42

Manuel hielt vor dem Haus in der Gentzgasse, schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht und die Scheibenwischer aus. Irene und er sahen durch die Windschutzscheibe in das schwere Flockentreiben. Der Motor pochte leise, es war warm im Wagen.

»Das ist also der Abschied«, sagte er.

»Vielleicht könnte ich morgen noch zum Flughafen kommen? Mein Auto ist wieder repariert. Ich …«

»Nein.« Manuel schüttelte den Kopf. »Der Hofrat Groll hat davon abgeraten. Auch in Schwechat werden natürlich Agenten sein. Vielleicht fliegen sogar einige mit. Sie sollten da nicht mit mir auftauchen, sagte Groll. Tagsüber müssen Sie in der Apotheke arbeiten. Zu Mittag kommt Cayetano. Ich fürchte, wir sehen uns jetzt zum letztenmal.« Wie pathetisch das klingt, dachte er.

»Sie werden nicht mehr nach Wien zurückkommen?« fragte Irene nach einer Weile. Die Scheiben des Wagens waren schon fast ganz zugeschneit. »Aber ja … das heißt, vielleicht … später … Ich weiß ja nicht, was mich daheim erwartet.«

Sie wandte sich ihm mit einem jähen Ruck zu.

»Also dann, Manuel …«

»Ich habe noch eine Bitte«, sagte er scheu. »Kein Kuß, nein. Das wäre … wäre absurd, nicht wahr? Was ich gern haben möchte, das ist eine Fotografie von Ihnen.«

»Wozu?«

»Damit ich immer weiß, wie Sie aussehen.«

»Und was hätten Sie davon?«

Es war nun so dunkel im Wagen, daß er nur ihre Silhouette erkennen konnte.

»Ich … ich weiß nicht … Ich hätte eben gerne ein Bild.«

»Valerie hat eine große Schatulle, in der liegen alle unsere Fotos. Natürlich können Sie eines von mir haben.«

»Darf ich mit hinaufkommen?«

»Ja«, sagte sie.

»Danke.« Er schaltete den Motor ab. Durch hohen Schnee wateten sie zum Hauseingang. Der alte Aufzug zitterte und ächzte, als sie mit ihm emporfuhren. Irene sperrte die Wohnungstür auf. Sie ging voraus in das zentral gelegene große Zimmer und drehte alle Lichter an. Die Vorhänge waren noch nicht geschlossen, und Manuel sah die Schneeflocken in ihrer unendlichen Zahl, wie sie, beleuchtet vom Lampenlicht, im Hof zu Boden sanken.

»Hier«, sagte Irene. Sie stand vor einer Bücherwand und versuchte, ein großes Kästchen aus Mahagoniholz zwischen zwei schweren Bänden herauszuziehen.

»Ich helfe Ihnen!« Er eilte zu ihr, kam aber zu spät. Mit einem Ruck war das Kästchen plötzlich in Bewegung geraten, Irenes Händen entglitten und zu Boden gefallen. Der Deckel flog auf. Ein Strom von Fotografien, großen und kleinen, ergoß sich über den Teppich.

»Das habe ich ja fein gemacht!« Irene kniete nieder, sie las die Bilder auf. Er kauerte sich neben sie, um zu helfen. Fotos, Fotos sammelte er ein. Er suchte eines von Irene. Aber er fand keines unter denen, die er in die Hand nahm. Männer, Frauen, eine Frau …

»Das ist ein Bild Ihrer Tante, nicht wahr?«

Sie blickte auf und nickte.

Er hatte noch nie eine Fotografie Valerie Steinfelds gesehen, aber so, wie dieses Porträt sie zeigte, hatte er sie sich vorgestellt: ein ovales Gesicht, helle Augen, sehr helles Haar, vielleicht bleich geworden, vielleicht bleich getönt, die Haut noch glatt, der Mund groß und vollippig, die Nase klein, die Ohren anliegend und gut sichtbar unter der kurzen, sorgfältig geschnittenen Frisur. Valerie Steinfelds Gesicht war ernst auf diesem Bild, verschlossen und beherrscht. Sie hatte direkt in das Objektiv der Kamera gesehen.

»Ja, das ist Valerie. Vor ein oder zwei Jahren …«

Er blickte das Foto noch immer an.

Valerie Steinfeld. Ein Mensch mit einem Geheimnis. So sah sie auf dem Bild auch aus. Sie hatte es mit ins Grab genommen, ihr Geheimnis … Manuel hob weitere Fotos auf. Da war Valerie wieder – Jahrzehnte jünger, blond, lachend, glücklich, an der Seite eines großen, dunklen, lachenden Mannes. Und da, und da, immer wieder sie und dieser Mann – Paul Steinfeld sicherlich. Und da waren Fotos eines Jungen, sicherlich des Sohnes. Hier war ein Bild von Martin Landau – gewiß zwanzig Jahre alt …

»Was ist das?«

»Was?«

Irene hielt ein Blatt Papier in den Händen, das sie auseinandergefaltet hatte. Gelblich, alt und brüchig war dieses Papier, breit bedeckt mit Schriftzügen.

»Pasteur 1870 …«, las Irene verständnislos. »Das habe ich noch nie gesehen. Wie kommt das hier herein? Es muß ganz unten gelegen haben … Ich hatte das Kästchen eine Ewigkeit nicht in den Händen …«

»Zeigen Sie doch!« Manuel hatte einen Blick auf das alte Papier geworfen, und plötzlich klopfte sein Herz rasend. Er riß Irene das Blatt fast aus der Hand.

Dies stand darauf in dicker Bleistiftschrift:

 

Pasteur 1870: Seidenraupenseuche

Erreger: Mikroben

Was ist mit Insekten?

Kommen auch filtrierbare Viren als Erreger in Frage?

Wenn ja: Insekten-Kalamitäten (Nonnenfalter, Forl-Eule usw.)!

Die gleiche Prüfung bei schädlichen Nagern (vgl. Hundestaupe, Maul- und Klauenseuche usw.)

Literatur!

 

UND/ODER

 

Bakterielle Toxine

(Tetanus! Ransom 1898: Motorische Nerven!)

Schädlingsbekämpfung?

Spezifische Wirkung?

Literatur!

 

Manuel fühlte plötzlich, seit langer Zeit wieder einmal, wie ihm schwindlig wurde. Der Raum drehte sich um ihn. Er ließ sich auf den Teppich sinken und starrte Irene an. Sie hatte über eine Schulter mitgelesen, laut. Ihr Gesicht war bleich, riesengroß wirkten die Augen.

»Verstehen Sie das?« fragte Irene. »Wo kommt das her? Und da ist von Viren die Rede, von Toxinen … wieso … Was bedeutet das alles …?«

Er sagte: »Das bedeutet, daß wir noch gar nichts wissen, gar nichts. Was mache ich jetzt? Was mache ich jetzt bloß?«

»Wie meinen Sie das?«

»Jetzt kann ich nicht mehr heimfliegen. Jetzt muß ich unter allen Umständen hierbleiben. Hier, hier in Wien.«

»Wieso … warum …?«

»Weil das da – und es gibt nicht den geringsten Zweifel, ich erkenne die Balken-H’s, die verkehrt geschriebenen M’s, die verkehrt geschriebenen N’s! –, weil das mein Vater geschrieben hat«, sagte Manuel Aranda.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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