21

»Hier spricht Nora Hill.« Die Frauenstimme klang tief und fast heiser aus der Membran des Telefonhörers, den Groll an sein Ohr hielt.

»Küß die Hand, gnädige Frau. Das ist aber eine Freude! Endlich denken Sie wieder einmal an mich. Seit der Entführung dieses Jugoslawen im Oktober haben Sie nichts mehr von sich …«

»Hören Sie, Herr Hofrat, die Sache ist eilig. Sie kennen doch Manuel Aranda.«

»Ja. Und?« Groll sah auf seine Armbanduhr. Es war 13 Uhr 15.

»Aranda wird um zwei Uhr das ›Ritz‹ verlassen. Sehen Sie zu, daß Sie und ein paar Ihrer Beamten um diese Zeit in der Hotelhalle sind, und achten Sie auf das, was der stellvertretende Receptionschef dann tut.«

»Der stellvertretende …«

»Ja. Der Chef hat Urlaub. Sein Vertreter ist fünfundvierzig Jahre alt, schlank, groß und hat graumeliertes Haar. Ein Franzose. Pierre Lavoisier heißt er. Auffallend helle Augen. Wenn er in den Tresorraum geht, folgen Sie ihm unter allen Umständen!«

»Warum?«

»Das werden Sie schon sehen. Es hängt mit dem Fall Aranda zusammen. Auf das Innigste. Für heute nachmittag ist da der große Coup geplant.« Die Stimme der Frau, die Nora Hill hieß, klang sehr überlegen. »Wenn Sie – und vor allem die Staatspolizei – in dieser Sache weiterkommen wollen, tun Sie, was ich sage.«

»Gnädige Frau, Männer der Staatspolizei haben in letzter Zeit sehr häufig die Herren Gilbert Grant und Fedor Santarin bei Ihnen draußen vorfahren gesehen. Darf ich annehmen, daß Sie im Auftrag dieser beiden Herren sprechen?«

»Sie dürfen annehmen, was Sie wollen, Herr Hofrat. Haben wir in der Vergangenheit nicht immer ausgezeichnet zusammengearbeitet?«

»Ausgezeichnet«, bestätigte Groll.

»Haben Sie nicht immer die besten Informationen von mir bekommen?«

»Gewiß doch.« Groll räusperte sich. »Amerikaner und Russen arbeiten also auch wieder einmal zusammen. Muß eine wichtige Sache sein.«

»Eine außerordentlich wichtige.«

»Und der gemeinsame Gegner ist Frankreich?«

»Tun Sie nicht so unschuldig. Sie haben doch längst Ihre eigenen Vermutungen.«

»Vermutungen natürlich, gnädige Frau. Aber ich wollte gerne Gewißheit. Worum es geht, das ahnen Sie natürlich nicht.«

»Nein. Ehrlich! Alles erfahre ich auch nicht. Das ist Ihnen doch bekannt.«

»Das ist mir bekannt. Ich danke Ihnen sehr, gnädige Frau. Und falls ich wieder einmal etwas tun kann, Sie wissen ja – ich bin immer für Sie da.«

»Es gibt ein Mädchen, das ist in gewissen Schwierigkeiten.«

»Wieder Rauschgift?«

»Ja, leider.«

»Können die jungen Damen nicht ein wenig vorsichtiger sein?«

»In diesem Beruf? Ich will Sie jetzt nicht aufhalten, Herr Hofrat. Wenn ich Sie vielleicht morgen um diese Zeit anrufen dürfte …«

»Selbstverständlich, gnädige Frau. Und ich werde sehen, was sich machen läßt – wie immer. Küß die Hand.«

»Leben Sie wohl«, sagte Nora Hill.

Der Hofrat drückte die Gabel seines Telefons nieder, dann ließ er sie los und rief seinen Freund Hanseder bei der Staatspolizei an. Er berichtete von Nora Hills Hinweis. Es fiel ihm nicht gleich auf, daß der Ministerialrat Hanseder recht wortkarg blieb.

»… und das Hotel wird doch beschattet, hast du gesagt, seit Tagen …«

»Ja. Da parken immer Funkwagen«, antwortete Hanseder.

