21
So begann es.
Und es ging weiter, mit Unterbrechungen, in denen sie still lagen und sich ansahen, mit Pausen, in denen sie – nackt – ins Wasser liefen.
Sie saßen ganz dicht nebeneinander, ihr Kopf an seinem, und sie sahen auf des Wasser des Stroms, das in der Sonne glänzte. Sie küßten sich. Von neuem stieg Erregung in ihnen hoch. Sie sanken ins Gras. Und sie waren glückselig, beide.
Dann lagen sie wieder nebeneinander, momentan entspannt, sie rauchten, sie redeten leise …
»Diesen Tag werde ich nicht vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde …«
»Ich auch nicht, Bianca, ich auch nicht …«
»Niemand hätte so wie du …«
»Niemand liebt dich so wie ich …« Er neigte sich über sie. »Es geht alles, wie wir es uns gewünscht haben. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern …«
»Aber die Untersuchungen«, murmelte sie, ermattet, mit geschlossenen Augen. Die Sonne stand nun bereits tief. Ihr Kopf lag in seinem Schoß. »Die waren doch schon. Wir haben die Ergebnisse nur noch nicht.« Heinz sprach glücklich. »Das kann gar nicht mehr lange dauern, und wir werden benachrichtigt. Dann noch eine Gerichtsverhandlung, und ich bin frei! Frei, Bianca … ein Arier wie die anderen … Wieder ins Institut darf ich … Wir werden uns zeigen können, öffentlich, überall … kein Verstecken mehr … Alle Jungen werden mich beneiden …«
Bianca fühlte plötzlich eine Woge der Erregung in sich aufsteigen.
»Und alle Mädchen mich …« Sie wandte den Kopf, um sich noch enger an ihn zu schmiegen. Sein Körper reagierte sofort. Er sagte atemlos: »Bianca … du …«
Halb zehn Uhr abends und schon dunkel war es, als sie sich endlich anzogen. Der Mond schien, die Sterne leuchteten, die Luft war immer noch warm. Er half ihr in die Kleider, sie ihm. Sie küßten und streichelten sich dabei. Langsam gingen sie über den Sand der Insel zu der Stelle, an welcher das Boot lag. Sie hatten die Arme umeinandergelegt. Plötzlich bemerkte Heinz etwas.
»Psst!«
Er legte einen Finger auf den Mund, duckte sich und rannte dann los. Beim Boot, das sah Bianca im Licht des Mondes, kniete ein Mensch, der gerade versuchte, den Kahn ins Wasser zu schieben. Er kam nicht mehr dazu, denn Heinz stürzte sich auf den Überraschten und riß ihn zu Boden. Bianca lief.
Heinz! Heinz! Wenn Heinz etwas geschah …
Heinz geschah nichts. Der Mensch, den er umgerannt hatte, lag auf dem Rücken – ein kleiner, magerer Mann mit ausgemergeltem Gesicht. In den dunklen Augen stand Todesangst. Sein Haar war kurz geschoren, die Wangen waren eingefallen, spitz standen die Knochen hervor. Bleich und unrasiert war das armselige Gesicht, schmutzig waren die grün-grauen Fetzen, die der Mann am Leib trug. Ja, Fetzen waren das nur noch – eine Hose, eine Jacke, ein Hemd ohne Kragen darunter, Stiefel mit Sohlen voller Löcher. Der Mann hatte einen ebenso zerrissenen Mantel und einen schmierigen Brotbeutel in den Kahn gelegt.
Heinz kniete über ihm.
Der Mann sprach verzweifelt, er konnte nur wenige Brocken deutsch: »Nichts tun … bitte … ich gut … Herr … mich lassen … mich lassen, bitte …«
»Heinz! Wer ist das?« Bianca war herangekommen.
»Frau … mir helfen … ich gut … arm … schwach … Mann mir wehtun …« Heinz hatte den Liegenden an einem Arm gepackt. »Ah! Nicht … nicht …« Der Mann rollte auf den Rücken, die Jacke rutschte hoch. Auf seinem Hemd standen mit weißer Ölfarbe die Buchstaben SU. »Ein Kriegsgefangener!« Bianca preßte die Hände an die Brust. »Ein Russe!«
»Ja.« Seine Stimme, eben noch so zärtlich, war nun kalt. »Ausgerissen. Geflohen. Hat sich hier versteckt …«
»O Gott, hier … auf der Insel …«
»Geschlafen …« Der halb verhungerte Mann sprach gegen den Boden, keuchend, undeutlich. Heinz hielt seinen Arm eisern fest.
»Ganzen Tag … in Busch …«
»Lüg nicht, du Schwein!«
Bianca fuhr zusammen. Es war ihr, als hörte sie einen fremden Menschen reden, nicht Heinz.
»Geschlafen … gelaufen in Nacht … immer nur Nacht laufen, verstehen … Tag zu gefährlich …« Der Mann stöhnte auf. »Fuß …«
»Was ist mit dem Fuß?« Heinz sah, daß in dem einen Stiefel ein Brettchen steckte, das mit einem Tuch am Bein festgebunden war.
