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Stille.
Absolute Stille.
Überhaupt keine Reaktion.
Mechanisch die wenigen Bewegungen, starr der Blick.
Genauso habe ich mir das vorgestellt, dachte der Hofrat, Manuel aufmerksam betrachtend. Jetzt sieht er langsam Licht. Jetzt wird ihm alles klar. Und es ist wahrscheinlich sogar eine gewisse Erleichterung für ihn, wenigstens klarzusehen! Vorläufig noch eine Erleichterung! Warten wir ab. Warten wir ab …
Natürlich kannte ich schon den Anfang des Textes, wußte ich bereits, worum es ging, als der Junge kam. Die Männer von Trans sagten ihn mir. Ich habe derartiges erwartet. Von Anfang an. Seit ich wußte, daß Russen, Amerikaner und Franzosen mit dem Vater dieses Jungen verhandelten. Seit ich wußte, daß der Vater eine der größten Fabriken für Schädlingsbekämpfungsmittel in Argentinien besaß. Auch für Hanseder und die Staatspolizei ist dies nun keine große Überraschung mehr. Sie alle tippten wie ich. Darum habe ich ja gleich am Anfang dieser verfluchten Geschichte versucht, den Jungen von seiner Jagd abzubringen.
»Selbstverständlich dachte ich schon daran, daß es sich um so etwas handeln könnte«, sagte Manuel mit flacher, ausdrucksloser Stimme, den Kopf ruckartig bewegend, die Augen starr. »Er war schießlich Chemiker und Biologe, mein Vater. Schädlingsvernichtung … Ich dachte … Aber ich konnte es mir einfach nicht vorstellen! Ich glaubte, alles über ihn und seine Arbeit, über unser Werk zu wissen … Ich …« Er neigte sich vor.
»Weiter!«
»Das dauert ewig, bei unserer Methode! Trans schickt in spätestens zwei Stunden einen Kurier mit dem ganzen Text!«
»Und was machen wir in den zwei Stunden, Herr Hofrat? Hier sitzen und warten?«
Jetzt hat es ohnehin keinen Sinn mehr, dachte Groll, daß ich den Jungen vor irgend etwas bewahren will. Wir werden also losfahren. Sicherlich besser gleich als später. Groll kannte auch schon die nächsten Worte des Manuskripts. Trotzdem dechiffrierte er sie zusammen mit Manuel.
AUFGABESCHEIN IN KUVERT AN MICH SELBST ADRESSIERT UND POSTE RESTANTE POSTAMT 119 GESCHICKT
»Was für einen Aufgabeschein?« fragte Manuel langsam. Er sah Groll direkt ins Gesicht, aber dieser hatte das Gefühl, daß der Junge ihn trotzdem nicht wirklich zur Kenntnis nahm.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Hofrat. »Nach allem, was wir herausgebracht haben, verkaufte Ihr Vater dieses … dieses Produkt an Russen und Amerikaner. Das verschlüsselte Manuskript hat er für seinen dritten Partner angefertigt, für die Franzosen.«
»Aber warum?« Immer noch die modulationslose Stimme, immer noch der starre Blick.
»Vielleicht ist er mit ihnen nicht so einfach handelseinig geworden. Vielleicht mißtraute er ihnen. Ich denke folgendes: Die Franzosen wollten erst Ware, dann zahlen. Das war ein zu großes Risiko für Ihren Vater, der, wie diese Yvonne Ihnen erzählt hat, in beständiger Todesangst lebte. Kein Wunder bei dem, was er tat! Russen und Amerikaner hätten unter allen Umständen vesucht, einen Verkauf an die Franzosen zu verhindern, wenn ihnen diese Absicht Ihres Vaters bekannt gewesen wäre. Und sie war ihnen bekannt, es sieht ganz so aus.«
»Und der Verkauf wurde verhindert. Mein Vater wurde ermordet.«
»Ja. Wenn ich auch nicht weiß, ob …« Groll brach ab. Sinnlos jetzt, dachte er. »Auf jeden Fall wollte Ihr Vater am Freitagmorgen heimfliegen, das wissen wir. Am Donnerstag wurde er vergiftet. Ich stelle mir vor: Wäre er nicht vergiftet worden, dann hätte er das chiffrierte Manuskript vor seinem Abflug den Franzosen übergeben, um dann in dem für ihn viele Male sicheren Buenos Aires zu warten, bis die Franzosen tatsächlich bezahlten. Im Besitz des Geldes, hätte er ihnen den Schlüssel zum Code verraten und bei einem Notar eine Vollmacht hinterlassen, den postlagernden Brief zu beheben, den er an sich selber schickte und der nun im Postamt 119 liegt. Er wollte unbedingt fort aus Wien, Ihr Vater. Der Boden war ihm hier zu heiß geworden. Wo ist sein Paß?«
»Im Hotel.«
»Wir fahren da vorbei und holen ihn. Und mein Freund Hanseder soll inzwischen versuchen, den Leiter des Postamts zu erreichen. Damit wir den Brief bekommen. Heute ist Sonntag, das Amt geschlossen. Es liegt weit draußen in der Pötzleinsdorferstraße.«