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»… mein Gott, ist dieser arme Teufel, der Paul Steinfeld, glücklich gewesen, zu hören, daß es seiner Frau und dem Jungen gut geht und daß sie den Prozeß begonnen haben. Nach Dienstschluß, spät, ging er mit mir noch aus und betrank sich«, sagte Jack Cardiff.

»Ihr habt euch beide betrunken«, sagte Nora lächelnd.

»Wir beide – natürlich. Ich habe den Mann gern, wirklich gern. Ein feiner Kerl. Laß uns nur hoffen, daß weiter alles glatt geht. Inzwischen ist Steinfelds Euphorie natürlich längst wieder abgeklungen. Als ich London verließ, brachte er mich zum Flughafen. Er sieht schrecklich schlecht aus. Aber sag das nicht seiner Frau!« bat Jack Cardiff.

»Natürlich nicht«, antwortete Nora.

»Überhaupt nichts von seinen Ängsten und Sorgen.«

»Kein Wort.«

»Sie würde sonst wieder unruhig werden.«

»Ja. Und sie muß jetzt ruhig sein. Ganz ruhig.«

Dieses Gespräch fand in der Nacht zum 13. Dezember 1942 statt, am Strand von Estoril, dem berühmten Kurort, der 24 Kilometer von Lissabon entfernt liegt. Vollmond beleuchtete die Landschaft, ließ die Wellen mit ihren Schaumkronen blitzen und erhellte den feinen, weißen Sand, den mit Palmen umgebenen Prachtbau des Spielcasinos oben auf dem Hügel, die Fassaden der Luxushotels, die maurischen Villen in ihren riesigen Gärten, den Golfplatz, die alten Palmen und die dunklen Pinienwälder. Aus den Fenstern aller Häuser flutete der Schein strahlender Lichter. Im übrigen Europa waren sie schon lange ausgegangen.

In einiger Entfernung lag das alte Fischerdorf Cascais. Mondlicht fiel auf die Männer, die ausfuhren zum Nachtfang, lautlos, winzige Silhouetten in winzigen Booten.

Der braungebrannte, helläugige Jack Cardiff war bereits vor drei Tagen aus London zurückgekehrt. Seit dem 17. November hatte Nora auf ihn gewartet und voll Sehnsucht und Ungeduld all jene Missionen ausgeführt, die ihr in Wien von ihrem Chef Carl Flemming und in Lissabon von der deutschen Botschaft aufgetragen worden waren. Drei Tage hatte sie dann das Wiedersehen mit Jack gefeiert. Was für Tage! Sie waren nicht aus Cardiffs Wohnung an der Avenida da Liberdade gekommen und selten aus seinem breiten Bett. Heute abend endlich hatten sie beschlossen zum erstenmal auszugehen. Sie waren mit Cardiffs Wagen nach Estoril gefahren, sie hatten im Casino Roulette gespielt und beide gewonnen, sie hatten in dem angeschlossenen Restaurant gegessen, Wein getrunken und waren schließlich zu dem weißen Sandstrand hinuntergewandert. Der Bademeister war längst nicht mehr da, die Kabinen waren versperrt gewesen. Sie hatten im Freien ihre Badeanzüge angezogen und waren weit hinausgeschwommen. Wieder auf dem verlassenen Strand, hatten sie einander geliebt …

Jack Cardiff trug ein Tuch um die Lenden, Nora eine Badejacke um die Schultern. Und nun, endlich, hatte er ihr von seiner Begegnung mit Paul Steinfeld erzählt.

Nora richtete sich plötzlich auf, zog die Beine an den Leib und ließ den feinen Sand durch die Zehen rieseln.

»Was hast du, Darling?«

»Steinfeld«, sagte sie. »Jetzt erst reden wir über ihn. Ist es nicht schrecklich, wie rücksichtslos man wird, wenn man glücklich ist?«

»Grauenhaft«, bestätigte er und öffnete ein Lederköfferchen, in dem sich, zwischen Zwingen, eine Flasche Whisky, ein Siphon und ein Thermos mit Eiswürfeln befanden. Zwei Gläser, für die es ebenfalls Zwingen gab, standen neben ihnen im Sand. Jack machte Drinks.

»Mud in your eye.«

»Mud in your eye«, sagte Nora.

