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Gegen 11 Uhr vormittags am 28. Januar 1969 hörte das Schneetreiben über Wien mit überraschender Plötzlichkeit auf, und der graue Himmel begann sich von Westen her mehr und mehr zu verdüstern. Das Licht verfiel langsam.
In dem kostbar eingerichteten Empfangszimmer der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹ in dem alten Barockpalais an der Wollzeile brannten viele Kerzen eines Lüsters. Ein tadellos wie stets gekleideter Fedor Santarin saß an einem Besuchertischchen Nora Hill gegenüber, die einen dunkelroten Hosenanzug trug. Ihr Nerzmantel lag über der Lehne des tiefen Fauteuils. Georg hatte seine Herrin in die Stadt gefahren.
Fedor Santarin war von erlesener Höflichkeit.
»Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Madame. Wir sind sehr zufrieden mit Ihnen. Es ist anzunehmen, daß wir den Fall Aranda in den nächsten beiden Tagen abschließen können. Der junge Herr war heute bis lange nach Mitternacht bei Fräulein Waldegg. Ich nehme an, Daniel Steinfeld hatte viel zu erzählen. Herr Aranda dürfte nun vollständig orientiert sein. Sie rufen ihn an und bitten ihn, Sie heute abend zu besuchen. Grant und ich werden auch da sein, wie immer. Ich denke, der Moment ist gekommen, Ihren kleinen Wunsch zu äußern.«
Nora runzelte die Stirn.
»Weshalb haben Sie mich hergebeten? Doch nicht, um mir zu sagen, daß ich Manuel Aranda einladen soll. Das hätten Sie auch telefonisch erledigen können.«
»Gewiß.« Santarin offerierte die Konfekttüte aus Goldkarton. »Darf ich mir erlauben?«
»Nein, danke.«
Der Russe wählte ein Stück Marzipan und aß mit Genuß.
»Nun!« Nora hatte ein unangenehmes Gefühl.
»Ich erkläre es Ihnen gleich. Vorher sagen Sie mir bitte, wie Sie Ihren kleinen Wunsch vorbringen werden.«
»Das wissen Sie doch! Das haben Sie mir selber eingebleut, es war Ihr Plan!«
Santarin kreuzte die Beine und legte die Spitzen der Finger aneinander. Er lächelte höflich.
»Erzählen Sie es mir trotzdem noch einmal, Madame. Ich möchte sichergehen, daß nicht im letzten Moment etwas schiefläuft.«
»Schön.« Nora legte die Hände auf die Krücken, die zu beiden Seiten des Sessels lehnten. »Ich werde Aranda fragen, ob er nun alles über den Tod seines Vaters erfahren hat.«
»Nehmen wir an, er sagt ja.«
»Dann werde ich sagen, man sei an mich mit einer Bitte herangetreten, die ich an ihn weitergeben soll.«
»Nämlich welche?«
»Santarin, wirklich, müssen wir das alles noch einmal …«
»Ja«, sagte er nur.
Sie sahen sich kurz an.
»Wie Sie wollen«, sagte Nora. »Die Bitte nämlich, er möge, nun, da der Fall geklärt ist, die Dokumente seines Vaters und den Film aus dem Tresor dieses Anwalts holen, sie vernichten und heimkehren.« Nora sprach wie eine gereizte Schülerin, die ihre Aufgabe herunterleiert. »Gegen die Tatsache, daß die beiden Supermächte die Erfindung seines Vaters besitzen, kann er nichts mehr tun. Nach Vernichtung aller Unterlagen besteht wenigstens keine Gefahr mehr, daß eine dritte Macht die Erfindung bekommt. Ich werde an seine Vernunft appellieren. Wem dient er mit Panikmache?«
»Wenn er sich weigert?« fragte Santarin, wie ein liebenswürdiger Lehrer. Du elendes Schwein, dachte Nora.