»Also müssen wir zu Fuß kommen! Durch die Lieferanteneingänge. Ich regle das noch mit dem Hoteldirektor. Eure Autos laßt ihr beim Künstlerhaus-Kino stehen. Was ist los mit dir, Franz? Sprache verloren?«

Der Mann von der Staatspolizei, der in einem großen Büro am Parkring saß, sagte langsam: »Tu mir einen Gefallen, Wolfgang, und mach das zunächst allein mit deinen Leuten. Du hast ja schließlich den Hinweis gekriegt. Könnte also durchaus in dein Ressort fallen.«

Groll grinste traurig.

»O du mein Österreich. Was für ein Zustand! Wir sollen immer mindestens so viel Angst wie Vaterlandsliebe haben. Schön, Franz, ich mache es allein. Aber später müßt ihr ’ran, da hilft euch nichts! Das ist euer Fall, nicht unser.«

»Du hast diesen Aranda doch so gern …«

»Fang nicht auch noch damit an! Ich sage ja, ich nehme dir die Drecksarbeit ab.«

»Alles Gute, Wolfgang.«

Groll knurrte nur, lachte dann unfroh und führte ein drittes Gespräch mit dem Grafen Romath, dem er sein Kommen annoncierte. Er bat um Hilfe und strikte Diskretion. Der Hoteldirektor war sehr erregt: »Sie werden doch unauffällig vorgehen, nicht wahr? Meine Gäste … der Ruf unseres Hauses … Ich kann mir nicht vorstellen, was hier geschehen soll! Aber natürlich helfe ich der Polizei … Das ist meine Pflicht …«

Sieben Minuten vor vierzehn Uhr saß Groll beim Eingang der großen Halle des ›Ritz‹ und las scheinbar die Zeitung. Vier unauffällige Männer, die vor ihm eingetroffen waren, saßen gleichfalls in tiefen Fauteuils, rauchten, betrachteten Magazine beim Zeitungsstand oder kauften Zigaretten.

Knapp vor zwei Uhr sah Groll dann Manuel Aranda vom Café her in die Halle kommen und seinen Schlüssel abgeben. Dieser verließ das Haus im Mantel und stieg in den blauen Mercedes, den ein Mechaniker vor den Hoteleingang gefahren hatte.

Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Lavoisier, den Groll nach Nora Hills Beschreibung sofort erkannt hatte, arbeitete hinter seiner Theke, zusammen mit zwei anderen Männern. Drei neue Gäste trafen ein. Lavoisier redete mit ihnen allen. Er machte einen völlig gleichmütigen Eindruck. Um 14 Uhr 26 sah der Hofrat einen gutaussehenden, großen Pagen, der ihm schon zuvor aufgefallen war, nach vorne schlendern und sich neben das offene Thekenende der Reception stellen. Etwas fiel ihm aus der Hand. Gleichzeitig bückten er und Lavoisier sich danach. Gleichzeitig erhoben sie sich wieder. Etwa zwei Minuten später ging Lavoisier in das große, offene Büro hinter der Reception und öffnete dort einen kleinen Wandschrank. Seine beiden Kollegen beachteten ihn nicht. Groll und seine vier Männer beobachteten ihn genau. Der Hofrat sah, daß in dem Schränkchen zahlreiche kleinere Yale-Schlüssel und ein einzelner, größerer mit einem langen Hals hingen. Diesen Steckschlüssel nahm Pierre Lavoisier voll Seelenruhe heraus und kam wieder nach vorn. Er sagte etwas Unhörbares zu seinen Kollegen, welche nickten, und ging dann auf einen Gang zu, welcher parallel zu jenem lief, an dem Romaths Büro lag.

Groll erhob sich langsam und wanderte gemächlich durch die Halle nach vorn. Er sah, daß Lavoisier in dem Gang gerade eine Reihe von Stufen hinunterstieg. Eine Tür wurde geöffnet, elektrisches Licht flammte in der Tiefe auf. Die Tür blieb angelehnt.

Danach ging alles sehr schnell. Zwei Männer, die sich in der großen Halle aufgehalten hatten, folgten Groll. Zwei andere Männer, beim Zeitungsstand, eilten plötzlich auf den grau uniformierten hübschen Pagen zu, der ihnen den Rücken wandte. Er fuhr herum, als sie seine Arme packten. Sein Gesicht hatte jetzt die Farbe der Uniform. Ohne ein Wort ließ er sich zu den Lifts hin abführen. Es waren nur wenige Gäste in der Halle, und diese bemerkten nichts.

