61
Und der Schnee fiel vor dem halb geöffneten Fenster, lautlos, weiter, weiter, ohne Ende.
Groll erhob sich und füllte die Teetassen nach.
»Nun? Werden Sie langsam meiner Meinung, daß dies ein Fall ist, den man nicht lösen kann?«
»Nicht lösen?« Manuels Augen glühten, sein Gesicht war weiß. »Und ob ich ihn lösen werde! Jetzt erst recht! Jetzt bringt mich nichts mehr davon ab!«
»Ja, Jimmy«, sagte Groll leise.
»Was? Ach – lassen Sie das doch!« Manuels Worte überstürzten sich. »Es gibt nur eine Erklärung dafür, daß Valerie auch auf diesen Bildern ist! Sie war eingeweiht! Vielleicht eine Mitarbeiterin Meerswalds! Vielleicht wußte sie sogar, was mein Vater tat – schließlich hat sie ihn zuletzt getötet. Es sieht also ganz so aus!«
»Eine Sache kann so aussehen und doch ganz anders sein«, sagte Groll.
»Valerie Steinfeld – eine Frau! – tötet Ihren Vater, weil der ein Nervengift herstellt? Manuel!«
»Haben Sie eine andere Erklärung?«
»Eben nicht.«
»Also!«
»Wenn Valerie Steinfeld etwas gewußt hätte, dann hätte auch Gomez es gewußt – und Ihr Vater wäre von den Behörden in Argentinien zur Rechenschaft gezogen worden und nicht von einer alten Frau hier in Wien. Das ist doch Irrsinn!«
»Diese Fotos sind kein Irrsinn! Man kann Neutralität auch übertreiben, Herr Hofrat! Wenn Ihnen schon die Aktivitäten von Gomez und Meerswald bekannt waren, warum haben Sie dann Valerie Steinfeld nicht im November 1966, als Meerswald ermordet wurde …« Manuel brach ab.
»Valerie Steinfeld verhört?« fragte Groll. »Sie haben Ihre Frage schon selber beantwortet, nicht wahr? Weil wir damals noch keine Ahnung hatten, daß sie mit beiden Männern in Verbindung stand. Das erfahre ich heute nacht – durch diese Fotos. Und jetzt können wir Valerie Steinfeld nicht mehr fragen.«
»Mein gottverfluchter Vater«, sagte Manuel. Die Tasse, die er in der Hand hielt, klirrte gegen die Untertasse. Er starrte den Kriminalisten an.
»Warum?« fragte er. »Warum, Herr Hofrat? Warum? Warum hat Nora Hill von Meerswald so gesprochen, als ob er noch lebt?«
»Wahrscheinlich mußte sie lügen. Auch sie wird unter Druck stehen, ganz bestimmt, schon lange.«
»Warum …« Manuel sah Groll hilflos an. »Warum die Lügen … der Terror … die Erpressung … das Gift? Warum die Toten? Warum müssen Menschen einander töten? Ermorden und vernichten – seit Jahrtausenden? Immer perfekter, immer skrupelloser? Warum?«
Groll strich über ein loses Deckblatt der Virginier.
»Beim Menschen«, sagte er, »gelten nicht die gleichen Tötungshemmungen wie bei allen Tieren, die in sozialen Verbänden zusammenleben.«
»Aber weshalb nicht?«
»Ich will es Ihnen zu erklären versuchen, Manuel …« Groll hielt den dünnen Rahmen der Glasscheibe, unter der sich das Ginkgo-Blatt befand, als wolle er sich auf etwas stützen. »Bei den Tieren ist es doch so, nicht wahr: Kommt es zum Kampf mit einem Artgenossen – etwa um ein Weibchen oder um den Besitz eines Reviers –, dann ist schließlich einer der Überlegene …«
»Ja. Und er könnte den andern umbringen! Die Waffen dazu – Zähne, Krallen, Gehörn – besitzt er!« Manuel richtete sich auf. »Aber er tut es nicht!«
Groll nickte.
