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»Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß …« Ernst Deutsch – zwei Monate später, am 22. März 1969, sollte er, achtundsiebzigjährig, an Herzschwäche sterben – spielte seine berühmteste und bewegendste Rolle. Als ›Nathan der Weise‹ war er auf der Scheibe des Farbfernsehgerätes zu sehen, das Valerie Steinfeld beim Preisausschreiben einer Zeitung, unmittelbar vor ihrem Tode, gewonnen hatte. Der moderne Apparat stand auf einer alten Truhe des Wohnzimmers. Zurückgelehnt in einem breiten, ausladenden Sofa mit Rückenlehne und Armstützen saßen Irene und Manuel und lauschten den Worten des großen Menschendarstellers.
»… der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug …«
Nachdem Manuel Bianca Barry von Fischamend nach Wien zurückgebracht hatte, war er mit Irene in die Gentzgasse gefahren. Gemeinsam hatten sie ein Abendessen bereitet, den Tisch im Speisezimmer gedeckt, bei Kerzenlicht gegessen.
Von schwerer Krankheit und hohem Alter gezeichnet war Deutschs edles Gesicht, von einer unheimlichen, schon jenseitigen, jeden Betrachter bannenden Atmosphäre umgeben war sein Nathan, der, über alle Technik des Fernsehens siegend, den Geist edelsten Menschentums ausstrahlte und verkündete, ganz besonders nun, in der berühmten Szene des Stückes, in welcher Sultan Saladin den weisen Nathan fragt, welche Religion denn die beste sei – die des Muselmannes, des Juden oder des Christen. Worauf Nathan mit einer Parabel antwortet, mit der Geschichte des Ringes …
»… Was Wunder, daß ihn der Mann im Osten darum nie vom Finger ließ; und die Verfügung traf, auf ewig ihn bei seinem Hause zu erhalten? Nämlich so: Der Vater ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, daß dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebste sei … So kam nun dieser Ring von Sohn zu Sohn auf einen Vater endlich von drei Söhnen, die alle drei ihm gleich gehorsam waren, die alle drei er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte. Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte … würdiger des Ringes, den er denn auch einem jeden die fromme Schwachheit hatte zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging. Allein, es kam zum Sterben, und der gute Vater kömmt in Verlegenheit …« Manuel dachte: Wie wunderschön Irene ist und, ohne es zu wissen, selber zutiefst betroffen von den Worten des großen Dichters. Aber ach, wer hat je auf Nathans Weisheit, die Tausende von Jahren älter ist als er, gehört und nach ihr gehandelt?
Der Weise hatte seine Parabel weitergesponnen: Dem sterbenden Vater der drei Söhne war ein Einfall gekommen. Heimlich ließ er einen Künstler rufen und bestellte bei diesem zwei weitere Ringe, dem echten völlig gleich. Der Künstler vollbrachte ein Meisterwerk.
»… da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden insbesondre. Gibt jedem insbesondre seinen Segen – und seinen Ring – und stirbt. Du hörst doch, Sultan?«
»Ich hör’, ich höre! Komm mit deinem Märchen nur bald zu Ende. Wird’s?«
»Ich bin zu Ende.« Ernst Deutsch hob den Blick. »Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder mit seinem Ring, und jeder will der Fürst des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst: Der rechte Ring war nicht erweislich …« Deutsch machte eine lange Pause, er sah den Sultan an. »… fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube … Die Söhne verklagen sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben …«
Irene fühlte Manuels Blick. Sie dachte: So kurz kennen wir uns erst. Auf uns beiden lasten Schmerz und Ruhelosigkeit, das Geheimnis. Wir sind die Erben dieses Geheimnisses, das Valerie und Manuels Vater verbunden haben muß. Wir werden keinen Frieden finden, ehe wir es kennen. Und dennoch, trotz dieser Situation – noch nie fühlte ich mich einem Mann so sehr verwandt und vertraut wie Manuel. Noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, daheim zu sein in seiner Gegenwart. Bei keinem Mann, den ich kannte. Nicht bei meinen Eltern. Bei Valerie, ja, bei ihr schon – doch anders, völlig anders. Was würde ich tun, wenn dieser Mann, den ich so kurz erst kenne, mich bittet, seine Frau zu werden? Welch ein Wahnsinn, dachte Irene sofort. Ach, aber wenn er mich dennoch fragte …
Nathan erzählte nun von dem Richter, den die drei Söhne anriefen. Zuerst war dieser ungehalten. Aber dann …
»… doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muß entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können! – Nun, wen lieben zwei von euch am meisten? Macht, sagt an! – Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen …«
Manuel dachte: Ich kannte schöne Frauen in Buenos Aires. Natürlich war ich beliebt. Der reiche Junge. Sohn eines großen Unternehmers. Ich hatte Glück bei Frauen. Hauptsächlich deshalb, ich mache mir nichts vor. Wie hießen diese Frauen, wie sahen sie aus? Ich weiß es kaum noch. Ich weiß nur eines: Keine war wie Irene, die Tochter der Mörderin meines Vaters!
Sie, die nie wissen wird, daß ihre Mutter eine Mörderin war. Ihr, ausgerechnet ihr mußte ich begegnen. Wenn ich sie fragte, ob sie mit mir kommen, ob sie mich heiraten möchte – würde sie mit Nein antworten? Ach, mit Nein, gewiß. Das alles ist doch Wahnsinn. Wieso eigentlich? Wahnsinn, weshalb? Darf ich sie fragen? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht … Der Richter, hatte Ernst Deutsch dem Sultan erzählt, wollte die drei Söhne fortschicken, doch dann gab er ihnen noch einen Rat …
»… mein Rat ist aber der: Ihr nehmt die Sache völlig wie sie liegt. Hat von euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring den echten. – Möglich: daß der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollte! Und gewiß, daß er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt …«
Wenn er mich fragte, dachte Irene, wenn er mich doch fragte! Ja, ich würde mit ihm gehen! Alles hier aufgeben. Die Apotheke verkaufen oder verpachten. Mich hält nichts mehr. Oder doch? Die Eltern?
»Wohlan!« ertönte die Stimme Nathans, der vom Rat des Richters erzählte. »Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf’! …«
Ich würde meine Eltern verlassen, dachte Irene, um mit Manuel gehen zu können. Die alte Agnes hat ihren Geistlichen Herrn. Meine Eltern haben einander. Ob er mich fragt?
Ob ich es wagen darf, sie zu fragen? dachte Manuel.
»… und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weis’rer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich und sprechen. – Geht! – So sagte der bescheidne Richter …«
Irene wandte plötzlich den Kopf und sah Manuel an.
»Wunderbar«, sagte sie. »Nicht wahr?«
»Ja«, sagte er atemlos, »ganz wunderbar.«
Danach blickten sie beide schnell nach vorne zu der Mattscheibe, und sie sprachen nicht miteinander, sie sahen sich nur immer wieder von der Seite an. Aber als Lessings ›Dramatisches Gedicht‹ zu Ende war, verriet keiner dem andern einen einzigen seiner Gedanken. Sie waren plötzlich beide sehr verlegen. Manuel verabschiedete sich bald. Irene begleitete ihn hinunter, denn sie mußte das Haustor aufschließen. Es schneite noch immer.
Das Licht im Stiegenhaus erlosch.
Wird er mich küssen? dachte Irene.
Ich möchte sie so gerne küssen, dachte Manuel. Aber ich wage es nicht.
»Gute Nacht, Irene«, sagte er.
»Gute Nacht, Manuel«, antwortete sie.