einer langsamen, brutalen Bewegung dem scharlachroten Spielzeugfuchs, der für ein kleines Mädchen namens Janine in Casablanca bestimmt gewesen war, den Kopf ab. Mercier stand jetzt der Schweiß auf der Stirn. Die drei anderen Männer im Hinterzimmer des längst geschlossenen französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ sahen tief besorgt aus. Nun fuhren sie zusammen. Mercier hatte die Schnur abgerissen, die an dem kleinen Fuchs hing. Silberhell und lieblich war die Musikuhr in Gang geraten: ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen …‹
Das Licht der Ampel an der Bellaria wechselte auf Grün. Die Wagen fuhren weiter den Ring hinab, vorbei an dem tiefverschneiten Parlament. Die gelb leuchtenden Kandelaber vor dem festlich angestrahlten Burgtheater trugen hohe Schneehauben. Hinter dem Park gegenüber erhob sich, mächtig und breit, die ebenfalls angestrahlte Fassade des Rathauses. Dicht fielen jetzt die Flocken. Menschen bewegten sich so vorsichtig wie Autos und Straßenbahnen. Der Schnee dämpfte die Geräusche, es war unwirklich still inmitten all des Verkehrs. Der Wagen, in dem Manuel und Groll saßen, und die beiden Autos, die sie verfolgten, passierten die dunkle Universität und die Schottenringkreuzung und bogen alle drei nach links in die Währingerstraße ein.
Ein junger Mann in dem Chevrolet sprach russisch in ein Handmikrophon: »Ich rufe Lesskow … ich rufe Lesskow … Hier ist Gorki …«
Eine russische Stimme erklang aus dem Lautsprecher im Wagen: »Ich höre Sie, Gorki. Sprechen Sie!«
»Wir fahren jetzt die Währingerstraße hinauf, vermutlich zum Sicherheitsbüro. Der Koffer ist im Wagen.«
»Sehr gut«, sagte Fedor Santarin, Präsident der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹. Er saß, elegant gekleidet wie immer, neben Grant in einem nur mit besonderen Schlüsseln zu öffnenden Zimmer eines alten Barockpalais in der Wollzeile. Indirektes Licht schien warm und mild auf erlesene antike Möbel, edle Stiche an den Wänden mit den Seidentapeten, einen großen Teppich, der den ganzen Boden bedeckte, und einen modernen Kurzwellensender, der in eine der meterdicken Mauern eingebaut war.
Zwei dezent gekleidete Männer saßen an dem Metallkasten, einer vor dem Mikrophon.
»Bleiben Sie auf Empfang, Lesskow, bleiben Sie auf Empfang …« erklang die Lautsprecherstimme.
»Verstanden, Gorki«, sagte der Mann am Mikrophon.
»Nun«, sagte Santarin in englischer Sprache, »das funktioniert doch alles wundervoll, Gilbert, finden Sie nicht? Egal, wohin sie das Köfferchen bringen – die Franzosen bekommen es auf keinen Fall mehr. Und alles kann so weiterlaufen, wie wir es mit Nora Hill besprochen haben.«
»Unberufen!« Grant, der Ersatzteilhändler für amerikanische Autos, führte eine Hüftflasche zum Mund.
»Es ist natürlich ein großes Glück, daß Romath so ergeben für uns arbeitet«, fuhr Santarin fort, sorgsam ein Hosenbein hochziehend, um die Bügelfalte zu schonen. »Wir haben eigentlich, Heilige Mutter von Nowgorod, ich will mich nicht versündigen, nur tadellose Leute hier in Wien. Was für ein Segen, daß der Graf Romath kleine Jungen in den Hintern stößt. Zu kleine Jungen.«
»Und ihr habt etwas gegen Aristokraten!«
»Wieso? Tolstoi war auch ein Aristokrat. Und ein frommer Mann, wie ich!«
»Hallo, Lesskow, hallo, Lesskow, bitte kommen, hier ist Gorki.«
»Verstanden, Gorki. Was gibt’s?«
»Wir haben uns geirrt«, klang eine russische Männerstimme aus dem Lautsprecher des Senders. »Aranda und der Hofrat fahren nicht zum Sicherheitsbüro. Sie sind bei der Nußdorfer Straße rechts eingebogen und fahren jetzt hinauf in Richtung Döbling, Sievering und die westlichen Vororte!«