»Er tut es nicht. Der Unterlegene flieht entweder und wird eine Weile verfolgt – oder er streckt, falls er nicht fliehen kann, die Waffen, mit einer Demuts-, einer Unterwerfungsgeste. Beim Hund kann man das oft genug sehen. Wie unter seinen Vorfahren, den Wölfen, üblich, wirft sich der Besiegte auf den Rücken und bietet dem Sieger die ungeschützte Bauchseite. Mit dem Erfolg, daß beim Sieger automatisch eine instinktive, also eine angeborene Hemmung einklinkt: Er kann einfach nicht zubeißen.« Groll redete eindringlicher. »Natürlich gibt es gelegentlich Unglücksfälle. Ein Hirsch forkelt einen andern zu Tode. Aber das sind Ausnahmen. Auch bei Hundebeißereien gibt es Todesfälle. Das kommt daher, daß solche Hunde, wie es oft bei Haustieren geschieht, diesen oder jenen Instinkt – in unserem Fall den der Tötungshemmung – verloren haben.«
»Und warum ist es beim Menschen anders?« rief Manuel. »Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater umgebracht? Warum ist Meerswald umgebracht worden? Warum hat mein Vater den Tod der ganzen Weltbevölkerung vorbereitet und ermöglicht – ohne Skrupel, ohne Gewissen?«
»Das hat mancherlei Gründe, unter anderem auch schlicht biologische.«
Groll trank wieder. Er trank viel Tee, wenn er nachts schrieb, arbeitete, sprach. »Es fing damit an, daß der Mensch, im Gegensatz zu seinen Affenverwandten, nicht mit den Zähnen kämpft, sondern mit den Händen. Nur Kleinkinder beißen in Angriff und Abwehr. Solange der Mensch noch mit den Händen zupackte oder zuschlug, war kaum mit Todesfällen zu rechnen. Schlimmstenfalls ging es zu wie in einem Krimi, in dem Gangster und Polizisten sich prügeln. Dann aber kamen die Vormenschen auf die Idee, mit Knüppeln und Steinen auf tierische Feinde oder Beute loszugehen – und anschließend aufeinander.« Asche fiel über Grolls Schlafrock, er bemerkte es nicht. »Knüppel und Stein waren der Anfang der Fernwaffen – vom Pfeil und vom Speer über das Gewehr bis zur Fliegerbombe und zur Interkontinentalrakete, zur Bakterienbombe und zum abgesprühten Bazillengift. Die Gegner rückten immer weiter auseinander! Die Beschwichtigungs- oder Unterwerfungsgeste – die geöffnete, unbewaffnet erhobene Hand, die man dem Feind zukehrte – ist längst überhaupt nicht mehr zu sehen!«
»Das genügt mir nicht. Ich …«
»Warten Sie! Die Hauptsache aber ist, daß wir Menschen – wie jene Hunde, die ihre Gegner umbringen – im Lauf unserer Entwicklung eine ganze Reihe von Instinkten verloren haben, weil wir uns sozusagen zu Haustieren unserer selbst machten – und zu dem, was da verschwunden ist, gehört wohl auch die instinktive Tötungshemmung! Indem unser Großhirn die stammesgeschichtlich älteren Hirnteile buchstäblich überwuchert hat, indem es uns die tödlichsten Waffen hat erfinden lassen, sind gleichzeitig jene angeborenen Mechanismen geschrumpft, die ihren Sitz im Zwischenhirn hatten. Und zu ihnen gehörte das alte Gesetz: Du sollst nicht deinesgleichen töten. Kain, lieber Manuel, steckt in jedem von uns. Genügt Ihnen das?«
Manuel nickte.
»Ja, das genügt mir.« Er sprach langsam und sehr deutlich. »Jetzt begreife ich mich selber. Jetzt weiß ich, warum ich nicht aufhören werde, diesen Fall zu verfolgen, auch wenn er unlösbar ist, wie Sie glauben. Nun bin ich der Jäger, der Menschenjäger bin ich nun! Je mehr mich abstößt, was mein Vater getan hat, desto stärker zieht es mich an.«
Das seltsam gespaltene Blatt betrachtend, dachte Groll an zwei Sätze Goethes in dessen ›Campagne in Frankreich‹: ›Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, daß Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie gehören und keine von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden könne. Daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen hervor, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt …‹