»Dann werde ich ihn darauf aufmerksam machen, daß er so seine Freundin in Gefahr bringt. Meine Auftraggeber würden sich ihrer annehmen, haben sie gedroht.«
»Gut. Es ist alles so gelaufen, wie ich hoffte. Der junge Herr hat sich in Irene Waldegg verliebt. Wenn er nun aber dennoch den Helden spielen und die Welt aufklären will?«
»Werde ich ihn noch eindringlicher warnen. Er verschuldet damit den Tod seiner Freundin, und er selber wird auch nicht mehr die Pressekonferenz der Schweizer Botschaft erleben.«
»Wenn er droht, sich an österreichische Behörden zu wenden?«
»Erinnere ich ihn an alle Erfahrungen, die er mit österreichischen Behörden gemacht hat. Daran, daß die nie eingreifen werden in einem solchen Fall. Daß auch seine Botschaft ihm nicht helfen wird. Und daß die beiden Großmächte demnächst feierlich ihren Verzicht auf B- und C-Waffen bekanntgeben werden. Wem glaubt man dann? Ihm oder den Mächtigen?« Nora sagte achselzuckend: »Ich denke, das sollte genügen. Er wird vernünftig sein.«
»Ich bin ganz sicher«, sagte Santarin. »Und zwar wird er es auch schon ohne jede Drohung sein. Der Fall wäre damit sehr bald abgeschlossen. Und das muß er auch sein, denn Grant und ich haben eine neue Aufgabe für Sie.«
Nora schluckte. Deshalb also hatte Santarin sie rufen lassen.
»Was, schon wieder ich?«
»Schon wieder Sie, Madame. Sie sind eben unersetzlich. Wir benötigen Sie ständig. Es handelt sich diesmal um einen kroatischen Exilpolitiker. Der Mann ist im Begriff, eine große antisowjetische Kampagne in Deutschland zu starten. Noch lebt er in Wien. Angesichts der bevorstehenden Geheimgespräche unserer Regierung mit der amerikanischen will keine Seite eine solche Störung tolerieren. Wir müssen den Herrn also zum Schweigen bringen – und all sein Beweismaterial in unseren Besitz.«
Nora sagte heftig: »Das soll also ewig so weitergehen!«
Santarin nickte freundlich.
»Das soll nie aufhören?« Noras Stimme erhob sich.
Santarin schüttelte freundlich den Kopf.
»Aber ich habe genug! Ich habe genug, sage ich Ihnen! Ich …«
»Nicht so laut, Madame. Sie sind eine so kluge Person. Sie wissen doch, daß Ihnen gar nichts anderes übrigbleibt, als zu tun, was wir von Ihnen verlangen.« Santarin machte eine schnelle Bewegung. In seiner Hand lag plötzlich jene automatische Pistole der Firma Smith & Wesson, Kaliber 6.35, Baujahr 1940, die Jack Cardiff Nora vor siebenundzwanzig Jahren zu ihrem Schutz gegeben hatte. »Muß ich Ihnen wirklich wieder einmal zeigen, daß wir Ihre Waffe haben? Das wissen Sie doch.«
»Ich habe in Notwehr geschossen«, sagte Nora Hill, aber in ihren Worten klang bereits Resignation. Nie, nein, nie werde ich freikommen, dachte sie. »Dieser Ungar hatte alles über das, was sich in meinem Haus abspielte, herausbekommen und wollte Geld, eine Wahnsinnssumme, dafür! Sie wissen es! Sie waren draußen in der Villa! Sie hörten unseren Streit!«
»Gewiß, Madame. 1962, am einundzwanzigsten November.«
»Sie hörten, daß er versuchte, tätlich zu werden! Sie wissen, daß ich in meiner Angst die Pistole zog …«
»Ich weiß das alles, Madame. Sie zogen die Pistole, er lachte und versuchte, sie Ihnen wegzunehmen, ein Schuß löste sich, der Herr fiel tot um.«
»Notwehr, reine Notwehr, ich sage es doch!«
»Sie sagen es. Aber Sie kamen dennoch zu mir und Grant gelaufen in Ihrer panischen Angst, die Polizei könnte Ihnen nicht glauben. Und Grant und ich verschafften Ihnen ein erstklassiges Alibi und ließen die Tatwaffe verschwinden – daran erinnern Sie sich hoffentlich auch noch, Madame.«
Nora Hill sah zornig und zugleich hilflos zum Fenster. Draußen wurde es immer dunkler. Ein Windstoß traf die Glasscheiben.