»Nicht gut … krank … treten auf Stein … fallen …«
»Verstaucht oder geprellt«, sagte Heinz. »Du bist geflohen, stimmt das?«
»Ja … ja … bitte, Herr …«
»Wo?«
»Steyr … großes Lager dort … Fabrik …«
»Wie lange bist du schon unterwegs?«
»Wochen … zwei … Kameraden kaputt … hat Polizei … verstehen? Nur mich nicht …«
Heinz antwortete nicht. Schnell durchsuchte er die Taschen des Liegenden.
»Keine Waffen«, sagte er, nachdem er auch noch in den Brotbeutel gesehen hatte. Er ließ den Russen los. Der rollte herum und richtete sich auf.
Er saß nun. In seinen dunklen Augen glomm ein irres Feuer: Angst, Angst, Angst!
»Wie bist du auf die Insel gekommen?« fragte Heinz. Seine Stimme, dachte Bianca wieder, seine Stimme! Sie ist ganz anders, er ist ganz anders, ein fremder Mensch kniet da vor mir. Heinz. Mein Geliebter. Was ist geschehen?
»Ich schwimmen.«
»Mit dem Fuß? Lüg nicht!«
»Nicht lügen … mit Fuß, ja … mich verstecken, verstehen?«
»Und jetzt, wo es wieder Nacht ist, hast du das Boot nehmen und abhauen wollen!« Heinz neigte sich weit vor. »Aber nicht zu diesem Ufer! Nicht den Weg zurück natürlich. Nein, hinüber zum Nordufer! Und von dort dann weiter, was? Ins Protektorat. Ist ja ganz nahe. Die Tschechen würden dich verstehen … und verstecken …«
»Nein, nein, ich …«
Heinz schlug den Russen ins Gesicht.
»Heinz!« rief Bianca entsetzt.
»Sei ruhig!« zischte er.
»Ich nach Hause … Frau und Kinder … drei Kinder … nicht wissen, ob kaputt … Krieg nix gut …« Mit einer jähen Bewegung erhob sich der Russe. Kniend umklammerte er Biancas Beine. Er sah zu ihr auf, Tränen in dem zerfurchten Gesicht. »Bitte, Frau, bitte, sagen Mann, er mich lassen …«
Bianca versuchte sich freizumachen. Der Russe hielt ihre Beine eisern fest. Er zitterte, sie konnte es spüren.
»So weit ich schon … und jetzt … gute Frau … guter Mann … mich lassen gehen, ja?«
»Ja«, sagte Bianca mit erstickter Stimme.
»Danke … danke … spassiba …« Eine russische Wortflut brach los. Der Kriegsgefangene küßte Biancas Hände. Er kniete immer noch vor ihr, das verletzte Bein häßlich abgewinkelt.
»Loslassen!« Heinz riß die Hände des Russen fort. Der fiel seitlich in den Sand. Er hob die Arme schützend vor das Gesicht. Heinz sprang auf.
»Komm Bianca!«
»Was wird aus ihm?«
»Das wirst du schon sehen …«
Er schob das Boot ins Wasser.
Der Russe begann laut in seiner Muttersprache zu reden, mit gefalteten Händen.
»Steig ein!« schrie Heinz Bianca an.
»Aber der Mann …«
»Der bleibt hier!«
»Wie kommt er von der Insel fort?«
»Überhaupt nicht!«
»Was?«
»Los, los, komm schon!« Heinz zerrte Bianca ins Boot. Danach stieß er mit einem Fluch den Russen zurück, der sich ihm auf den Knien genähert hatte. Der Russe fiel kraftlos wieder um. »Du siehst ja, der hat überhaupt keine Kraft mehr. Zu diesem Ufer zurückschwimmen, das wird er auch nicht mehr können. Und wenn doch, dann kommt er nicht weit. Ohne Boot über den Strom kommt der nie!«
»Herr … Herr … bitte …«
Heinz schob den Kahn so heftig an, daß Bianca auf den Sitz im Heck fiel. Er sprang nach und begann sogleich zu rudern. Der kleine Russe stand am Rand der Insel, seine Arme hingen herab, sein Kopf war gesenkt, Bianca hörte ihn schluchzen.
»Wir haben seinen Mantel … und seinen Brotbeutel …«, rief Bianca. »Natürlich. Das muß so sein. Den nehmen wir mit!«
»Mit wohin?«
»Zur Gendarmerie.« Heinz ruderte verbissen. Seine Stimme klang abgehackt. »Schau mich nicht so an, Bianca! Ich tue nur meine Pflicht!«
Die Ruder tauchten tief ins Wasser. Bianca blickte zurück. Auf der Insel stand noch immer der Russe. Mit einer Bewegung der absoluten Hoffnungslosigkeit ließ er sich nun langsam sinken, fiel, in Zeitlupe sozusagen, blieb liegen auf dem weißen Sand, ein hilfloses, ausgeliefertes, elendes Bündel Mensch.