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»Und das hat Flemming Ihnen erzählt?« Manuel Aranda sah Nora Hill erstaunt an.
»Ja.« Die Frau in dem dekolletierten Hosenanzug nickte. Das Kaminfeuer ließ die großen Smaragde in ihren Ohren aufglühen. »Natürlich nicht sofort. Ich wurde wach – ich war tatsächlich eingeschlafen nach all den Aufregungen –, als die Gestapoleute kamen. Sie brachten auch die Mordkommission der Kriminalpolizei. Das war gegen Mitternacht. Angestellte und Hausgäste kehrten gerade heim, einer nach dem andern. Großes Durcheinander! Untersuchungen! In Carlsons Zimmer wurden der Yale-Schlüssel und die Kamera entdeckt.«
»Fand niemand, daß das ein ziemlich primitives Versteck war?« Nora schüttelte den Kopf.
»Alle waren der Ansicht, daß Carlson die beiden Gegenstände nur provisorisch verborgen hatte, in Eile, als Flemming ihn zu sich rief; daß er gewiß ein viel besseres Versteck besessen hatte, aber an dieses in der kurzen Zeit nicht mehr herangekommen war. Die Kamera und den zweiten Schlüssel zum Schreibtisch trug er eben bei sich, weil er an diesem Abend, an dem das Haus fast leer war, wieder fotografiert hatte. Ganz logisch, nicht wahr? Flemming suggerierte diese Version behutsam seinem Freund Englert von der Gestapo – und vor der Gestapo wieder hatte die Kriminalpolizei Respekt. Der Amtsarzt stellte Tod durch Zyankali fest. Spione führten bei ihren Aufträgen oft Giftkapseln mit sich. Das war durchaus üblich. Splitter fanden sich im Mund Carlsons. Nachts noch wurde der Film der Kamera entwickelt und zeigte die Dokumente, die Flemming fotografiert hatte. Dazu Carlsons Fingerabdrücke auf der Kamera, Flemmings Behauptung, er habe den Chauffeur schon lange verdächtigt … Es stimmte alles zusammen …«
In dem Kleinmädchenzimmer saßen in dieser Nacht Santarin, Grant und Mercier. Sie hörten das Gespräch in Noras Wohnzimmer. Die Lautsprecherübertragung bestand noch immer, das Kleinmädchenzimmer war bis auf weiteres nicht zu mieten.
Santarin, er trug einen silbern glänzenden grauen Anzug, sagte: »Ein, höchstens zwei Besuche noch, und Nora kann zur Sache kommen.«
»Ja.« Grant, die Hüftflasche in der Hand, angetrunken wie stets, nickte. »Dann wären wir soweit.«
Aus dem Lautsprecher über dem buntbemalten Bett, auf dem Santarin sich ausgestreckt hatte und Konfekt aß, ertönte die Stimme Noras: »Wir wurden alle verhört – natürlich hatten wir nichts zu sagen. Mich fragte man besonders lange. Ich war doch am Nachmittag mit Carlson allein im Haus gewesen.«
Manuels Stimme: »Und?«
»Und nichts. Ich hatte mich zu Bett gelegt, weil ich mich nicht wohl fühlte, erklärte ich. Flemming sei kurz zu mir gekommen und dann in sein Appartement hinübergegangen. Ich sage Ihnen, alles stimmte. Englert und Flemming duzten sich. Sie waren Freunde. Es kam nie der Schatten eines Verdachts auf. In den nächsten Tagen versuchte man festzustellen, was Carlson alles verraten hatte, an wen, wie lange er schon spionierte, wo er überall fotografiert hatte – er konnte sich ja auch in der Stadt, im ›Arbeitsstab‹, frei bewegen … Alle diese Untersuchungen verliefen im Sand, man fand nichts. Aber man blieb überzeugt, daß Carlson wirklich ein Agent gewesen war – Beweis: sein Selbstmord!«