Sie tranken.

»Ach, Jack!« Sie legte einen Arm um seine Schulter und streichelte mit ihrem Fuß sein Bein. »Wenn wir nur niemals dafür werden zahlen müssen.«

»Wofür?«

»Daß wir so glücklich miteinander sind.«

Er trank, dann zündete er zwei Zigaretten an, eine für Nora, eine für sich. »Teutonisches Weltschmerz-Gefühl! Ist es der natürliche Zustand des Menschen, unglücklich zu sein?«

»Nicht reden«, flüsterte sie. »Nicht darüber reden. Ich bin auch schon ruhig. Es ist nur so wunderbar … es wird immer wunderbarer … jedesmal mehr …«

Sie sahen beide zu einem weit ins Wasser hinausragenden Steg aus schweren Holzbohlen, der vor ihnen lag und von dessen Ende man schon in beträchtliche Tiefe springen konnte. Auch der Steg glänzte im Mondlicht. Aus der Ferne erklang Musik – eine sentimentale Melodie. Nora legte ihren Arm fester um Cardiffs Schulter. Sie saßen lange so da, schweigend.

»Woran denkst du?« fragte Nora zuletzt.

»Ach, an gar nichts.«

»Doch, sag es!«

»An Whisky«, sagte Cardiff. »Was für eine herrliche Erfindung er ist.«

»Unsinn. Nun sag es schon!«

»Weißt du, es ist zu komisch, ich …«

»Du hast gebetet, ja?«

»Ja«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Nora. »Worum hast du gebetet, Jack?«

»Nein, sag du es zuerst.« Er nahm ihr Glas, warf seinen Zigarettenstummel hinüber zu dem Bohlensteg, machte zwei neue Drinks und klirrte heftig mit den Eiswürfeln dabei.

»Ich habe den lieben Gott gebeten, daß er uns diesen Krieg überleben läßt«, sagte Nora. »Und daß wir uns immer weiter so lieben wie heute – auch nachher, im Frieden, in unserem alten Gasthof in Sussex …«

Er nickte.

»Der alte Gasthof. Ich war einmal mit Steinfeld dort und habe ihm alles gezeigt. Das Fachwerk, die Wirtsstube, alle Zimmer, die Pappeln rund um den Gasthof. Er war begeistert. So etwas Schönes hat er noch nie gesehen, sagte er.«

»Ich habe auch für Steinfeld gebetet und für seine Frau und für den Jungen und für die Agnes, und daß wir alle Glück haben mögen, Glück genug, um davonzukommen. Und du? Worum hast du gebetet, Jack?«

»Um genau dasselbe«, sagte er. »Um all das, worum du gebetet hast, Darling, und noch darum, daß wir immer genug Geld haben, um genug Whisky zu kaufen.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Ja.«

»Wir haben um dieselben Dinge gebetet«, sagte Nora. »Ganz genau dieselben. Ist das nicht seltsam, Jack?«

»Ich finde, es wäre seltsam, wenn jeder von uns um etwas anderes gebetet hätte. Hier, Darling, dein Glas. Auf daß Gott unsere Gebete auch erhören möge. Wir wollen noch ein paarmal so beten, ja?«

»Ja.«

»Solange der Vorrat reicht«, sagte Jack Cardiff.

Sie tranken.

»Wir sind schon eine komische Rasse, wir Menschen, wie?« sagte Cardiff.

»Steinfeld ist nicht gesund, weißt du. Seine Frau hat solche Angst, daß er sich aufregt. Aufregungen sind Gift für ihn. Ich habe auch noch gebetet, daß er keine Aufregungen mehr hat. Ob der liebe Gott es gehört hat? So viele Menschen beten jetzt zu ihm.«

»Die Gebete jener, die sich lieben, hört der alte Mann mit dem weißen Bart immer.«

»Dann sorgt er auch dafür, daß sie immer genug Whisky haben«, sagte Nora.

Cardiff hob einen Finger.

»Nur wenn sie sich so sehr lieben wie wir«, sagte er. »Er muß das Zeug einteilen, Darling, weißt du. Und es gibt solche und solche Lieben.«

»Und wir haben eine solche?«

»Ja«, sagte Jack Cardiff, »wir zwei, wir haben eine solche.«

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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