Unterdessen hatte Groll die Tür am Fuße der kurzen Treppe erreicht und lautlos geöffnet. Er erblickte den Tresorraum des Hotels, in dessen Wände größere und kleinere Safes eingelassen waren. Hier brannte elektrisches Licht. Gebeugt stand Lavoisier vor einem großen Safe. Er hatte ihn mit dem Hauptschlüssel und einem Yale-Schlüssel, der an einem lederüberzogenen Bund hing, geöffnet und war eben im Begriff, einen flachen schwarzen Lederkoffer aus dem Stahlfach zu nehmen. Gute alte Nora Hill, dachte der Hofrat, während er laut sagte: »Oh, pardon!«

Der Franzose fuhr herum.

Den Koffer hielt er in der Linken. In der Rechten hielt er plötzlich eine Pistole, die er auf Groll richtete.

»Pfoten hoch!« sagte er flüsternd. »An die Wand … da hinüber …« Groll hob die Hände und machte ein paar langsame Schritte. »Schneller! Wird’s bald? Oder willst du ein Loch in den Bauch?« Lavoisiers Atem kam keuchend. Der Hofrat trat schnell an die Rückwand des Raums, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen, in sich zusammensinkend.

Die Waffe auf Groll gerichtet, bewegte Lavoisier sich, rückwärts gehend, zu der Tür. »Keine Bewegung, oder du bist ein toter Mann …«

Groll stand erstarrt.

Lavoisier griff mit der Hand, die das Köfferchen hielt, hinter sich nach der Türklinke, hörte ein Geräusch und wirbelte herum. Einer von Grolls Männern, die bei der Tür gewartet hatten, sprang vor und schlug Lavoisier wuchtig die Handkante gegen den Hals, dorthin, wo sich die Hauptschlagader befindet. Lavoisier krachte auf den Steinboden. Der Koffer fiel ihm aus der Hand, desgleichen die Pistole. Grolls Männer stürzten sich über ihn, hoben ihn halb hoch, und noch ehe Lavoisier wieder ganz bei Bewußtsein war, hatten sie seine Hände auf dem Rücken in eine Stahlfessel geschlossen. Sie rissen ihn empor. Einer zog seinen Mantel aus und hängte ihn dem arg Benommenen um die Schulter.

»Danke sehr«, sagte Groll. Er hob das schwarze Aktenköfferchen auf. »Bringt ihn zu den Lifts und fahrt in die Tiefgarage. Von da führt ihn hinauf in den Hof. Wir haben ein Lieferauto reingeschleust. Von einer Sektfirma. Der Page wird schon drinsitzen. Die beiden dürfen nicht miteinander in Kontakt treten. Nehmt einen zwischen euch nach vorn, sperrt den andern im Laderaum ein. Es sind noch Männer beim Wagen.«

»Ich verlange, daß augenblicklich meine Botschaft verständigt wird! Ich bin Franzose! Ich verlange einen Anwalt und einen Vertreter meiner Botschaft.«

Groll sah ihn nicht einmal an.

»Setzt ihn fest. Diebstahl und bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt. Den Pagen stecken wir wegen Beihilfe in Untersuchungshaft.« Lavoisier fuhr auf.

»Das können Sie nicht! Sie haben keinen Haftbefehl!«

»Kriegen wir im Gefängnis. Sie sind beide auf frischer Tat ertappt worden. Und vergessen Sie Ihre Botschaft. Es ist ein rein kriminelles Vergehen, weshalb wir Sie festnehmen, kein politisches. Darum kommen Sie auch in das Polizeigefängnis in der Rossauer Kaserne.« Hoffentlich wird Hanseder beruhigt sein, dachte Groll. Weiter herunterspielen kann ich das nicht. Seine Leute müssen eben zur Rossauer Kaserne fahren und den Kerl da verhören. Sagen wird der nichts, ich kenne den Typ. Der Page schon eher. Der ist jung und hat Angst. Tat es nur für Geld, sicherlich. Dieser Lavoisier sieht mir aus wie einer von den verfluchten Überzeugungstätern. Leider weiß er natürlich mehr als der Page. »Schickt mir Horn und Gellert her«, sagte Groll. »Sie haben den Jungen in den Hof gebracht. Ihr beide fahrt mit ins Gefängnis. Wir sehen uns hier noch ein wenig um. Auf den Koffer werde jetzt ich achtgeben …«

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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