Santarin sagte, die Konfekttüte aus Goldkarton hin und her drehend: »Was er weder von Nora noch sonst jemandem hier erfahren kann, dürfte Aranda von Daniel Steinfeld hören. Der kommt am Montag, das haben wir eruiert.« Santarin sah zu Mercier. »Einer unserer Freunde sitzt in dem Postamt, von dem aus Irene Waldegg ein Telegramm aus Warschau zugestellt wurde.«
»Gratuliere«, sagte Mercier. Er dachte: Am Montagmittag kommt auch Herr Anton Sirus aus Bremen, du Scheißkerl, der du so verliebt bist in die eigene Schlauheit. Am Dienstagfrüh fliegt er mit der ersten Maschine zurück. Wenn er den Tresor wirklich öffnen kann – und er wird es können, er hat es De Brakeleer gesagt, nachdem dieser ihm heute alle Unterlagen brachte, der Holländer hat mich angerufen –, dann habe ich Montagnacht das, was ich aus diesem Tresor haben will. Was werdet ihr dann tun, du, russischer Schönling, und du, versoffenes amerikanisches Schwein? Herrgott, diese Bürokratie! Schwerer, als Anton Sirus zu heuern, war es, das französische Kultusministerium so weit zu kriegen, daß das Musée de l’Impressionisme Monets ›Mohnblumen‹ zum Verkauf freigab – Sirus’ Bedingung. Wir sind eben eine uralte Kulturnation. Die aber auch die beste B-Waffe der Welt haben will …
In ihrem Wohnzimmer sagte Nora Hill: »Zur ersten Frage: Flemming gestand mir alles, als sich die Aufregung etwas gelegt hatte. Da waren wir abends wieder einmal allein. Ich fragte ihn nur ganz kurz, denn ich war meiner Sache völlig sicher. Er gab sofort alles zu.«
»Er muß großes Vertrauen gehabt haben«, sagte Manuel.
»Vertrauen!« Nora lachte. »Die Hosen hatte er schon voll, ich erzählte es Ihnen doch. Und er haßte Carlson über dessen Tod hinaus für das, was der mit mir getan hatte, denn er liebte mich doch so sehr!« Wieder lachte Nora, diesmal klang es traurig und zugleich böse. »Die Liebe«, sagte sie. »Eine Himmelsmacht eben. Ich habe übrigens niemandem bis zum heutigen Tag diese Geschichte erzählt – auch Cardiff nie.«
»Und Frau Steinfeld?«
»Frau Steinfeld? Ach so, Sie meinen, weil Flemming ja doch erklärt hatte, schweigen und ihr helfen zu wollen, wenn sie nach dem Krieg tüchtig zu seinen Gunsten aussagte?«
»Ja.«
»Nun, Frau Steinfeld teilte ich genau das mit. Und daß Flemmings Chauffeur sich vergiftet hätte. Mit einer Zyankalikapsel.«
»Warum taten Sie das? Ich nehme doch an, die Sache wurde geheimgehalten.«
»Natürlich wurde sie das. Derartige Dinge schwieg man tot. Ich sagte es Frau Steinfeld, weil sie immer noch solche Angst hatte, daß ich beobachtet würde – von dem Mann im blauen Mantel mit dem Homburg. Da meinte Flemming, es sei das beste, ihr zu erzählen, daß Carlson dieser Mann gewesen war. Und daß sie nun keine Angst mehr zu haben brauchte. Das beruhigte sie dann auch. Und sie vertraute von da an ganz mir und dem, was Flemming sagte.«
»Was sagte er denn?«
»Zunächst gab er nur Ratschläge – ich berichtete ihm dauernd alles, was sich zutrug. Aber wirklich aktiv wurde er erst, nachdem Frau Steinfeld mir berichtet hatte, die Blutgruppenuntersuchung sei negativ ausgegangen, Martin Landau könne nicht der Vater sein. Das erzählte ich Flemming sofort, hier, in diesem Raum. Ein schöner Sommerabend war das, es blieb lange hell …«