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»… und das ist alles, was ich inzwischen herausbekommen habe«, schloß Manuel. Er hatte Groll, während Schäfer heimgefahren war, und noch lange Zeit weiter von seinen Erlebnissen berichtet. Groll hatte rauchend und schweigend zugehört. Schwer und massig saß er hinter seinem Schreibtisch. Es war 1 Uhr 15.
»Alles läuft also mehr und mehr auf die Annahme der Staatspolizei hinaus, daß Ihr Vater ausschließlich in einen Spionagefall verwickelt und ausschließlich deshalb ermordet worden ist«, sagte Groll nun.
»Von einer alten Frau?« rief Manuel. Er griff sich an die Stirn. »Ich kann das nicht begreifen! Ich kann das nicht glauben!«
»Es bleibt Ihnen kaum etwas anderes übrig«, sagte Groll. »Was Schäfer herausgefunden hat, ist hieb- und stichfest. Karl Friedjung ist 1945 ums Leben gekommen. Also kann ihn Frau Steinfeld nicht 1969 aus irgendwelchen Rachegefühlen vergiftet haben.«
»Aber was sie auf dem Tonband sagte … daß sie so lange gewartet hat … und all das andere …«
»Sie war schwer betrunken, schwer erregt. Nicht zurechnungsfähig.«
»Es gibt da auch noch andere Dinge, Herr Hofrat ! Das Benehmen ihrer Schwester zum Beispiel!«
Groll sagte: »Es kann durchaus sein, daß Frau Steinfeld ein Geheimnis hatte – die Schwester will es Ihnen ja nennen. Trotzdem, das sehe ich jetzt klar: Der Spionagefall und der Prozeß, den Frau Steinfeld geführt hat, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Sie haben nichts miteinander zu tun. Lassen Sie sich nicht irreführen. Der Prozeß – der liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Weiß Gott, was davon noch in die Gegenwart reicht. Ich will gar nicht abstreiten, daß so etwas der Fall sein könnte. Aber hier haben wir nur Erzählungen und Geständnisse aus zweiter Hand – wer sagt uns, daß sie auch stimmen? Die Spionagegeschichte, das ist etwas anderes! Da haben wir Tatsachen, aus erster Hand! Diese Geschichte stimmt – und zwar ist sie so verlaufen, davon bin ich auch überzeugt, wie der Albaner sie Ihnen dargelegt hat.«
»Zagon! Was ist mit ihm? Den habe ich ganz vergessen!« rief Manuel. Er hatte auch vergessen, dem Hofrat Groll von dem Brief Daniel Steinfelds, Paul Steinfelds Bruder, zu erzählen, er war zu aufgeregt.
»Ich habe Zagon heute nachmittag besucht – in der Psychiatrie«, sagte Groll.
»Und?«
Der Hofrat zuckte die Schultern.
»Die Ärzte haben sich davon überzeugt, daß er simuliert. Morgen früh wird er entlassen. Ein Wagen der Botschaft – sie hat offiziell Polizeischutz angefordert und wird ihn auch erhalten – holt Zagon direkt von der Klinik ab und bringt ihn zum Flughafen.«
Manuel sagte: »Und das alles soll Zufall sein? Wie das ineinandergreift! Wie sich das dauernd ergänzt und kreuzt – die Geschichten über den Prozeß, die Geschichte dieses Spionagefalls! Was mir passiert, was Fräulein Waldegg passiert – Zufälle, Zufälle? So viele Zufälle gibt es nicht, Herr Hofrat!«
»Augenblick! Den Zufall, den verwechseln wir zu oft und zu gern mit dem völlig Regellosen. Aber der Zufall hat seine Gesetzmäßigkeiten, lieber Herr Aranda.«
»Wo sind Gesetzmäßigkeiten hinter dem, was ich erlebe, was meinem Vater den Tod brachte, was Frau Steinfeld den Tod brachte?«
»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Groll freundlich. »Und zwar, denke ich, am Beispiel der Sterbetabellen der Lebensversicherungsgesellschaften.« Er beleckte den Zeigefinger und glättete ein Blatt der Virginier, das sich gelöst hatte. »In diesen Tabellen steht zum Exempel zu lesen, daß von den – sagen wir – im Jahre 1895 in Österreich Geborenen im Jahre 1969 – na, irgendeine Zahl! – 9532 sterben werden. Zufällig sterben werden. Und mit ein paar Menschen mehr oder weniger sterben dann tatsächlich so viele. Bloß, wer vom Jahrgang 1895 stirbt, ob der Huber oder der Platschek – das sagt die Tabelle nicht. Der Zufall wird von statistischer Gesetzmäßigkeit registriert.«
»Was hat das alles mit …«, begann Manuel.