»Antworten Sie!«
»Ja! Ja! Ja! Sie haben mir damals geholfen.«
»Sehr geholfen. Wiederholen Sie, bitte.«
»Sehr geholfen.«
»Dank unserer Hilfe hat die Polizei Sie, obwohl zuerst alles gegen Sie sprach, nicht verhaftet. Man konnte Ihnen nichts nachweisen – dank unserer Hilfe. Der Mord blieb unaufgeklärt – bis heute. Und er wird es bleiben, solange wir so hervorragend kooperieren wie bisher. Sollten wir das einmal nicht mehr tun – ich würde es zutiefst bedauern –, dann geht diese Pistole an die österreichische Polizei. Und Grant und ich werden nicht zögern, das Alibi, das wir damals für Sie schufen, zu zerstören. Dann wird man Sie wegen Mordes anklagen können, immer noch. Es ist noch keine zwanzig Jahre her, Madame, bedenken Sie. Ich hasse es, so zu sprechen, aber von Zeit zu Zeit, scheint es, muß ich daran erinnern …« Ein Telefon auf einem anderen Tischchen läutete. »Verzeihen Sie bitte.« Santarin ging durch das Zimmer und hob den Hörer ab.
Nora blickte ihm haßerfüllt nach.
»Santarin!« Der Russe meldete sich. »Aus Paris? Wer will mich … Mercier! Was machen Sie in …« Santarin brach ab. Nora sah ihn an. Sie bemerkte, daß der Russe sich auf die Lippe biß, während er lauschte. Nora beobachtete ihn genau. Sie kannte Santarin gut. Hier war etwas geschehen. Hier war etwas Schlimmes geschehen. Was? Ihr Herz klopfte plötzlich stürmisch. Mercier in Paris?
»Moment …« Santarins Stimme klang stockend. »Ich kann hier nicht sprechen. Ich schalte nur um. Bleiben Sie am Apparat!« Er stöpselte die Telefonschnur aus und ging schnell zu einer Tür, an Nora vorbei. Er lächelte, aber es war ein sehr verzerrtes Lächeln: »Ich bin gleich wieder da, Madame.«
»Aber natürlich«, sagte Nora, tief in Gedanken versunken …
Santarin eilte einen Gang entlang bis zu einer tapetenbespannten Stahltür, die er mit zwei Schlüsseln öffnete. Schnell trat er in den großen, indirekt beleuchteten Raum. Hier befand sich der Kurzwellensender, über den Kontakt zu den Funkwagen gehalten wurde. Zwei junge Männer saßen vor dem Gerät. Einer sprach gerade russisch mit einem Einsatzwagen. Auch hier waren die Möbel antik, die Wände von Seidentapeten bedeckt. Über einem Wandbord, direkt unter einem alten Stich, befand sich eine Telefonsteckdose. Santarin stöpselte den Apparat, den er abstellte, ein und hob den Hörer ans Ohr. Er sprach Französisch.
»Mercier? Da bin ich wieder. Was war das? Wieso rufen Sie diese Nummer? Woher kennen Sie die überhaupt?« Das Gespräch war zu einem Apparat gekommen, der einen Zerhacker besaß.
