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Zierleiten heißt einer der schönsten Wege durch die dem Süden zugewandten Weinberge unterhalb des Wienerwaldes. Schmal ist dieser Weg, uralt, an seinen Rändern stehen verwitterte ›Weinhauer‹-Madonnen, aus Stein geschlagen, hundert Jahre alt und älter. Die Zierleiten führt, vom Waldrand im Westen kommend, mitten durch die Weingüter direkt nach Osten. Geht man sie so entlang, hat man stets die Stadt vor Augen, die in der Tiefe liegt.
Am Nachmittag des 25. Juni 1922 wanderten zwei junge Menschen über diesen verzauberten Pfad, der immer wieder halb überdacht wird von Brombeersträuchern und Holunderbüschen. Das starke Licht der Sonne ließ hunderttausend Fenster blendend aufleuchten, ließ die Kuppeln von Kirchen und die Gesimse alter Paläste in flammendem Gold erstrahlen. Warm, sehr warm war es, die Rebenstöcke ringsum zeigten dichte, grüne Blätter. Bienen und Hummeln summten. Die beiden jungen Menschen waren in ein ernstes Gespräch vertieft.
»1918, nach einem vierjährigen Heldenkampf, sind wir vernichtend geschlagen worden, zwei große Reiche – Deutschland und unser Vaterland. Die Tragödie war da«, sagte Karl Friedjung. Er sprach erregt und aufgewühlt, achtzehn Jahre war er alt, ein großer, schlanker Junge mit dichtem, braunem Haar, braunen Augen und einem offenen, sympathischen Gesicht. Er trug ein weißes Hemd, Knickerbockerhosen, Wanderschuhe und eine Windjacke.
Valerie Kremser ging dicht an seiner Seite, denn der Weg war schmal. Sie trug ein Dirndl. Ihre blonden Haare strahlten im Licht. Sie war so alt wie Friedjung, genauso alt beinahe. In wenigen Wochen standen ihnen die Matura-Abschlußprüfungen bevor.
»Eines aber«, sagte Friedjung, »hätte diese Tragödie noch zum Segen werden lassen können!«
»Was, Karl?«
»Ich erkläre es dir, Valerie …« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Sie kannten einander seit einem halben Jahr. Valerie, die bei der Familie ihres Onkels lebte, weil sie nach dem Willen der Eltern ein besonders gutes Lyzeum in Wien besuchen sollte, war schwach in Mathematik und Chemie. Diese Fächer beherrschte Friedjung als Bester seiner Klasse. Er gab Nachhilfeunterricht, denn in diesen schlimmen Zeiten der Inflation war man dankbar, wenn man genug zu essen hatte. Und Karl Friedjung wurde von seinen Schülern und Schülerinnen, zu denen auch Valerie gekommen war, mit Lebensmitteln bezahlt, die er korrekt daheim ablieferte.
»Schau, 1871, nachdem wir 1866 die Schlacht bei Königgrätz gegen die Preußen verloren hatten, schuf Bismarck sein neues Reich – Großpreußen, Kleindeutschland, ja? Wir Österreicher wurden ausgeschlossen aus der Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen. 1918, da hatten wir die einmalige Chance, wieder zueinanderzufinden! Und wir wollten sie ja auch nutzen! Am 12. November 1918, ja, da beschloß unsere Nationalversammlung ein kurzes Staatsgrundgesetz – einstimmig. Valerie! Mit den Stimmen der Sozialdemokraten! Danach sollte es nun ein Deutsch-Österreich geben, und dieses sollte ein Bestandteil der Deutschen Republik werden, ja? Schluß mit der kleindeutschen Lösung von 1866! Eine großdeutsche Lösung ist die einzig mögliche! Wir Deutschen gehören zusammen! Wir müssen wieder frei sein! Arbeit und Brot für alle! Kein Schiebertum, kein Elend, keine Ausbeutung – das war 1918 das Ziel!«
»Aber es ist nicht erreicht worden.« Valerie streifte einen Holunderzweig zur Seite. Alles, was er sagte, war richtig, fand sie. Karl Friedjung machte großen Eindruck auf Valerie – wegen seiner Klugheit, seines Idealismus, seines Wissens. Er betrug sich überkorrekt. Nie hatte er, seit sie ihn kannte, beim Unterricht oder auf ihren Spaziergängen eine Situation ausgenützt. Noch nicht ein einziges Mal geküßt hatte er sie, obwohl sie manchmal schon darauf wartete.
