11
»Jetzt ist es fest genug«, sagte Manuel Aranda. Gemeinsam mit Irene Waldegg hatte er den schwarzen Zirkel, das provisorische Grabkreuz, in die harte Erde gestoßen. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen. Sie hatten sich rhythmisch wechselnd auf die Seiten der Querleiste gestemmt und so die Zirkelspitzen tiefer und tiefer gedrückt. Nun atmeten beide hastig. Aus der Ferne erklang wieder ein dumpfes Brausen, das lauter wurde. Die Krähen verstummten. Irene richtete sich auf. Dabei kam sie aus dem Gleichgewicht, glitt von dem Hügel herunter, schrie leise und erschrocken und streckte die Arme vor. Schnell packte Manuel zu. Im nächsten Moment schlug Irenes Kopf gegen seine Brust, ihre dunkle Brille fiel in den Schnee. Er hielt sie fest, noch auf dem Hügel stehend.
Clairon blinzelte.
Zum erstenmal war Arandas Kopf frei.
Clairon hob den Lauf der 98 k an, bis er diesen Kopf im Fadenkreuz hatte. Langsam jetzt, dachte er, langsam. Da hast du deine Chance. Gott gibt sie dir. Versau sie nicht. Paß auf …
Das Donnern der gestarteten Maschine der AIR FRANCE wurde immer gewaltiger. Es war 15 Uhr 11. Wieder stäubte Schnee auf von Grabhügeln und Ästen, wieder fielen Klumpen von den Bäumen.
»Ich … ich …«, stammelte Irene Waldegg. Sie sah zu Manuel empor. Jetzt konnte er ihre Augen erkennen. Sie waren braun wie das Haar und gerötet und verschwollen vom vielen Weinen.
»Ruhig«, sagte Manuel, »bitte, beruhigen Sie sich.«
Ihr Körper sackte plötzlich durch, er mußte sie an sich pressen. Ihre Knie gaben nach.
»Mir ist so schlecht … Ich habe mich zusammengenommen … Ich … Ich … ich dachte, es würde schon gehen … aber jetzt … zum erstenmal habe ich jetzt gefühlt, daß sie nie … nie, nie, nie mehr da sein wird … Valerie! Valerie! Warum hast du das nur …«
Manuel konnte nicht länger verstehen, was sie stammelte, während Tränen aus ihren Augen strömten. Das Brausen der nahenden Boeing war zu laut geworden. So standen sie da, seine Arme um ihren Rücken, ihr Kopf an seiner Brust. Wie ein Liebespaar sahen sie aus, wie ein tragisches Liebespaar. Manuel blickte auf die Schluchzende herab. Er dachte: Nein, diese Frau hat keine Schuld.
Da kam sie angerast, die Maschine, auf ihrem weiten Weg nach Paris und New York, da kam sie, schon in den Wolken, mit tobenden, hämmernden, dröhnenden Düsenaggregaten.
Zu Schlitzen verengt hatten sich Clairons Augen. Da stand er, gegen den Mamorquader gepreßt, gefühllos, völlig gefühllos wie stets. Na also, dachte er. Wunderbar, dachte er. Großartig. Es könnte nicht besser sein. Manuel Arandas Kopf war völlig frei, Clairon sah das Profil genau im Zielfernrohr. Schläfenschuß, dachte er und orientierte sich nach Manuels rechtem Ohr, das unter der braunen Pelzmütze hervorlugte. Ja, Schläfenschuß. Jetzt klappt es. Es hat noch immer geklappt.
Mit atemraubendem Heulen brauste die Boeing über den Friedhof. Clairons Finger am Abzug der 98 k begann sich zu krümmen, mehr und mehr. Der Schuß war kaum zu hören. Ohne einen Laut stürzte Clairon in den Schnee. Er lag mit dem Gesicht nach unten, tot.