»Warten Sie, noch einen Moment. Der Platschek, sagen wir einmal, stirbt nicht. Der Huber, sagen wir, stirbt – als einer von den 9532 Menschen seines Jahrgangs. Aber: Was der Familie Huber nun als schrecklicher Zufall erscheinen muß, nämlich, daß der Großvater von einem Auto überfahren wurde, das erweist sich, sobald es eingetreten ist und man die Ereignisse Schritt um Schritt rückwärts aufdröselt, als eine Kette von Ursachen und Wirkungen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Schauen Sie: Großvater Huber ist – immer alles angenommen – um 17 Uhr 35 aus dem Haus gegangen. Das tut er täglich, um seinen Freund Platschek zu treffen – in einem kleinen Wirtshaus, wo sie ihre ein, zwei Viertel trinken. Platschek ist Großvater Hubers Freund: Im Ersten Weltkrieg war er bei derselben Batterie. Zur gleichen Batterie kamen die beiden, weil sie vom gleichen Jahrgang sind und im gleichen Bezirk wohnten. Das wieder hat seine Ursache darin, daß auch ihre Eltern schon in der – na, zum Beispiel – in der Josefstadt gewohnt haben. Und nun kann man, wenn man Zeit und Lust hat, zurückverfolgen, warum die Eltern in der Josefstadt lebten – und so fort und fort, falls die Urkunden nicht schweigen, Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert.« Groll klopfte auf die Glasplatte. »Nicht anders ist es mit dem Autofahrer – nennen wir ihn Zauner –, der den tödlichen Unfall verursacht hat, indem er Großvater Huber überfuhr. Zauner raste um 16 Uhr 30 los, weil er mit seinem Mädchen verabredet war – und diese Bekanntschaft hat wieder ihre Geschichte, in der eine Ursache die Wirkung der nächsten war. Fangen Sie an, zu verstehen?«
»Ich glaube ja«, sagte Manuel.
»Schön. Und zu dem Unfall kam es, weil der verliebte junge Zauner sich verspätet hatte und zu schnell fuhr. Und er hatte sich verspätet, weil er zu lange im Büro saß. Und da saß er zu lange, weil sein Vorgesetzter noch etwas von ihm wollte, weil eine Reklamation eingegangen war, weil eine Lieferung sich verzögerte, weil, weil, weil. Deshalb mußte also Huber sterben, scheinbar durch einen unglücklichen Zufall, und sein Freund Platschek durfte weiterleben, scheinbar zufällig.«
Manuel sagte: »Ursache und Wirkung! Wenn dieses System … wenn diese …«
»Kausalketten.«
»Wenn diese Kausalketten sich immer anwenden lassen, dann hat also doch alles im Leben seine ›Bestimmung‹, wie manche Leute behaupten. Daß ich hier sitze und nicht in Buenos Aires; daß mein Vater tot ist; daß Valerie Steinfeld tot ist; daß ich Nora Hill kennengelernt habe; daß ich jetzt, anstelle meines Vaters, in einen Spionagefall verwickelt bin; daß Karl Friedjung im Luftschutzkeller gestorben ist; daß ich Sie kennengelernt habe; daß ich versuche, die Wahrheit zu finden …«
»All das, und hunderttausend Dinge mehr, das sieht ganz nach ›Bestimmung‹ aus, ja«, sagte Groll.