Und dennoch …
Und dennoch waren ihr Friedjungs Fanatismus, sein politisches Engagement, so sehr sie beides bewunderte, unheimlich. Manchmal empfand sie Furcht vor ihm. Diesem Martin Landau, dem sie in der Albertina begegnet war, zum Beispiel, hatte sie nie etwas von Friedjung erzählt. Ein Instinkt warnte sie. Martin Landau – das war ein anderer Mensch, eine andere Welt. Valerie hielt ihre Freundschaft zu Friedjung geheim. Sie war, trotz aller Sympathie, innerlich unsicher. Sie konnte Friedjung bewundern, gern haben, aber mit ihm leben – nein, das würde sie nun nicht mehr können. Denn jetzt war …
Sie riß sich aus ihren Gedanken und hörte wieder seine Stimme. »… es ist nicht erreicht worden!« Friedjungs Hand verkrampfte sich um Valeries Schulter, es tat weh. »Und warum nicht? Weil der feine Herr Wilson uns mit seinem Friedensplan verraten hat! Die Republik Deutsch-Österreich sollte uns nicht nur mit Deutschland vereinen, sie sollte auch alle deutschen Siedlungsgebiete des alten Kaiserreichs in den Alpen- und Sudetenländern umfassen, ja? So war es besprochen, ja? Und dann kam dieser Schandvertrag von Saint Germain! September 1919.« Friedjung trat einen Stein zur Seite. »Artikel 88! Anschlußbestrebungen jeder Art sind verboten! Die Bezeichnung Deutsch-Österreich ist verboten! Sie haben uns belogen, Valerie, betrogen, verraten! Verstehst du das?«
»Ja, Karl, ja.« Was er sagte, leuchtete ihr ein, vollkommen ein, sie empfand wie er. Und trotzdem … trotzdem war da noch immer etwas, das sie erschauern ließ, wenn er so sprach. Sie sagte: »Die Folgen dieses Friedensvertrages sind auch entsprechend!«
»Bei Gott!« Friedjung starrte in die Ferne, aber er sah nicht die glühende Stadt, nicht die Schönheit der Natur. Ohne auf den Weg zu achten, schritt er dahin, mit einem abgeschnittenen Ast gegen die Büsche am Wegrand schlagend. »Tschechische Legionäre haben das wehrlose sudetendeutsche Gebiet besetzt, ja? Unterdrücken unsere Brüder dort! Südtirol wurde bis zum Brenner von den Italienern besetzt, ja? Die Südsteiermark von jugoslawischen Truppen! Das geht nicht so weiter, Valerie! Wir müssen kämpfen um den Anschluß! Dafür sind alle! Die Studenten! Die Burschenschaften! Sogar die Sozialdemokraten! Nur die von der alten Generation – unsere Eltern –, die kommen da nicht mehr mit!«
»Meine Eltern in Linz«, sagte Valerie, »das waren Monarchisten. Die haben resigniert. Die meinen, der Vielvölkerstaat hat zerfallen müssen.«
»Auf diese Generation ist keine Hoffnung mehr zu setzen! Aber auf die Sozialisten!« rief Friedjung. »Schau, die Nationalen haben bisher nicht erkannt, welche unerhörten Kräfte die Sozialisten besitzen. Aber die sind international. Noch. Das Nationale und das Soziale muß wieder zusammenkommen, ja? Das hat schon der alte Lueger begriffen. Die Arbeiter müssen das auch begreifen! Das ist unsere Aufgabe, es ihnen zu erklären, zu beweisen!« Friedjung war stehengeblieben. Er peitschte die Luft mit einem Ast. »Treue! Glaube! Ehre! Opfermut! Anstand! Pflichtgefühl! Heimat! Familie! Verantwortungsbewußtsein! Vaterland! All diese Begriffe hat man nach dem Krieg in den Dreck gezogen! Darüber lachen sie heute nur noch, die feinen Sieger, diese Betrüger, und der Abschaum in unserem eigenen Volk! Wir, wir müssen dafür sorgen, daß diese Worte wieder Sinn bekommen, daß sie wieder Werte darstellen, für die es sich zu kämpfen lohnt, jawohl!« Er bemerkte, daß sie ihn fasziniert anstarrte, in halber Bewunderung, in halber Furcht. »Was ist?«
»Nichts … nichts, Karl …«
Jäh warf er den Zweig fort und trat dicht an sie heran. Plötzlich war seine Stimme leise, unsicher, er suchte nach Worten, ein verlegener Junge:
»Valerie … ich … bitte, entschuldige, daß ich dich so überfalle, aber …«
»Was heißt überfalle?«
»… aber ich habe keinen Menschen, mit dem ich mich so gut verstehe wie mit dir … keinen Menschen … Ich … ich liebe dich, Valerie … glaubst du, daß du mich auch lieben kannst?«
»O Gott«, sagte Valerie.
»Wie?«
»Mein armer Karl.« Valerie strich ihm über die Wange. »Ich habe dich auch gern, wirklich … sehr, sehr gern habe ich dich …«
»Gern. Ach so. Ich verstehe.«
»Nein, du verstehst nichts.« Valerie senkte den Kopf. »Ich habe einen Mann kennengelernt, Karl. Er ist älter als ich. Schon eine ganze Weile kennen wir uns. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber ich wußte ja nicht, daß du …« Sie kam nicht weiter.
»Ein anderer Mann.« Friedjung drückte mit einer Hand unter ihr Kinn, so daß sie den Kopf heben mußte. »Was für ein anderer Mann?«
»Er ist sehr verliebt in mich, weißt du …«
»Und du bist in ihn verliebt«, sagte er traurig.
»Vielleicht. Er ist so gut zu mir, so menschlich. Es tut mir wirklich leid für dich. Dieser Mann und ich, wir wollen uns verloben …«
»Was?«
»Ja. Gleich nach der Matura. Ich muß ihn meinen Eltern vorstellen. Die kennen ihn noch gar nicht.«
»Das heißt, ihr wollt heiraten?«
Valerie nickte.
»Und wie heißt dieser Mann?«
»Paul Steinfeld.«
»Der Journalist?«
»Ja, Karl.«
Friedjung sagte leise: »Dieser Paul Steinfeld ist doch ein Jude!«
»Das ist er. Ich verstehe nicht, was …«
Aber er unterbrach sie, und jetzt schrie er wieder: »Bist du denn wahnsinnig geworden? Die Schweine, die uns das alles eingebrockt haben, die alles zerstört haben, denen wir unser Elend verdanken – das sind doch die Juden! Und du willst eine Judenhure werden?«
Im nächsten Augenblick schlug ihm Valerie mit der offenen Hand ins Gesicht, so fest sie konnte.