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Der Lichtkreis einer starken Taschenlampe wanderte langsam über die uralte dunkle Mauer und die unzähligen Jahreszahlen, Initialen und Symbole, die in den harten Stein geritzt waren.
»Hör doch auf«, sagte Irene Waldegg. »Du findest es nie!«
»Ich finde es«, sagte Manuel Aranda, der die Taschenlampe hielt. »Warte nur noch eine kleine Weile.«
Irene und Manuel standen in dem Arkadengang der Minoritenkirche. Kein Mensch außer ihnen war zu erblicken um diese Zeit – halb elf Uhr abends. Es schneite noch immer, doch die Flocken fanden nur selten ihren Weg in die enge Passage. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt weiter über die Wand …
Irene hatte mit Manuel im ›Ritz‹ zu Abend gegessen, danach waren sie noch in die Bar gegangen. Bei ihrem Eintritt hatten die alten Herren des kleinen Orchesters sich verneigt, und der Pianist hatte, langsam und sentimental, ›ihr‹ Lied zu spielen begonnen.
Während des Essens hatte Manuel Irene alles erzählt, was er gehört hatte. Es war sehr viel gewesen an diesem Tag. Manuel fühlte sich müde und mutlos, Forsters plötzlicher Tod machte ihn traurig.
Nun, in der Bar, sagte er: »Mehr und mehr erfahren wir. Und weniger und weniger wissen wir wirklich, was geschehen ist. Ich glaube dabei nicht einmal, daß mich die Menschen, mit denen ich sprach, belogen haben. Sie wissen eben alle auch nur soundsoviel. Das Geheimnis ist geblieben. Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater getötet und danach sich selber?«
›… daß unser beider Denken niemand erraten kann‹, spielte, mit Verneigungen, der alte Herr am Flügel, draußen in der Halle.
Manuel nickte ihm zu.
»Und dann dieser Heinz!«
»Was ist mit ihm?« fragte Irene.
»Ich begreife nicht. Waffen-SS! Im Herbst 1944! Als wirklich schon alles verloren war. Der Junge muß schwachsinnig gewesen sein. Es ist nicht zu fassen!«
»Ich kann mich in Heinz hineindenken«, sagte Irene.
Ja, dachte Manuel, du kannst es, du, seine Schwester …
Dann waren sie über den tiefverschneiten Ring gefahren. Manuel wollte Irene heimbringen. Nahe dem Burgtheater hatte er plötzlich gesagt: »Diese Kirche, bei der Bianca und Heinz sich trafen, die muß doch irgendwo hier sein.«
»Ja. Rechts.« Er war nach rechts eingebogen.
»Zeig mir den Weg«, hatte er gesagt. »Ich will sehen, ob ich das Herz finde, das Heinz damals in die Mauer geritzt hat.«
»Was für ein Unsinn!«
»Bitte, sage mir, wie ich fahren muß. Ich habe eine Taschenlampe im Handschuhfach.«
»Na schön …« Sie hatte lächelnd nachgegeben.
Nun standen sie schon eine Viertelstunde in dem engen Durchlaß, und Manuel suchte, suchte eifrig.
»Komm endlich«, sagte Irene. »Ich beginne zu frieren …«
»Da!« rief Manuel. »Da ist es!«
Im Licht der Taschenlampe war, verwittert und teilweise abgebröckelt, ein eingeritztes Herz zu erkennen. In ihm erblickten Manuel und Irene die Buchstaben B. H. und H. S., darunter die Jahreszahl 1941, danach einen waagrechten Pfeil, der auf eine liegende 8 deutete, das mathematische Zeichen für ›Unendlich‹. 1941 hatten Bianca und Heinz sich kennengelernt. Und sie hatten sich lieben wollen – in die Unendlichkeit.
»Du hast es gefunden!« Irene starrte das Herz an.
»Im Dezember 1943 haben die beiden hier gestanden«, sagte Manuel.
»Genau hier, wo wir jetzt stehen. Deshalb wollte ich herkommen – mit dir.«
»Weshalb?«
Er wurde unsicher.
»Nun, ich dachte … Ich stellte mir vor … Ach, ich bin ein Idiot …«
Irene nahm behutsam die Taschenlampe aus seiner Hand und knipste sie aus. In der Dunkelheit trat sie auf ihn zu, ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Lippen trafen die seinen. Er hielt sie fest. Der Kuß dauerte lange. In einer unwirklichen Stille standen die beiden, eng aneinandergepreßt, reglos. Er löste seine Lippen von den ihren und flüsterte: »Darf ich zu dir kommen?«
Er fühlte plötzlich, wie ihr Körper erstarrte.
»Nein«, sagte Irene, »bitte nicht, Manuel.«
»Verzeihung«, murmelte er.
Sie sagte, seine Wange streichelnd. »Sei nicht traurig. Ich … ich möchte es so gerne wie du …«
»Nun, was ist es dann?«
»Alles«, sagte sie, sein Gesicht in beide Hände nehmend. »Alles. Das Schreckliche, das geschehen ist. Das Unheimliche, das uns immer noch verfolgt. Ich habe keine Ruhe, Manuel, noch finde ich keine Ruhe. Bitte, habe Geduld. Ich habe dich so gern … Es … es soll erst geschehen, wenn all das vorüber ist, wenn wir die Lösung kennen, den Sinn, wenn es kein Geheimnis mehr gibt. Verstehst du das nicht?«
»Doch.« Er küßte ihre Hände. »Ich verstehe es sehr gut. Und ich will warten – so lange es auch noch dauern mag. Komm jetzt, ich bringe dich heim …«
Hand in Hand verließen sie den Arkadengang, Treffpunkt ungezählter Liebender im Laufe der Jahrhunderte, der finster, verlassen und einsam zurückblieb.