»Und stimmt es nicht?«
»Nein, so stimmt es nicht. Heute wissen wir das – und zwar aus den Erkenntnissen der Atomphysik. Ein Gramm Radium zerfällt unter Alpha-, Beta- und Gammastrahlung derart, daß nach – ich glaube – 1580 Jahren nur noch ein halbes Gramm da ist. Dabei zerfällt eine ganz bestimmte Menge von Radium-Atomen. Aber welches Atom jeweils zerfällt, das wissen wir nicht. Hier geht es nicht anders zu als bei den Sterbetabellen: Zwar ist der Atomzerfall ebenso wie das Sterben kausal bedingt, aber nicht determiniert, sondern faßbar nur nach den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Sie müssen also sehr genau unterscheiden zwischen Kausalität und Determinismus!«
Manuel sah Groll in einem Gemisch von Bewunderung und Erschrecken an, während er sagte: »Und wenn nun Ihr Großvater Huber an jenem Tag aus irgendeinem Grund nicht zum Dämmerschoppen gegangen wäre? Wenn mein Vater aus irgendeinem Grund am Abend des neunten Januar nicht in die Buchhandlung zurückgekehrt wäre, um sich das Buch abzuholen, das er bestellt hatte? Wenn er es gar nicht bestellt hätte? Wenn er …«
Groll unterbrach: »Sie reden vom freien Willen.«
»Ja! Vom freien Willen! Den haben wir doch – oder?«
»Wir haben ihn«, sagte Groll, »aber mit dem freien Willen ist es nicht anders als mit dem Zufall.«
»Was heißt das?«
»Der menschliche Wille ist in der Tat frei.« Wieder fiel Asche auf Grolls Weste. Er bemerkte es nicht. »Das hat alles zum erstenmal der große Physiker Max Planck erkannt und durchdacht. Sie kennen ihn natürlich, er hat mit seinen Forschungen über die Quantenphysik einen entscheidenden Beitrag zum Ende des deterministischen Weltbildes geliefert. Ja, sagte Planck, der menschliche Wille ist frei! In dem gleichen Augenblick aber, in dem eine Willensentscheidung so und nicht anders ausgefallen ist, kann ich wiederum eine Kausalkette nach rückwärts aufdröseln – und es stellt sich heraus, warum ich mich so und nicht anders entschieden habe!«
Nach einer Pause fragte Manuel: »Wird sich je herausstellen, warum mein Vater, warum Valerie Steinfeld, warum sie alle, wir alle, uns so und nicht anders entschieden haben – und entscheiden?«
»Es wird sich herausstellen«, antwortete Groll, die Zigarre ausdrückend. »Es muß sich herausstellen, wenn man genügend forscht. Womit ich nicht sagen will, daß es immer gut ist, zu sehr zu forschen. Nicht nur nicht gut – falsch und gefährlich kann es sein.«
»Wie in meinem Fall«, sagte Manuel mit erhobener Stimme. Groll zuckte die Schultern.
»Wie in Ihrem Fall, ja. Warum sehen Sie mich so böse an? Sie haben sich ja schon entschieden, zu forschen, bis Sie die Wahrheit kennen! Die Weichen sind gestellt. Ihr freier Wille läßt Sie weitersuchen, Sie können nicht anders, Sie wollen nicht anders …«
»Nein, ich kann und will nicht anders!« rief Manuel.
»Ja«, sagte der Hofrat. »Ich sehe es, ich höre es. Aber Sie haben auch mich begriffen, nicht wahr?«
»Ich glaube.«
»Zufall und Notwendigkeit«, erklärte Groll, »freier Wille und Zwang – sie sind untrennbar verbunden zu einer Einheit in der Polarität …« Der untersetzte, bescheidene und einsame Chef der Mordkommission senkte den Kopf und blickte auf die Glasplatte seines Schreibtisches und das Blatt darunter mit einem Ausdruck, als fürchte er die Zukunft und alles, was sie noch bringen würde.