»Ich kenne sie eben.« Merciers Stimme klang an Santarins Ohr, ganz nah, aber völlig verändert – nicht länger bedrückt, nein, triumphierend. »Ich kenne sie schon eine ganze Weile. Wir besitzen hier in Paris einen Apparat mit gleichem Zerhacker. Es kann niemand mithören. Also, Santarin, um es kurz zu machen: Ich habe den Tresor dieses Anwalts knacken lassen. Heute nacht. Mit der ersten Frühmaschine bin ich nach Paris geflogen. Ich komme nicht zurück. Das gesamte Material, das ich im Tresor fand, ist bereits bei meinen Vorgesetzten. Wir kennen AP Sieben nun auch.«
»Sie lügen«, sagte Santarin heiser.
»Ich lüge nicht. Der Anwalt heißt Rudolf Stein. Kohlmarkt elf. Ich fand nicht nur den Film und das chiffrierte Manuskript von Doktor Aranda, sondern auch den Klartext, den die Staatspolizei entschlüsselt hat. Er ist auf Papier der Trans geschrieben. Ich lese Ihnen ein Stück vor, damit Sie mir glauben …«
Santarin lauschte reglos. Ein Muskel zuckte unter seinem rechten Auge. Nach einer Weile sagte er: »Das genügt. Sie haben es also geschafft, Mercier. Gratuliere.«
»Danke. Sie sind mir doch nicht etwa böse?«
»Böse? Keine Spur! Wie kommen Sie auf eine solche Idee?«
»Dann bin ich beruhigt.« Mercier räusperte sich. »Das heißt … ganz beruhigt nicht. Wenn dieser Anwalt Stein seinen Tresor öffnet – ich habe ihn wieder ordentlich verschließen lassen –, dann wird er natürlich entdecken, daß das Material fehlt. Vielleicht hat er es schon entdeckt. Vielleicht entdeckt er es in einer Stunde. Vielleicht in zwei Stunden. Vielleicht morgen. Was geschieht dann? Stein wird Aranda anrufen. Was wird Aranda tun? Reden, nehme ich an. Laut und vernehmlich. In der Schweizer Botschaft. Auf einer internationalen Pressekonferenz. Ich bin ganz sicher, daß er reden wird, wenn er begreift, daß das Material sich nun auch in unserem Besitz befindet. Und das muß er begreifen, denn Sie und Grant hatten es ja schon. Ein bißchen peinlich, wie?«
»Sie elender …«
»Nicht doch. Jetzt ist nicht die Zeit zu fluchen. Jetzt ist vielmehr die Zeit, zusammenzuhalten, finde ich. Von hier aus kann ich nichts unternehmen, leider. Und es geht wirklich um Minuten jetzt, das sehen Sie doch ein, mein Lieber …« Der Russe drückte die Gabel des Telefons nieder. Die Verbindung war unterbrochen.
»Aranda ist immer noch in der Möven-Apotheke«, erklang eine russische Männerstimme aus dem Lautsprecher des Kurzwellensenders.
»Sie warten weiter, Tolstoi. Bleiben Sie auf Empfang«, antwortete der eine der jungen Männer.
»Verstanden, Lesskow …«
Im Lautsprecher krachte es laut, mehrere Male.
»Was ist das bloß heute?« fragte der zweite junge Mann.
»Schwere atmosphärische Störungen«, sagte sein Kollege.
Santarin stand immer noch reglos. Er sah durch ein Fenster des Raumes in die trostlose Dämmerung hinaus, die sich über die Stadt gesenkt hatte, mitten am Tage. Dann griff er nach dem Hörer, hob ihn auf und wählte schnell.
Fünf Minuten später kehrte der Russe zu Nora Hill zurück. Er entschuldigte sich lächelnd noch einmal für die Unterbrechung.
»Aber das macht doch nichts«, sagte Nora Hill, gleichfalls lächelnd. Santarin setzte sich.
»Also«, sagte er, »um nun auf diesen kroatischen Exilpolitiker zu sprechen zu kommen …«